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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 3
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30. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
1B_52/2021 vom 24. März 2021
 
 
Regeste
 
Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 10 Abs. 2 lit. a und Art. 14 Abs. 2 UNO-Pakt II, Art. 10 Abs. 1 und Art. 234 StPO; Vollzug strafprozessualer Haft (Untersuchungs- und Sicherheitshaft) in einer Strafvollzugsanstalt.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 147 IV 259 (260)A. Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führt gegen A. eine Strafuntersuchung wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Drohung, mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie weiterer Delikte. Ausgangspunkt für die Strafuntersuchung bildete ein Vorfall vom 28. Juni 2017, der sich im Rahmen des Vollzugs des Freiheitsentzugs aufgrund eines früher gefällten Strafurteils ergeben hatte. Bis am 27. September 2017 befand sich A. im entsprechenden Strafvollzug. Auf den 28. September 2017 wurde er aufgrund der neuen Vorwürfe vorläufig festgenommen. Das Bezirksgericht Zürich verfügte am 29. September 2017 wegen Wiederholungsgefahr die Anordnung von Untersuchungshaft. Nachdem das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich (früher: Amt für Justizvollzug) den Vollzug der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies (nachfolgend: JVA Pöschwies) genehmigt hatte, wurde A. am 17. August 2018 dorthin verlegt und in die dortige Sicherheitsabteilung eingewiesen.
Am 4. Oktober 2018 stellte A. ein Gesuch um Verlegung aus der Sicherheitsabteilung der JVA Pöschwies in ein Untersuchungsgefängnis. Mit Verfügung vom 29. Oktober 2018 wies der damalige Leiter des Amtes für Justizvollzug und Wiedereingliederung das Gesuch ab. Am 17. November 2018 ordnete die JVA Pöschwies seinen weiteren Verbleib in der Sicherheitsabteilung an.
Gegen beide Verfügungen erhob A. am 29. November 2018 Rekurs bei der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich. Er beantragte die Aufhebung der angefochtenen Verfügungen, seine Verlegung in ein geeignetes Untersuchungsgefängnis und eventuell BGE 147 IV 259 (260) BGE 147 IV 259 (261) die anstaltsinterne Verlegung innerhalb der JVA Pöschwies. Mit Entscheid vom 4. April 2019 wies die Direktion die Rekurse ab.
Am 25. April 2019 ordnete das Bezirksgericht Dielsdorf als Zwangsmassnahmengericht für A. Sicherheitshaft an.
B. Gegen den Direktionsentscheid vom 4. April 2019 reichte A. am 8. Mai 2019 Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Zürich ein. (...) Am 6. November 2019 sprach das Bezirksgericht Dielsdorf A. der versuchten schweren Körperverletzung, der mehrfachen einfachen Körperverletzung sowie weiterer Straftaten schuldig, bestrafte ihn mit einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten und ordnete unter Aufschub des Vollzugs der Freiheitsstrafe eine stationäre therapeutische Massnahme an. Dagegen erhoben die Staatsanwaltschaft sowie A. Berufung. (...) Mit Präsidialverfügung vom 22. April 2020 verfügte die I. Strafkammer des Obergerichts die Fortdauer der Sicherheitshaft bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens. (...)
Am 19. November 2020 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde von A. ab. (...)
C. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 3. Februar 2021 an das Bundesgericht beantragt A., das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und den Kanton Zürich anzuweisen, ihn unverzüglich in ein Untersuchungsgefängnis im Kanton Zürich zu verlegen. (...) Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend, die Unterbringung in einer Strafvollzugsanstalt verstosse gegen die Strafprozessordnung und die Unschuldsvermutung gemäss der Bundesverfassung sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Der Kanton Zürich, handelnd durch das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung, schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Verwaltungsgericht stellt den Antrag, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
 
