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Zitiert durch:
BGE 125 II 521 - Thurgauer Ausweisung


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Auszug aus den Erwägungen:
Erwägung 1
1.- a) Gemäss Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG ist auf dem Gebiete ...
Erwägung 2
2.- a) Die Halbschwester des Beschwerdeführers hat vor Jahre ...
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher
 
37. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
 
vom 30. September 1994
 
i.S. B. gegen Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
 
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
 
Regeste
 
Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG und Art. 8 Ziff. 1 EMRK; Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Verweigerung der Zustimmung zu einer Aufenthaltsbewilligung an einen Ausländer.
 
Halbgeschwister können sich im Hinblick auf einen Familiennachzug in die Schweiz unter Umständen auf Art. 8 EMRK berufen. Namentlich kann dies zutreffen, wenn ein Erwachsener mit Anwesenheitsrecht in der Schweiz die Betreuung eines von ihm abhängigen Geschwisterteils übernimmt (E. 1c-d).
 
Kriterien für die Bemessung der Abhängigkeit eines Jugendlichen von seiner Halbschwester; Festlegung des massgeblichen Zeitpunkts (E. 1e-f).
 
Anwendung dieser Kriterien auf den zu beurteilenden Fall (E. 2).
 
 
BGE 120 Ib 257 (258)Sachverhalt
 
A.- Die 1959 geborene, ursprünglich philippinische Staatsangehörige L. erwarb durch Heirat mit einem Schweizer Bürger die schweizerische Staatsangehörigkeit. Sie lebt sei 1981 in der Schweiz. 1987 hat sie sich von ihrem Ehemann getrennt. Im Dezember 1991 brachte sie einen Sohn schweizerischer Nationalität zur Welt, welchen sie allein betreut.
Am 2. September 1991 stellte L. ein Gesuch um Niederlassungsbewilligung für ihren 1975 geborenen Halbbruder philippinischer Staatsangehörigkeit, B. Sie machte geltend, ihre gemeinsame Mutter, bei welcher B. auf den Philippinen gelebt habe, sei am 17. März 1990 gestorben. Seither sei er auf sich allein gestellt gewesen, bis er am 21. Juli 1991 mit einem Besuchervisum zu ihr in die Schweiz gekommen sei. Ausser ihr habe er keine weiteren Verwandten, welche für seine Erziehung und Ausbildung sorgen könnten. Sie selbst sei dazu bereit. Das Gesuch wurde am 6. November 1991 von der Fremdenpolizei des Kantons Bern und auf Beschwerde hin am 13. Mai 1992 von der Polizeidirektion des Kantons Bern abgewiesen.
Mit Urteil vom 21. Dezember 1992 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern eine dagegen gerichtete Beschwerde gestützt auf Art. 8 der Europäischen Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK; SR 0.101) gut und wies die Fremdenpolizei an, B. eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Gleichzeitig wies es das Bundesamt für Ausländerfragen an, der Bewilligung in Anwendung von Art. 18 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) zuzustimmen.
Mit Verfügung vom 25. Februar 1993 verweigerte das Bundesamt seine Zustimmung zur Aufenthaltsbewilligung und setzte B. eine Frist zum Verlassen der Schweiz. Eine Beschwerde an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement blieb erfolglos.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 7. September 1993 an das Bundesgericht stellt B. folgende Anträge:
    "1. Der angefochtene Entscheid sei aufzuheben.
    2. Die Zustimmung zu der dem Beschwerdeführer vom Kanton Bern erteilten Aufenthaltsbewilligung sei zu erteilen.BGE 120 Ib 257 (258)
    BGE 120 Ib 257 (259) eventualiter:
    Das Bundesamt für Ausländerfragen sei anzuweisen, die Zustimmung zu der vom Kanton Bern erteilten Aufenthaltsbewilligung zu erteilen."
In seiner Vernehmlassung vom 22. September 1993 schliesst das Departement auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Mit Verfügung vom 4. Oktober 1993 gestattete der Präsident der II. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts B. die Anwesenheit in der Schweiz für die Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1
 
