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Zitiert durch:
BGE 133 III 153 - Gewinnherausgabe Patty Schnyder
BGE 120 II 248 - Behandlungsrisiken


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Nach § 6 Abs. 1 HG haftet der Beklagte für den Schad ...
2. Nach der Rechtsprechung ist ein Verhalten widerrechtlich, wenn ...
3. Ein widerrechtliches Verhalten führt nur dann zur Ersatzp ...
4. Die Verletzung eines Menschen in seiner körperlichen Inte ...
5. Ein Rechtfertigungsgrund wäre von vornherein auszuschlies ...
6. Mit Bezug auf die Aufklärungspflicht macht der Beklagte g ...
7. Der Beklagte stellt sich auf den Standpunkt, der Eingriff sei  ...
8. (Anspruch auf Genugtuung [§ 10 HG] mangels Verschuldens v ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
64. Auszug aus dem Beschluss der I. Zivilabteilung vom 8. Dezember 1987 i.S. X. gegen Kanton Zürich (Direktprozess)
 
 
Regeste
 
Staatshaftung für spitalärztliche Tätigkeit. Haftungsgesetz des Kantons Zürich vom 14. September 1969 (HG).
 
Widerrechtlichkeit. Bejahung der Widerrechtlichkeit unabhängig von einem Verstoss gegen die Regeln der ärztlichen Kunst, wenn die körperliche Integrität verletzt worden ist. Unterschied zu den Fällen, bei denen nur der Heilerfolg der ärztlichen Behandlung ausgeblieben ist (E. 2).
 
Kausalzusammenhang. Anforderungen an den Beweis des natürlichen Kausalzusammenhangs (E. 3).
 
Einwilligung des Patienten als Rechtfertigungsgrund (§ 7 HG). Beweislast. Umschreibung der Risiken, die von der Einwilligung erfasst werden können (E. 4). Operationsrisiko und ärztliche Aufklärungspflicht im konkreten Fall (E. 5 und 6). Rechtfertigungsbeweis (E. 7).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 113 Ib 420 (421)X., geb. 1929, dipl. Ingenieur, wohnhaft in Neapel, kam am 16. November 1982 wie schon in den beiden Vorjahren zu Professor Dr. med. Y., dem Direktor der Medizinischen Klinik des Universitätsspitals Zürich, um sich untersuchen zu lassen. Professor Y. empfahl u. a. in der Sprechstunde eine endoskopische Untersuchung des oberen Verdauungstrakts, welche am 17. November von Dr. med. Z., dem Leiter der Abteilung Endoskopie der Klinik, durchgeführt wurde (sog. diagnostische Endoskopie). Auf Anraten von Dr. Z. und Professor Y. wurde die Entfernung eines kleinen Polypen im Zwölffingerdarm in Aussicht genommen und am 18. November von Dr. Z. ambulant vorgenommen (sog. therapeutische Endoskopie). Dabei kam es zu Komplikationen mit inneren Blutungen; mehrere Operationen wurden nötig, und der Patient lag 23 Tage, bis 10. Dezember 1982, bewusstlos in der Intensivstation des Universitätsspitals. Am 7. Januar 1983 konnte er das Spital verlassen.
Am 9. Dezember 1983 klagte X. gegen den Kanton Zürich auf Bezahlung von Fr. 3'075'145.10 zuzüglich 5% Verzugszins ab 18. November 1982 auf Fr. 2'990'775.-- und ab 1. Mai 1983 auf Fr. 84'370.10. Das Verfahren wurde zunächst auf die Frage beschränkt, welches Recht anwendbar sei und inwiefern danach der Beklagte oder nur Professor Y. haftbar gemacht werden könne. In einem Zwischenentscheid vom 26. März 1985 erkannte das Bundesgericht, dass der Beklagte für den Vorfall nach dem kantonalen Haftungsgesetz einzustehen habe (BGE 111 II 149).
In der Folge wurde Professor Dr. A., Chefarzt der Abteilung für Gastroenterologie am Inselspital Bern, zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. Er erstattete am 27. Dezember 1985 sein Gutachten. Der Beklagte beantragte am 12. März 1986 eine neue Begutachtung, eventuell eine Ergänzung und Erläuterung des Gutachtens. In der Vorbereitungs- und Beweisverhandlung vom 29. Mai 1986 wurden drei Ärzte und zwei Krankenschwestern als Zeugen einvernommen. Am 4. November 1986 ergänzte der Gerichtsexperte sein Gutachten. Er behielt die Befragung von ProfessorBGE 113 Ib 420 (421) BGE 113 Ib 420 (422)B. vor, welcher die Nachoperationen ausgeführt hatte. Professor B. wurde am 25. März 1987 als sachverständiger Zeuge befragt. Im Anschluss daran äusserte sich der Experte abschliessend. Der Beklagte teilte am 3. April 1987 mit, er halte am Antrag auf Oberexpertise nicht fest; der Kläger reichte ein Privatgutachten ein und ersuchte am 9. April 1987 ebenfalls, von einer Oberexpertise abzusehen, es sei denn, das Bundesgericht betrachte die Frage, ob die Verletzung des Klägers auf elektrischer oder mechanischer Ursache beruhe, als ausschlaggebend.
Das weitere Verfahren wurde im Einvernehmen mit den Parteien auf die Frage beschränkt, ob dem Kläger beim streitigen Eingriff widerrechtlich Schaden zugefügt worden sei und der Beklagte demzufolge grundsätzlich für den geltend gemachten Schaden hafte sowie ob die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Genugtuung gegeben seien.
An der heutigen Hauptverhandlung hält der Kläger an den am 9. Dezember 1983 gestellten Rechtsbegehren fest. Für den Fall, dass das Bundesgericht den Nachweis der mechanischen Verletzung nicht als erbracht erachte und annehme, es sei auch eine elektrische Verletzung möglich, und es die Haftung des Beklagten deshalb verneine, beantragt er, über diese These noch Beweis abzunehmen. Der Beklagte bestätigt den Antrag auf Abweisung der Klage.
Das Bundesgericht bejaht grundsätzlich die Schadenersatzpflicht des Beklagten und verneint einen Anspruch auf Genugtuung.
 
