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Zitiert durch:
BGE 123 I 221 - Schällenmätteli
BGE 115 Ia 234 - St. Galler Forpflanzungsbeschluss


Zitiert selbst:
BGE 97 I 45 - Malen im Gefängnis
BGE 102 Ia 279 - Minelli II
BGE 99 Ia 262 - Minelli I


Regeste
Sachverhalt
Auszug aus den Erwägungen:
Erwägung 1
1.- a) Die Garantie der persönlichen Freiheit gewährlei ...
Erwägung 2
2.- a) Untersuchungshaft darf nur verhängt werden, wenn der  ...
Erwägung 3
3.- Die Beschwerdeführerin stand in der Untersuchungshaft me ...
Erwägung 4
4.- a) Die europäischen Mindestgrundsätze für die  ...
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher
 
43. Urteil
 
vom 17. August 1976
 
i.S. Krause gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
 
 
Regeste
 
Die Garantie der persönlichen Freiheit gibt den Gefangenen Anspruch auf eine einwandfreie ärztliche Betreuung. Die Gefangenen müssen von einem anderen Arzt als dem Gefängnisarzt untersucht oder behandelt werden, wenn das Vertrauensverhältnis zum Gefängnisarzt gestört ist oder wenn medizinisch eine spezialärztliche Betreuung angezeigt ist. Die Garantie der persönlichen Freiheit gibt den Gefangenen jedoch keinen generellen Anspruch auf Beizug eines Arztes ihrer Wahl (E. 2).
 
 
BGE 102 Ia 302 (303)Sachverhalt
 
A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen die deutsch-italienische Staatsangehörige Petra Krause eine Strafuntersuchung wegen Gefährdung durch Sprengstoffe in verbrecherischer Absicht (Art. 224 Abs. 1 StGB), wegen Zuwiderhandlung gegen die Kriegsmaterialgesetzgebung und wegen anderer Delikte. Die Angeschuldigte befindet sich seit dem 20. März 1975 in Untersuchungshaft, zurzeit im Bezirksgefängnis Zürich.
Am 13. April 1976 ersuchte Frau Krause die Bezirksanwaltschaft Zürich um die Erlaubnis, in der Anstalt von einem Arzt ihres Vertrauens untersucht zu werden. Dieses Gesuch und eine an die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gerichtete Beschwerde blieben ohne Erfolg.
Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde von Frau Krause im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
 
Erwägungen:
 
Erwägung 1
 
1.- a) Die Garantie der persönlichen Freiheit gewährleistet als ungeschriebenes Grundrecht der Bundesverfassung die Bewegungsfreiheit und die körperliche Integrität des Menschen. Sie schützt darüber hinaus alle elementaren Erscheinungen menschlicher Persönlichkeit, die nicht durch andere Grundrechte der Bundesverfassung gewährleistet sind. DieBGE 102 Ia 302 (303) BGE 102 Ia 302 (304)Garantie der persönlichen Freiheit schliesst Beschränkungen der geschützten Fähigkeiten und Tätigkeiten nicht aus. Solche sind jedoch nur zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und dem Gebot der Verhältnismässigkeit entsprechen. Zudem darf die persönliche Freiheit weder völlig unterdrückt noch ihres Gehalts als fundamentale Institution der Rechtsordnung entleert werden (BGE 97 I 49 E. 3; vgl. 101 Ia 345 E. 7a mit Hinweisen). Freiheitsbeschränkungen, die einem Untersuchungsgefangenen auferlegt werden, sind mit dieser Gewährleistung demnach nicht vereinbar, wenn sie dem Gebot eines menschenwürdigen, von schikanösen und sachlich nicht begründeten Eingriffen freien Vollzugs widersprechen (dazu im einzelnen: BGE 99 Ia 266 ff. E. II und III; 97 I 842 E. 4-6).
    "Für Gefangene, die ärztlicher Untersuchung oder Behandlung bedürfen, zieht die Gefängnisverwaltung den Gefängnisarzt bei. Der Gefangene hat sich den ärztlichen Anordnungen zu unterziehen." § 12 BezGV bestimmt:
    "Die Justizdirektion bezeichnet für jedes Bezirksgefängnis den Arzt, den Psychiater oder deren Stellvertreter. In Notfällen kann die Gefängnisverwaltung einen anderen Arzt beiziehen. Das Honorar richtet sich nach der Taxordnung der vom Bunde anerkannten Krankenkassen."
Die §§ 12 und 45 Abs. 1 BezGV sehen nicht vor, dass die Gefangenen sich in der Untersuchungshaft von einem Arzt ihrer Wahl medizinisch betreuen lassen dürfen. Diese Aufgabe ist ausdrücklich dem Gefängnisarzt übertragen. Auch § 12 Abs. 2 Satz 2 gibt der Beschwerdeführerin keinen Anspruch auf Beizug eines Arztes freier Wahl; es liegt kein "Notfall" im Sinne der Bestimmung vor. Der Beschwerdeführerin darf das Recht, sich von einem Arzt ihrer Wahl untersuchen und behandeln zu lassen, aber gleichwohl nicht verweigert werden, wenn sich ein solcher Anspruch aus dem Grundrecht der persönlichen Freiheit ergibt.
 
