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Zitiert durch:
BGE 120 Ia 19 - Fischental


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. a) (Vereinigung sämtlicher Beschwerden; vgl. Art. 40 OG i ...
2. (Letztinstanzlichkeit. Rechtsmittel im Kanton Bern, Überw ...
3. a) Die Beschwerdeführer H. wenden in ihrer Vernehmlassung ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. September 1992 i.S. Ehegatten S. und Mitb. gegen Einwohnergemeinde Niederried und Regierungsrat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
Regeste
 
Art. 6 Ziff. 1 EMRK; kantonale Organisations- und Verfahrenshoheit.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 118 Ia 331 (332)Vom 21. November bis 23. Dezember 1988 lag in der Gemeinde Niederried eine Uferschutzplanung öffentlich auf. Das Planwerk besteht aus dem Uferschutzplan, Überbauungsvorschriften und einem Realisierungsprogramm. Die Uferschutzplanung stützt sich auf das kantonale Gesetz über See- und Flussufer vom 6. Juni 1982 (See- und Flussufergesetz, SFG) und legt Uferschutzzonen, Baubeschränkungen und allgemein benützbare Freiflächen fest. Weiter ist der Bau eines Uferweges geplant. Gegen dieses Werk erhoben mehrere betroffene Eigentümer Einsprache. Am 14. April 1989 beschloss die Gemeindeversammlung von Niederried die Uferschutzplanung, welche von der Baudirektion des Kantons Bern mit Beschluss vom 14. Mai 1990 unter Vornahme einzelner Änderungen genehmigt wurde. Die gegen diesen Genehmigungsbeschluss geführten Beschwerden wies der Regierungsrat des Kantons Bern am 16. Oktober 1991 ab.
Mit staatsrechtlichen Beschwerden verlangen die Einsprecher die Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides vom 16. Oktober 1991. Sie berufen sich namentlich auf eine Verletzung von Art. 4 und 22ter BV. Sodann rügen sie, Art. 6 Ziff. 1 EMRK werde verletzt, und sie führen an, mit der umstrittenen Uferschutzplanung werde der Gemeinde Niederried das Enteignungsrecht erteilt; sie hättenBGE 118 Ia 331 (332) BGE 118 Ia 331 (333)einen Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem Richter gehört werde, dem eine umfassende Rechtskontrolle zustehe.
 