 
Erwägung 2
 
2.1 Streitgegenstand des vorliegenden Falles bildet die Rechtsfrage, ob der Beschwerdeführer von der JVA Pöschwies in eine andere Haftanstalt, insbesondere in ein Untersuchungsgefängnis, zu verlegen ist. Nach § 10 Abs. 1 der Justizvollzugsverordnung des BGE 147 IV 259 (261) BGE 147 IV 259 (262) Kantons Zürich vom 6. Dezember 2006 (JVV; LS 331.1) werden in der JVA Pöschwies Freiheitsstrafen und Verwahrungen sowie stationäre Massnahmen nach Art. 59 Abs. 3 StGB im geschlossenen Haftregime an Männern vollzogen. Gemäss § 10 Abs. 3 JVV kann das Amt in besonderen Fällen die Durchführung des Vollzugs von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sowie von kürzeren Freiheitsstrafen bewilligen. Nach § 11 Abs. 1 JVV umfasst die Hauptabteilung Untersuchungsgefängnisse Zürich die vom Amt bezeichneten Gefängnisse, in denen hauptsächlich Untersuchungs-, Sicherheits- und Auslieferungshaft vollzogen wird. In diese Gefängnisse werden gemäss § 11 Abs. 2 lit. a JVV namentlich Untersuchungs- und Sicherheitsgefangene aufgenommen. Der Vollzug strafprozessualer Sicherheitshaft soll demnach gemäss dem kantonalen Recht in der Regel in einem Untersuchungsgefängnis und nur ausnahmsweise in der JVA Pöschwies stattfinden. Nach § 51 Abs. 1 JVV entscheidet die zuständige Behörde, in welchem Gefängnis bzw. in welcher Anstalt der Vollzug erfolgt. Ein Mitspracherecht der inhaftierten Person ist nicht vorgesehen. Sie kann jedoch um Verlegung ersuchen und einen allfälligen abschlägigen Entscheid mit den dafür gemäss der Prozessordnung offenstehenden Rechtsmitteln von Verfassungs wegen anfechten (vgl. insbesondere Art. 29a BV), wie das hier geschehen ist. Der Beschwerdeführer bezieht sich in seiner Beschwerdeschrift zwar auf die zürcherische Justizvollzugsverordnung. Er behauptet aber nicht, diese werde in seinem Fall willkürlich angewandt, und legt dies erst recht nicht ausreichend dar. Darauf ist demnach nicht einzugehen (vgl. nicht publ. E. 1.5).
Art. 234 StPO lautet wie folgt:
    "1 Untersuchungs- und Sicherheitshaft werden in der Regel in Haftanstalten vollzogen, die diesem Zwecke vorbehalten sind und die daneben nur dem Vollzug kurzer Freiheitsstrafen dienen. BGE 147 IV 259 (262)
    BGE 147 IV 259 (263)2 Ist es aus medizinischen Gründen angezeigt, so kann die zuständige kantonale Behörde die inhaftierte Person in ein Spital oder eine psychiatrische Klinik einweisen."
Gemäss Art. 10 Abs. 1 StPO gilt in Umsetzung der entsprechenden menschen- und grundrechtlichen Garantien von Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 14 Abs. 2 UNO-Pakt II sowie Art. 32 Abs. 1 BV jede Person bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Nach Art. 10 Abs. 2 lit. a UNO-Pakt II sind Beschuldigte, abgesehen von aussergewöhnlichen Umständen, von Verurteilten getrennt unterzubringen und so zu behandeln, wie es ihrer Stellung als Nichtverurteilte entspricht. Gemäss den genannten Empfehlungen des Ministerkomitees ist insbesondere sicherzustellen, dass die Haftbedingungen von Untersuchungsgefangenen den Vollzugsregeln ihrer auf der Unschuldsvermutung beruhenden Rechtsstellung entsprechen und dass die Ausgestaltung von Untersuchungshaft verhältnismässig erfolgt (vgl. lit. d der Präambel sowie Ziff. 5 der Allgemeinen Grundsätze des Anhangs zur Empfehlung Rec(2006)13). Es ist nicht strittig, dass diese Rechtsregeln gleichermassen auch für Sicherheitshaft gelten. Zwar stellen die Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates lediglich Richtlinien an dessen Mitgliedstaaten dar. Das Bundesgericht berücksichtigt sie aber seit langem als Konkretisierung der persönlichen Freiheit und weiterer einschlägiger Garantien der Bundesverfassung sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention ( BGE 140 I 125 E. 3.2 mit Hinweisen).
2.4 Art. 234 Abs. 1 StPO sieht den Vollzug strafprozessualer Haft in besonderen, vom Strafvollzug getrennten Anstalten nur in der Regel vor. Nach Art. 10 Abs. 2 lit. a UNO-Pakt II kann unter aussergewöhnlichen Umständen vom Trennungsgebot abgewichen werden. Die Tragweite dieser Bestimmungen bzw. die Zulässigkeit von Ausnahmen ist umstritten. In der schweizerischen Literatur wird insbesondere über einen möglichen Vollzug in Anstalten diskutiert, in denen ebenfalls kurze Freiheitsstrafen vollzogen werden (vgl. HÄRRI, a.a.O., N. 6 zu Art. 234 StPO; PATRICK ROBERT-NICOUD, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 5 ff. zu Art. 234 StPO; SCHMID/JOSITSCH, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO], Praxiskommentar, 3. Aufl. 2018, N. 1 zu Art. 234 StPO; VIREDAZ, a.a.O., N. 3 ff. zu Art. 234 StPO). Das trägt zwar dem Wortlaut von Art. 234 Abs. 1 StPO Rechnung, wirft aber besondere Fragen auf, weil bei kurzen Freiheitsstrafen grundsätzlich deutlich liberalere Haftregimes zur Anwendung gelangen als bei strafprozessualem Freiheitsentzug. Teilweise wird sogar der Standpunkt vertreten, der Vollzug von Untersuchungs- und Sicherheitshaft in einer besonderen Abteilung einer Strafanstalt sei überhaupt verfassungswidrig, da sich dies mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbaren lasse; die Einweisung in eine solche Anstalt sei mit dem Stigma eines Straftäters verbunden, was vor der entsprechenden rechtskräftigen Verurteilung verfassungsrechtlich nicht zugelassen werden dürfe (HÄRRI, a.a.O., N. 7 zu Art. 234 StPO).
 