Erwägung 2
 
2.- a) Untersuchungshaft darf nur verhängt werden, wenn der dringende Verdacht besteht, der Angeschuldigte habe eine strafbare Handlung begangen und wenn Flucht- oder Kollusionsgefahr vorhanden ist. Sachlich begründet sind vorab solche Freiheitsbeschränkungen, die unmittelbar erforderlichBGE 102 Ia 302 (304) BGE 102 Ia 302 (305)sind, um die Flucht des Angeschuldigten oder die Verdunkelung der ihm zur Last gelegten Straftaten zu verhindern. Die Untersuchungsgefangenen haben darüber hinaus aber auch solche Freiheitsbeschränkungen hinzunehmen, welche die Strafuntersuchung zwar nicht direkt erfordert, die sich beim Vollzug der Haft im Interesse einer vernünftigen Ordnung und Organisation der Anstalt jedoch unvermeidlich ergeben.
Den Gefangenen könnte ungeachtet dieser Unannehmlichkeiten für den Betrieb der Anstalt nicht verwehrt werden, sich von einem Arzt ihrer Wahl untersuchen und behandeln zu lassen, wenn ohne diese Möglichkeit keine Gewähr für eine einwandfreie ärztliche Betreuung bestände. Ein solcher Anspruch der Gefangenen ergibt sich unmittelbar aus der Garantie der persönlichen Freiheit. Stellt man allein auf den Wortlaut der §§ 12 und 45 Abs. 1 BezGV ab, so genügt die Verordnung diesen Anforderungen nicht. Es wäre mit der Verfassung nicht vereinbar, wenn die medizinische Betreuung der Gefangenen ausschliesslich in der Hand des Gefängnisarztes läge, mit der einzigen Ausnahme, dass die Gefängnisverwaltung "in Notfällen" einen anderen Arzt beiziehen kann. Die Gefangenen müssen von einem anderen Arzt als dem Gefängnisarzt untersucht oder behandelt werden, wenn das Vertrauensverhältnis zum Gefängnisarzt gestört ist oder wenn medizinisch eine spezialärztliche Behandlung angezeigt ist. Diese Aufgabe kann je nach den Umständen dem Stellvertreter des Gefängnisarztes oder einem anderen, von den Behörden bestimmten Arzt übertragen werden. Die Untersuchung oder Behandlung hat je nach den Umständen in der Anstalt oder in einem Krankenhaus zu erfolgen. Das Vertrauensverhältnis zwischen einem Gefangenen und dem Gefängnisarzt ist als gestört anzusehen, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass persönliche Gründe eine einwandfreie Betreuung des Gefangenen verunmöglichen oder erheblich erschweren. Die blosse Erklärung eines Gefangenen genügt nicht; es ist aber auch nicht erforderlich, dass der Gefangene gegen den Gefängnisarzt eine förmliche Beschwerde erhoben hat. Ist medizinisch eine spezialärztliche Untersuchung oder Behandlung geboten, so hat der Gefängnisarzt sie anzuordnen. Er ist dazu auch schon im Zweifelsfall verpflichtet. Hält der Gefängnisarzt, der meist ein Allgemeinpraktiker ist, die Voraussetzungen für eine solche Vorkehr für nicht erfüllt, so muss er einen zweiten Arzt zur Frage konsultieren, wenn der Untersuchungsgefangene dies wünscht. Diese Massnahmen der ärztlichen Betreuung sind anzuordnen, unabhängig davon, ob die Gefangenen für die daraus entstehenden Kosten aufkommen können, und ohneBGE 102 Ia 302 (306) BGE 102 Ia 302 (307)Rücksicht darauf, ob ein Gefangener ärztlicher Behandlung wegen seines eigenen gesundheitschädigenden Verhaltens bedarf. Für die ärztliche Betreuung ist schliesslich auch der Charakter der Straftaten, die dem Gefangenen vorgeworfen werden, nicht massgeblich.
 
Erwägung 3
 
Die künftige medizinische Betreuung von Frau Krause hat sich nach diesem spezialärztlichen Bericht und den darin enthaltenen Auflagen zu richten. Die Beschwerdeführerin geniesst bei dieser Sachlage eine einwandfreie ärztliche Fürsorge. Es steht daher mit der Verfassung nicht in Widerspruch, wenn ihr nicht gestattet wird, sich in der Anstalt von einem Arzt ihrer Wahl untersuchen und behandeln zu lassen.
 
Erwägung 4
 
Die Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen (vgl. BGE 102 Ia 284 E. 2c) enthalten keine völkerrechtlich bindende Grundsätze. Ihre Nichtbeachtung kann daher auch nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde gerügt werden. Da sie - wie die Europäische Menschenrechtskonvention - ihre Grundlage in der gemeinsamen Rechtsüberzeugung der Mitgliedstaaten des Europarates finden, sind sie bei der Konkretisierung der Grundrechtsgewährleistungen der Bundesverfassung gleichwohl zu berücksichtigen. Wo den Mindestgrundsätzen der Charakter eigentlicher Grundrechtsverbürgungen zukommt, stellt sich das Bundesgericht zu ihnen nicht leichthin in Gegensatz.
Im vorliegenden Fall ist eine vom Mindestgrundsatz Nr. 91 abweichende Rechtsprechung deshalb begründet, weil von Verfassungs wegen für alle Gefangenen eine einwandfreie medizinische Betreuung gewährleistet sein muss. Es verstösst gegen das Rechtsempfinden, darüber hinaus ausschliesslich solchen Gefangenen noch weitere Möglichkeiten ärztlicher Betreuung einzuräumen, die in der Lage sind, die dabei entstehenden Kosten zu übernehmen. Weil bereits die anstaltseigene ärztliche Versorgung Gewähr für eine einwandfreie medizinische Betreuung der Gefangenen bieten muss, ist auch die Belastung des Anstaltsbetriebs ein hinreichender Grund, den Beizug von anstaltsfremden, von den Gefangenen frei gewählten Ärzten auszuschliessen.BGE 102 Ia 302 (308)