b) (Keine Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör nach Art. 4 BV, wenn einer Partei die Einsicht in Akten eines abgeschlossenen Verfahrens verweigert wird, sofern die umfassende Wahrung der Rechte eines Bürgers eine Akteneinsicht nicht gebietet; vgl. BGE 113 Ia 4 E. 4a mit Hinweisen.)
Weiter sei zu beachten, dass eine Rückweisung der vorliegenden Sache an das Verwaltungsgericht viele Fragen offen lasse. Einerseits könne nicht gesagt werden, dass der bernische Gesetzgeber - könnte er frei entscheiden - Beschwerden gegen die erwähnten Pläne dem Verwaltungsgericht zuweisen würde; er könne auch ein Spezialgericht schaffen. Anderseits schaffe eine Rückweisung an das Verwaltungsgericht das Problem, dass nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK die richterliche Überprüfung nur im Enteignungspunkt, nicht aber betreffend den umstrittenen Plan generell vorgeschrieben sei, was für dasBGE 118 Ia 331 (333) BGE 118 Ia 331 (334)Verwaltungsgericht unhaltbare Abgrenzungsprobleme biete. Offen sei die Frage der Überprüfung von Enteignungstiteln in umfassenden Ortsplanungen. Einer eingehenden Regelung bedürfe sodann die Überprüfung in Plänen nach der Unterscheidung materieller und formeller Enteignung. Die Rüge der Unangemessenheit könne vor Verwaltungsgericht nicht vorgebracht werden (Art. 80 VRPG). Auch fehlten klare Bestimmungen über das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht. Die Beschwerdeführer wüssten nicht, welche Rügen sie erheben dürfen und welche nicht.
Schliesslich müssten nicht nur das Verwaltungsrechtspflegegesetz, sondern namentlich auch das kantonale Baugesetz und das Enteignungsgesetz geändert werden. Die Einführung der kantonalen Verwaltungsgerichtsbeschwerde bedinge eine formelle Gesetzesänderung, die nur dem Stimmvolk zustehe. Ein Urteil des Verwaltungsgerichtes in der hier vorliegenden Streitsache würde demgemäss die politischen Rechte der Beschwerdeführer verletzen.
b) Diese Einwendungen sind unbegründet. Es trifft zwar zu, dass die Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur Folge haben kann, dass in die kantonale Organisations- und Verfahrensautonomie eingegriffen wird. Doch ist diese Autonomie nicht unbeschränkt. Wie das Bundesgericht im bereits mehrfach erwähnten BGE 118 Ia 214 in Erw. 1c ausführte, zählt der von Art. 6 Ziff. 1 EMRK verlangte gerichtliche Rechtsschutz zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bundesrechts, denen die Kantone Rechnung zu tragen haben. Es gilt insoweit grundsätzlich nichts anderes als etwa mit Bezug auf die Anforderungen an das kantonale Verfahren, soweit diese aus Art. 4 und 58 BV abgeleitet werden (PETER SALADIN in Kommentar BV, Art. 3, Rz. 245). Das Recht auf einen unabhängigen Richter, der Pläne, soweit sie einen Enteignungstitel schaffen, umfassend auf ihre Rechtmässigkeit überprüfen kann, ist hoch zu werten, zumal es für den Betroffenen zu einer klaren Verbesserung des Rechtsschutzes führt, was einen Eingriff in die Organisationshoheit der Kantone rechtfertigt (vgl. PETER SALADIN, a.a.O., Rz. 105). Unter diesen Umständen hat sich das Verwaltungsgericht zu Recht bereit erklärt, die vorliegenden Beschwerden an die Hand zu nehmen. Allein deshalb kann somit nicht gesagt werden, sein Urteil werde nichtig sein, wie dies die Beschwerdeführer H. meinen.
Der Bundesgesetzgeber hat verschiedentlich im Bereich des Verfahrensrechtes in die Souveränitätsrechte der Kantone eingegriffen. Zu denken ist etwa an Art. 98a Abs. 1 OG gemäss Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vomBGE 118 Ia 331 (334) BGE 118 Ia 331 (335)4. Oktober 1991, nach welcher Bestimmung die Kantone richterliche Behörden als letzte kantonale Instanzen bestellen, soweit gegen deren Entscheide unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig ist. Sodann ist insbesondere auf Art. 33 des Bundesgesetzes über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700) hinzuweisen. In einem den Kanton Luzern betreffenden Fall hat das Bundesgericht in Anwendung von Art. 33 RPG das Verwaltungsgericht mangels einer anderen in Frage kommenden unabhängigen Beschwerdebehörde im Sinne von Art. 33 RPG direkt verpflichtet, auf Beschwerden gegen vom Regierungsrat festgesetzte Nutzungspläne einzutreten, obwohl die Luzerner Baugesetzgebung Planungen von der Kontrolle durch das Verwaltungsgericht ausdrücklich ausnimmt (nicht veröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 31. Oktober 1990 i.S. Z. und Mitb. gegen Regierungsrat des Kantons Luzern, E. 3d).
Es ist richtig, dass Eingriffe in die Organisationshoheit der Kantone seitens des Bundes grundsätzlich den kantonalen Stimmbürger binden. Doch wird dadurch seine Mitwirkung trotzdem nicht völlig ausgeschaltet (vgl. dazu etwa Art. 98a Abs. 2 OG in der Fassung vom 4. Oktober 1991). Es ist namentlich denkbar, dass der Kanton Bern für die Überprüfung von Plänen, die das Enteignungsrecht erteilen, ein besonderes Gericht schafft und dafür die nötigen Verfahrensbestimmungen erlässt. Auch hat der Kanton Bern zu prüfen, ob einzelne Bestimmungen der Bau-, Enteignungs- und Verfahrensgesetzgebung entsprechend der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtes anzupassen sind. Die Beschlussfassung über die entsprechenden Änderungen steht im Rahmen des die politischen Rechte regelnden kantonalen (Verfassungs-)Rechts dem Stimmbürger zu. Dies steht einer Entgegennahme der vorliegenden Beschwerden durch das Verwaltungsgericht gestützt auf die bundesrechtliche Norm des Art. 6 Ziff. 1 EMRK ebensowenig entgegen wie im vorerwähnten, den Kanton Luzern betreffenden Fall, in welchem es um die Anwendung des Art. 33 RPG ging, zumal sich der Regierungsrat des Kantons Bern mit diesem Vorgehen - wie erwähnt - im Interesse einer Verbesserung des Rechtsschutzes der Privaten ausdrücklich einverstanden erklärt hat.
Auch den weiteren geäusserten Bedenken ist nicht zu folgen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer bestehen klare Regeln für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht; soweit diese verletzt werden, steht den Beschwerdeführern der Rechtsschutz zu. Was die Frage der zulässigen Rügen betrifft, kann auf die vorstehende Erw. 2dBGE 118 Ia 331 (335) BGE 118 Ia 331 (336)und auf die nachstehende Erw. 4 verwiesen werden. Abgrenzungsprobleme bei der Überprüfung der umstrittenen Planung sind nicht zu sehen. Das Verwaltungsgericht hat entsprechende Befürchtungen zu Recht auch nicht geäussert. Dieses hat die Planung entsprechend den Einwendungen der Beschwerdeführer einer umfassenden Rechtskontrolle zu unterziehen und dabei namentlich zu prüfen, ob die für den Eigentumseingriff geltend gemachten öffentlichen Interessen die privaten überwiegen.BGE 118 Ia 331 (336)