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Zitiert durch:
BGE 131 I 272 - Videoaufzeichnung in der Tiefgarage


Zitiert selbst:
BGE 126 I 7 - Genfer Polizeiaktion


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Die Verurteilung des Beschwerdeführers stützt sich m ...
Erwägung 3
Erwägung 4
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server
 
9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
1P.396/2002 vom 13. November 2002
 
 
Regeste
 
Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 EMRK; verfassungsrechtliche Anforderungen an die gerichtliche Verwertung der Überwachung fremdsprachiger Telefongespräche.
 
Die aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör als Teilaspekt des Grundsatzes des fairen Verfahrens folgenden Verteidigungsrechte erheischen, dass aktenmässig belegt ist, wie Beweismittel produziert wurden (hier deutsche Protokolle von abgehörten fremdsprachigen Telefongesprächen; E. 4.1-4.3).
 
Der Angeklagte kann sich darauf beschränken, die Verwertbarkeit von Beweismitteln zu bestreiten, ohne im Voraus die Verbesserung der geltend gemachten Mängel verlangt zu haben (hier namentlich die Bekanntgabe der Verfasser der Telefonabhörprotokolle; E. 4.4).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 129 I 85 (86)Das Bezirksgericht Laufenburg verurteilte X. am 18. August 2000 wegen schweren Drogenhandels zu 11 Jahren Zuchthaus und Fr. 8'000.- Busse und verwies ihn für 15 Jahre des Landes. Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Berufung von X. und die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft am 2. Mai 2002 zwar teilweise gut und änderte das erstinstanzliche Urteil in einzelnen Punkten leicht ab, bestätigte es hingegen im Wesentlichen und insbesondere im ausgesprochenen Strafmass.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 und 29 Abs. 1 BV beantragt X., das obergerichtliche Urteil aufzuheben. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut und hebt den angefochtenen Entscheid auf.
 
2. Die Verurteilung des Beschwerdeführers stützt sich massgeblich auf die Protokolle der von der Bundesanwaltschaft angeordneten Überwachung verschiedener Telefonanschlüsse (z.B. angefochtenes Urteil S. 33 Ziff. 3b, S. 34 Ziff. 4, S. 35 Ziff. 5 und 6). Der Beschwerdeführer macht - wie schon vor Bezirks- und vor Obergericht - geltend, die Verwertung dieser Telefonprotokolle zuBGE 129 I 85 (86) BGE 129 I 85 (87)seinen Lasten beruhe auf einer willkürlichen Anwendung des kantonalen Prozessrechts und verletze den Anspruch auf ein faires Verfahren nach Art. 29 Abs. 1 BV; es sei aus den Akten nicht ersichtlich, wer wie über die in albanischer Sprache geführten Telefongespräche deutsche Protokolle verfasst habe. Die Argumentation des Obergerichts, dieser Einwand sei verspätet, weil er ihn nicht bereits im Untersuchungsverfahren vorgebracht habe, verstosse gegen den Grundsatz "in dubio pro reo" in seiner Funktion als Beweislastregel; es sei nicht seine Sache, bei den Untersuchungsbehörden die Verbesserung formungültiger Belastungsbeweise zu verlangen, vielmehr sei es Sache des Staates, ihm seine Schuld nach den Vorschriften des Prozess- und Verfassungsrechts nachzuweisen.
 
Erwägung 3
 
 
Erwägung 4
 
Aus dem in Art. 29 Abs. 2 BV bzw. Art. 6 Ziff. 3 EMRK verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör, welcher einen wichtigen und deshalb eigens aufgeführten Teilaspekt des allgemeineren Grundsatzes des fairen Verfahrens von Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK darstellt (so für die EMRK ausdrücklich JACQUES VELU/RUSEN ERGEC, La convention européenne des droits de l'homme, Bruxelles 1990, N. 591; MARK VILLIGER, Handbuch der EMRK, 2. Aufl., Zürich 1999, N. 470 f.) ergibt sich für den Angeklagten das grundsätzlich uneingeschränkte Recht, in alle für das Verfahren wesentlichen Akten Einsicht zu nehmen (BGE 121 I 225 E. 2a mit Hinweisen). Das Akteneinsichtsrecht soll sicherstellen, dass der Angeklagte als Verfahrenspartei von den Entscheidgrundlagen Kenntnis nehmen und sich wirksam und sachbezogen verteidigenBGE 129 I 85 (88) BGE 129 I 85 (89)kann (BGE 126 I 7 E. 2b; MICHEL HOTTELIER, Les garanties de procédure, N. 10 S. 812, in: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller, Verfassungsrecht der Schweiz, Zürich 2001). Die effektive Wahrnehmung dieses Anspruchs setzt notwendig voraus, dass die Akten vollständig sind (ANDREAS AUER/GIORGIO MALINVERNI/MICHEL HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. II, Bern 2000, N. 1293 S. 612). In einem Strafverfahren bedeutet dies, dass die Beweismittel, jedenfalls soweit sie nicht unmittelbar an der gerichtlichen Hauptverhandlung erhoben werden, in den Untersuchungsakten vorhanden sein müssen und dass aktenmässig belegt sein muss, wie sie produziert wurden, damit der Angeklagte in der Lage ist zu prüfen, ob sie inhaltliche oder formelle Mängel aufweisen und gegebenenfalls Einwände gegen deren Verwertbarkeit erheben kann. Dies ist Voraussetzung dafür, dass er seine Verteidigungsrechte überhaupt wahrnehmen kann, wie dies Art. 32 Abs. 2 BV verlangt.
Für die Rechtslage unter dem BÜPF hält THOMAS HANSJAKOB (Kommentar zum BÜPF/VÜPF, St. Gallen 2002, N. 23 zu Art. 13 BÜPF) denn auch fest, dass die Transkription von Telefonüberwachungen für die anordnende Behörde und das Gericht nachvollziehbar sein muss und empfiehlt den Gerichten daher, die Bänder mit den Aufzeichnungen herauszuverlangen. In seiner "Checkliste für die anordnende Behörde" (a.a.O., Anhang B. Ziff. 3, S. 365 f.) sieht er überdies den Erlass einer Auswertungsverfügung an die auswertende Behörde vor, welche u.a. die Bezeichnung der auswertenden Personen und der Dolmetscher bzw. die Anordnung zur Meldung dieser Personen und deren Unterrichtung über die einschlägigen Geheimhaltungspflichten und die Straffolgen nach Art. 307 StGB enthalten soll.
Das Obergericht hätte daher Anlass gehabt, den (begründeten) Einwänden gegen die Verwertbarkeit der Telefonprotokolle in der Berufung vom 11. Juni 2001 Rechnung zu tragen und vor der Berufungsverhandlung abklären können und müssen, wer an der Erstellung der umstrittenen Protokolle beteiligt war und wie diese Personen instruiert waren; da es nicht um Protokolle von Zeugeneinvernahmen geht, für die die strengen Formvorschriften von § 100 Abs. 2 StPO/AG gelten, hätte es genügt, den Angeklagten über das Ergebnis der Abklärungen zu informieren, und ihm Gelegenheit zu geben, allfällige Einwände zu erheben, um die Protokolle (unter dem Vorbehalt begründeter Einwände) verwertbar zu machen. Es hätte diese entscheidenden Beweise allenfalls auch nach § 27 StPO/AG durch Anhörung der Tonträger und deren unmittelbare Übersetzung an der Berufungsverhandlung selber erheben können.