c) Hingegen leitet der Beschwerdeführer ein Anwesenheitsrecht aus Art. 8 Ziff. 1 EMRK her. Diese Bestimmung garantiert den Schutz desBGE 120 Ib 257 (259) BGE 120 Ib 257 (260)Familienlebens. Darauf kann sich der Ausländer berufen, der nahe Verwandte mit einem gefestigten Anwesenheitsrecht (Schweizer Bürgerrecht oder Niederlassungsbewilligung) in der Schweiz hat; wird ihm selber die Anwesenheit in der Schweiz untersagt, kann dies Art. 8 EMRK verletzen. Soweit deshalb eine familiäre Beziehung im beschriebenen Sinn tatsächlich gelebt wird und intakt ist, wird das der zuständigen Behörde durch Art. 4 ANAG grundsätzlich eingeräumte freie Ermessen eingeschränkt. In solchen Fällen ist daher die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des um die fremdenpolizeiliche Bewilligung ersuchenden Ausländers zulässig. Nicht wesentlich ist, ob eine Erneuerung oder die erstmalige Erteilung der Anwesenheitsbewilligung in Frage steht (BGE 119 Ib 81 E. 1c, 91 E. 1c; 118 Ib 153 E. 1c; 116 Ib 353 E. 1b; 109 Ib 183).
Ein möglicher Gesichtspunkt für die Unversehrtheit einer Beziehung ist, ob die nahen Familienangehörigen vor der Einreise in die Schweiz in Hausgemeinschaft gelebt haben. Ein zwingendes Erfordernis kann dies allerdings nicht sein, wäre doch sonst der Nachzug eines im Ausland verbliebenen Angehörigen von vornherein ausgeschlossen. Entscheidend sind somit nicht nur die früheren familiären Verhältnisse, sondern auch die durch neue Umstände bedingten und sich künftig abzeichnenden Beziehungen. Dies ist - nicht anders als bei der Anwendung von Art. 17 Abs. 2 ANAG (vgl. dazu BGE 118 Ib 153 E. 2b) - insbesondere der Fall, wenn sich, zum Beispiel wegen des Todes der Eltern oder bei neu aufgekommenen Pflegebedürfnissen, die familiären Abhängigkeiten ändern.
Das heisst nun aber nicht, dass in diesen Fällen immer ein Anspruch auf fremdenpolizeiliche Bewilligungen für die jeweiligen Angehörigen besteht. Das Bundesgericht hat als familiäre Beziehung, welche gestützt auf Art. 8 EMRK einen solchen Anspruch verschaffen könnte, vor allem die Beziehung zwischen Ehegatten sowie zwischen Eltern und minderjährigen Kindern anerkannt, welche im gemeinsamen Haushalt leben. Geht es um Personen, die nicht der eigentlichen Kernfamilie zuzurechnen sind, setzt eine schützenswerte familiäre Beziehung - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung der Strassburger Organe (BREITENMOSER, S. 110; BRÖTEL, S. 51; MOCK, S. 100; PALM-RISSE, S. 209 f.; WILDHABER, Rz. 389) - voraus, dass der um die fremdenpolizeiliche Bewilligung ersuchende Ausländer vom hier Anwesenheitsberechtigten abhängig ist (BGE 115 Ib 1 E. 2). Unter dieser Voraussetzung muss gegebenenfalls auch die Beziehung zwischen Halbgeschwistern als von Art. 8 EMRK geschützt gelten. Dies kann namentlich zutreffen, wenn ein Erwachsener anstelle der Eltern für einen unselbständigen Geschwisterteil die Betreuung und Fürsorge und damit eigentlich die Elternrolle übernimmt.
Das Bundesgericht hatte bereits einmal über die Abhängigkeit einer Frau von ihren Eltern zu entscheiden, welche das 18. Lebensjahr überschritten hatteBGE 120 Ib 257 (261) BGE 120 Ib 257 (262)und sich daher für die Nachreise zu ihren Eltern nicht mehr auf Art. 17 Abs. 2 ANAG stützen konnte. Das Bundesgericht hielt fest, sie sei in genügendem Masse selbständig und nicht mehr von ihren Eltern abhängig, weshalb sie sich auch nicht auf Art. 8 EMRK berufen könne (unveröffentlichtes Urteil vom 31. Mai 1991 in Sachen O.). Zwar war die Ausländerin in jenem Fall nach dem Recht ihres Heimatlandes bereits volljährig geworden. Unabhängig davon ging das Bundesgericht aber davon aus, der Gesetzgeber habe mit der Festlegung der Altersgrenze auf 18 Jahre in Art. 17 Abs. 2 ANAG diese Limite im allgemeinen als Übergang zur Unabhängigkeit angesehen. Im fremdenpolizeilichen Zusammenhang bilde somit nicht das gesetzliche Mündigkeitsalter, sondern grundsätzlich die Altersgrenze von 18 Jahren eine Richtschnur für die Selbständigkeit eines Jugendlichen mit Ausnahme der Fälle, in denen auch noch in diesem fortgeschrittenen Alter ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis vorliege, der Jugendliche also in einem über das Übliche hinausgehenden Mass von seinen hier anwesenden Angehörigen abhängig sei. In die gleiche Richtung weist im übrigen die gesetzgeberische Tendenz, das Mündigkeitsalter in der Schweiz - dem weitgehenden europäischen Standard entsprechend - auf 18 Jahre zu senken (vgl. BBl 1994 III 1844 und 1993 I 1169).
Die Rechtsprechung macht jedoch eine Ausnahme für die Altersfrage beim Nachzug von Kindern in Anwendung von Art. 17 Abs. 2 ANAG, wo es auf den Zeitpunkt der Gesuchseinreichung ankommt (BGE 118 Ib 153 E. 1b). Diese Ausnahme rechtfertigt sich, weil diesfalls die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung in Frage steht, das heisst die Anwesenheit wirdBGE 120 Ib 257 (262) BGE 120 Ib 257 (263)unbefristet bewilligt, wenn im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung die Voraussetzungen erfüllt sind. Bei einer auf Art. 8 EMRK gestützten Bewilligung verhält es sich hingegen anders. Im Vordergrund steht die befristete Aufenthaltsbewilligung. Die Anwesenheit wird somit nur vorübergehend erlaubt; soll sie länger dauern, muss die Bewilligung verlängert beziehungsweise erneuert werden. Der Entscheid über das Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses wirkt daher nicht über die gerade massgebliche, in der Regel einjährige Zeitperiode hinaus. Eine Abhängigkeit kann sodann nachträglich nicht nur wegfallen, sondern je nach Sachlage auch erst eintreten. Es rechtfertigt sich daher, im hier zu beurteilenden Zusammenhang wie im Regelfall auf den gegenwärtigen Zeitpunkt abzustellen, wobei im vorliegenden Fall offenbleiben kann, ob allenfalls noch zwischen dem Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung und demjenigen der Urteilsfällung durch das Bundesgericht zu unterscheiden ist.
 