Die Schadenersatzpflicht setzt demnach im Unterschied zum Anspruch auf Genugtuung kein Verschulden des Beamten voraus. Sie beruht auf einer Kausalhaftung und unterscheidet sich dadurch auch von der Haftung des Arztes aus Vertrag oder ausBGE 113 Ib 420 (422) BGE 113 Ib 420 (423)unerlaubter Handlung im Sinn von Art. 41 OR. Bei diesen beiden, auf Verschulden beruhenden Haftungsgrundlagen steht die Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht im Vordergrund. Dabei ist nicht restlos geklärt, wieweit diese zum Verschulden oder zur Vertragswidrigkeit bzw. zur Widerrechtlichkeit zu rechnen ist (BGE 113 II 432 f. mit Hinweisen auf die Kritik im Anschluss an BGE BGE 105 II 284 ff.). Die Abgrenzung spielt im Ergebnis für die Haftung aus Art. 41 OR keine Rolle. Bei der Haftung aus Vertrag wirkt sie sich hingegen auf die Beweislast aus, da der Patient nur die Vertragsverletzung, nicht auch das Verschulden des Arztes beweisen muss, vielmehr dieser sich zu exkulpieren hat (Art. 97 Abs. 1 OR).
Wird ein Patient bei einem Eingriff über diesen hinaus in der körperlichen Integrität verletzt, so ist demnach die Widerrechtlichkeit von vornherein gegeben. Das unterscheidet solche Fälle namentlich von jenen, bei denen bloss der Heilerfolg der ärztlichen Behandlung ausbleibt. Gemäss dem Operationsbefund vom 18. November 1982 wies die Bauchspeicheldrüse des Klägers nachBGE 113 Ib 420 (423) BGE 113 Ib 420 (424)der endoskopischen Abtragung des Polypen einen tiefen Längsriss auf, der Pankreaskopf war fast vollständig vom Duodenum abgerissen, und die dahinter liegende Arteria gastroduodenalis war aufgerissen. Bei den Nachoperationen mussten ein grosser Teil der Bauchspeicheldrüse sowie Teile des Magens entfernt werden. Anlässlich des streitigen Eingriffs ist es somit zu einer Verletzung der körperlichen Integrität gekommen. Die Widerrechtlichkeit ist somit grundsätzlich zu bejahen.
Es ist nicht bestritten, dass der Kläger als Folge des Eingriffs vom 18. November 1982 und der anschliessend notwendigen Nachoperationen heute noch gesundheitlich erheblich geschädigt ist. Der Gerichtsexperte bestätigt, dass namentlich die Entfernung eines grossen Teils der Bauchspeicheldrüse, zudem von Teilen des Magens, Durchfall, Diabetes, Magenbluten und Hepatitis verursachen können, und hält fest, die Lebensqualität des Klägers sei erheblich beeinträchtigt sowie das Geschehen habe zu einer weitgehenden Invalidität des Klägers geführt. Sodann hat der Kläger dargetan, dass bei der Endoskopie das Pankreas beschädigt worden ist und der Eingriff keinen normalen Verlauf genommen hat. Das genügt für die Annahme eines natürlichen wie auch adäquaten Kausalzusammenhangs. Dem Beklagten steht der Nachweis offen, dass dieser Zusammenhang allenfalls unterbrochen worden ist.