Erwägung 3
 
3.5 Gemäss den aktenkundigen psychiatrischen Gutachten leidet der Beschwerdeführer unter einer psychischen Störung und ist therapiebedürftig. Aufgrund dessen sowie des regelmässig dokumentierten aggressiven Verhaltens des Beschwerdeführers ist mit dem Verwaltungsgericht davon auszugehen, dass es in der JVA Pöschwies während der Sicherheitshaft zu keiner Verhaltensänderung kommen und der Beschwerdeführer mit grosser Wahrscheinlichkeit weiterhin ein erhebliches Gewaltpotenzial offenbaren und für das Vollzugspersonal eine Gefährdung darstellen dürfte. Die Unterbringung in der JVA Pöschwies in der besonderen, auf den Beschwerdeführer zugeschnittenen Sicherheitsabteilung trägt dabei der Gefahrenlage bzw. dem Sicherheitsbedürfnis Rechnung und steht im Einklang mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr. In den dem verwaltungsgerichtlichen Urteil vorangegangenen 17 Monaten wurden 30 Vorfälle mit teilweise erheblichen Gewaltübergriffen rapportiert, wovon 27 Vorkommnisse aufgrund von Meldungen der JVA Pöschwies bzw. von deren Mitarbeitenden. Der Beschwerdeführer wurde deswegen mit 320 Arresttagen diszipliniert. Die zwischenzeitliche Unterbringung in der JVA Lenzburg im Sommer 2019 brachte lediglich eine BGE 147 IV 259 (266) BGE 147 IV 259 (267) kurzzeitige Entspannung und musste wieder abgebrochen werden, nachdem der Beschwerdeführer erneut gewalttätig geworden war. Vor seinem Wiedereintritt in die JVA Pöschwies bereitete sich diese aufgrund der besonderen Ausgangslage baulich, personell und konzeptionell darauf vor. Insbesondere wurden vier Zellen baulich verstärkt, ein eigener Spazierhof mit direktem Hofzugang eingerichtet und das Personal speziell geschult.
BGE 147 IV 259 (268)Entscheid verstösst demnach nicht gegen Bundesrecht. Damit wird freilich nichts ausgesagt zu allfälligem Fehlverhalten auf Seiten des Gefängnispersonals, die der Beschwerdeführer noch vor dem Verwaltungsgericht, nicht jedoch im vorliegenden bundesgerichtlichen Verfahren angerufen hat sowie in anderen Verfahren geltend macht und worüber dort zu befinden ist. Es kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass solche eventuellen Vorkommnisse zum ordentlichen Haftregime des Beschwerdeführers gehören, zumal sich seine Vorwürfe, soweit ersichtlich, hauptsächlich auf Ereignisse in einem anderen Gefängnis beziehen. Es ist aber auch festzuhalten, dass der Beschwerdeführer sehr restriktiven Haftbedingungen untersteht. Der Kanton Zürich liess bisher immerhin erkennen, dass er bereit ist, für den individuellen Fall einen grossen personal- und kostenintensiven Aufwand zu leisten. Dennoch könnte sich bei unverändertem Regime die Frage eines menschenwürdigen Haftvollzugs auf die Dauer stellen. Zurzeit lassen sich der Vollzug in der JVA Pöschwies und die damit verbundenen Haftbedingungen aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles bzw. wegen des vom Beschwerdeführer ausgehenden Risikopotenzials noch rechtfertigen. Sollte es bei einem längeren Freiheitsentzug bleiben, müssten die Behörden aber alle möglichen Anstrengungen für angepasste und grundsätzlich zunehmend zu lockernde Haftbedingungen unternehmen. Als Massstab hätte dabei zu gelten, was auf Dauer vertretbar und für alle Beteiligten zumutbar erscheint, ohne dass die Würde des Beschwerdeführers in nicht mehr zu legitimierender Weise beeinträchtigt würde. Das Bundesgericht ist sich bewusst, dass dies im vorliegenden Fall besondere Anforderungen stellt. Der Rechtsstaat darf sich dieser Herausforderung und Verantwortung jedoch weiterhin nicht entziehen.BGE 147 IV 259 (268)