Erwägung 2
 
Im Dezember 1992, als der Beschwerdeführer bereits mehr als 17 Jahre alt war, hat das Verwaltungsgericht des Kantons Bern noch festgehalten, dieser mache gemessen an seinem Alter einen recht kindlichen Eindruck und brauche den Rückhalt bei einem vertrauten Menschen. Bei Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht war der Beschwerdeführer aber bereits 18jährig; inzwischen hat er gar das 19. Lebensjahr überschritten. Auch wenn das Verwaltungsgericht des Kantons Bern dem Beschwerdeführer eine Anwesenheitsbewilligung nur für die Dauer der Minderjährigkeit erteilen zu wollen scheint und dieser sowohl nach schweizerischem wie auch nach philippinischem Recht, nach welchem die Volljährigkeit mit vollendetem 21. Lebensjahr eintritt (vgl. ALEXANDER BERGMANN/MURAD FERID, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Philippinen, 114. Lieferung, Frankfurt 1993, S. 21 und 43), noch nicht mündig ist, hat er doch bereits vor Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht die Grenze von 18 Jahren überschritten. Er befindet sich somit in einem Alter, in welchem gemeinhin eine weitgehende Selbständigkeit erreicht wird.
Wohl mag der Beschwerdeführer noch auf eine gewisse Unterstützung durch seine Halbschwester angewiesen sein. In seinem Alter sind Jugendliche in der Regel jedoch in persönlicher Hinsicht genügend gereift, um selbständig leben zu können. Häufig wohnen sie denn auch getrennt von ihrer Familie und üben die persönlichen Kontakte auf Distanz oder durch gegenseitige Besuche aus. Es ist nicht ersichtlich, weshalb nicht auch der Beschwerdeführer, der sich nunmehr im entsprechenden Alter befindet, sich sollte verselbständigen können. Allfällige finanzielle Unterstützung kann die Halbschwester von der Schweiz aus gewähren. Die üblichen persönlichen Beziehungen zwischen Geschwistern lassen sich durch briefliche und telefonische Kontakte sowie durch gelegentliche gegenseitige Besuche aufrechterhalten. Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Behörden solche Kontakte durchBGE 120 Ib 257 (264) BGE 120 Ib 257 (265)fremdenpolizeiliche Massnahmen behindern werden. Hinweise für eine über das Übliche hinausgehende Abhängigkeit des Beschwerdeführers von seiner Halbschwester liegen nicht vor, selbst wenn das Verhältnis aufgrund der besonderen Ausgangslage enger als üblich sein sollte.
Kann sich der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren somit nicht auf Art. 8 EMRK berufen, ist auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten, soweit mit dem angefochtenen Entscheid die Zustimmung zur Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung verweigert wurde.BGE 120 Ib 257 (265)