Die Beweislast für den Rechtfertigungsgrund trifft den Beklagten. Dieser hat somit die Einwilligung des Patienten zu beweisen sowie nachzuweisen, dass die Schädigung auf berufsinhärente Risiken zurückzuführen und auch bei sorgfältigem Vorgehen nicht zu vermeiden war. Dabei kann sich die Einwilligung nur auf Risiken beziehen, die bei ordnungsgemässer Durchführung des Eingriffs bestehen, nicht auf solche, die auf einen Behandlungsfehler zurück zuführen sind. Ausserdem kann sich der Arzt auf die Einwilligung nur berufen, wenn er seiner Aufklärungspflicht gegenüber dem Patienten nachgekommen ist, insbesondere über die Risiken einer Operation aufgeklärt hat (BGE 108 II 62 E. 3; vgl. auch BGE BGE 113 II 434 Nr. 76). Diesfalls schliesst die Einwilligung die Risiken ein, die selbst bei sorgfältigem Vorgehen bestehen. Wieweit im übrigen die konkrete Behandlungssituation, namentlich die konkreten Schwierigkeiten einer Operation, welche überwiegend zu den subjektiven Elementen ärztlicher Sorgfalt gerechnet werden (GROSS, Haftung für medizinische Behandlung, S. 161 f.; WIEGAND, Der Arztvertrag, insbesondere die Haftung des Arztes, in: Arzt und Recht, Berner Tage für die juristische Praxis 1984, S. 105 f. u. S. 112; KUHN, Ärztliche Kunstfehler, SJZ 83/1987, S. 358; KUHN, Die Entwicklung in der Haftpflicht des Arztes, ZSR 105/1986 II, S. 484 ff.), von der Einwilligung erfasst werden kann, braucht für die zu beurteilende Streitsache nicht untersucht zu werden.
Der Gerichtsexperte erklärt die therapeutische Endoskopie zur Entfernung des Polypen eindeutig für gerechtfertigt, weil dadurch eine histologische Untersuchung ermöglicht worden sei. Aufgrund des erheblich grösseren statistischen Materials bei Polypen in anderen Darmbereichen und im Magen nennt er ein Blutungsrisiko von 2,7% und ein Perforationsrisiko von 0,3%, eventuell etwas höher. Statistiken mit einer Komplikationsrate von 15% für Duodenalpolypen seien erst nach 1982 bekanntgeworden. Der Experte kommt zum Schluss, der Eingriff sei aus damaliger Sicht mit einem tragbaren Risiko verbunden, aber nicht ohne Risiko gewesen und habeBGE 113 Ib 420 (425) BGE 113 Ib 420 (426)daher mit äusserster Sorgfalt durchgeführt werden müssen.
Das Gutachten überzeugt. Der Vorwurf einer ungenügenden Indikation erweist sich deshalb als unbegründet.
Die Aufklärungspflicht umfasst die Risiken eines Eingriffs, damit der Patient seine Zustimmung in Kenntnis der Sachlage geben kann (BGE 108 II 61 E. 2). Es ist nicht abschliessend abgeklärt worden, was dem Kläger hinsichtlich der Komplikationsrisiken mitgeteilt wurde. Offenbar sind ihm eher beruhigende Erklärungen abgegeben worden, wie den Aussagen des Zeugen Z. und den Darlegungen des Klägers zu entnehmen ist. Angesichts des damals gering eingeschätzten Risikos durfte auf einen besonderen Hinweis verzichtet werden. Gerade bei einem ängstlichen Patienten wie dem Kläger war Zurückhaltung am Platz. Es erübrigt sich deshalb zu prüfen, ob der Kläger auch bei entsprechender Aufklärung den Eingriff erlaubt hätte (BGE 108 II 63 f.).
(Dem Beklagten gelingt der Rechtfertigungsbeweis nicht, weshalb die Schadenersatzpflicht bejaht wird.)