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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Nach Art. 55 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Appenzell Ausse ...
Erwägung 3
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server
 
11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Walker gegen Kantonsrat des Kantons Appenzell A.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
1P.292/2003 vom 5. April 2004
 
 
Regeste
 
Art. 82 BV, Art. 2, 3 und 5 SVG; Art. 55 KV/AR; Bundesrechtswidrigkeit der kantonalen Volksinitiative "12 autofreie Sonntage".
 
Ein grundsätzlich für das ganze Kantonsgebiet geltendes Sonntagsfahrverbot, wie es die Initiative anstrebt, kann nur per Rechtssatz erlassen werden. Die Kantone verfügen nicht über die dafür erforderliche Rechtssetzungskompetenz (E. 3.3 und 3.4).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 130 I 134 (135)Am 25. Juni 2002 stellte der Regierungsrat des Kantons Appenzell Ausserrhoden fest, die in Form einer allgemeinen Anregung eingereichte Volksinitiative "12 autofreie Sonntage" habe mit 482 gültigen Unterschriften mehr als die 300 erforderlichen auf sich vereinigt und sei daher zustande gekommen. Sie hat folgenden Wortlaut:
    "Im Kanton Appenzell A.Rh. werden zwölf autofreie Sonntage eingeführt. Während dieser ist jeglicher motorisierter Privatverkehr verboten. Die Detailbestimmungen können sich an den autofreien Sonntagen der Siebzigerjahre oder an der aktuellen nationalen Initiative orientieren."
Gestützt auf ein vom Regierungsrat in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten von Prof. Dr. René Schaffhauser, welches zum Schluss kam, die Initiative sei bundesrechtswidrig, erklärte sie der Kantonsrat am 24. März 2003 auf Antrag des Regierungsrates mit 58 gegen 2 Stimmen für ungültig.
Mit Stimmrechtsbeschwerde vom 12. Mai 2003 beantragt Tim Walker "als Stimmbürger und Mitglied des Initiativkomitees" im Wesentlichen, diesen Beschluss des Kantonsrates aufzuheben und ihn anzuweisen, sie ganz oder eventuell teilweise den Stimmberechtigten zur Abstimmung vorzulegen.BGE 130 I 134 (135)
 
BGE 130 I 134 (136)Aus den Erwägungen:
 
Der Beschwerdeführer bestreitet dies und macht geltend, der Kanton sei durchaus befugt, wenigstens auf einem erheblichen Teil des kantonalen Strassennetzes Sonntagsfahrverbote zu erlassen. Es ist daher - und zwar frei - zu prüfen, ob das Bundesrecht den Kantonen die Freiheit belässt, auf ihrem Gebiet Sonntagsfahrverbote, wie sie die zu beurteilende Initiative anstrebt, einzuführen.
 
Erwägung 3
 
    "1 Der Bundesrat ist ermächtigt, nach Anhören der Kantone:
    a. (...)
    b. für alle oder einzelne Arten von Motorfahrzeugen zeitliche, für die ganze Schweiz geltende Fahrverbote zu erlassen;
    c. (..)."
Die kantonalen Befugnisse sind wie folgt geregelt:
    "Art. 3 Befugnisse der Kantone und GemeindenBGE 130 I 134 (136)
    BGE 130 I 134 (137)1 Die kantonale Strassenhoheit bleibt im Rahmen des Bundesrechts gewahrt.
    2 Die Kantone sind befugt, für bestimmte Strassen Fahrverbote, Verkehrsbeschränkungen und Anordnungen zur Regelung des Verkehrs zu erlassen. Sie können diese Befugnis den Gemeinden übertragen unter Vorbehalt der Beschwerde an eine kantonale Behörde.
    3 Der Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr kann auf Strassen, die nicht dem allgemeinen Durchgangsverkehr geöffnet sind, vollständig untersagt oder zeitlich beschränkt werden; Fahrten im Dienste des Bundes bleiben jedoch gestattet. Vorbehalten ist die Beschwerde an das Bundesgericht wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger.
    4 Andere Beschränkungen oder Anordnungen können erlassen werden, soweit der Schutz der Bewohner oder gleichermassen Betroffener vor Lärm und Luftverschmutzung, die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen, die Sicherheit, die Erleichterung oder die Regelung des Verkehrs, der Schutz der Strasse oder andere in den örtlichen Verhältnissen liegende Gründe dies erfordern. Aus solchen Gründen können insbesondere in Wohnquartieren der Verkehr beschränkt und das Parkieren besonders geregelt werden. Gegen letztinstanzliche kantonale Entscheide über solche Massnahmen ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht zulässig. Gemeinden sind zur Beschwerde berechtigt, wenn Verkehrsmassnahmen auf ihrem Gebiet angeordnet werden.
    5 Massnahmen für die übrigen Fahrzeugarten und Strassenbenützer richten sich, soweit sie nicht zur Regelung des Motorfahrzeug- und Fahrradverkehrs erforderlich sind, nach kantonalem Recht.
    6 In besondern Fällen kann die Polizei die erforderlichen Massnahmen treffen, namentlich den Verkehr vorübergehend beschränken oder umleiten."
Art. 5 bestimmt über die "Signale und Markierungen" Folgendes:
    "1 Beschränkungen und Anordnungen für den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr müssen durch Signale oder Markierungen angezeigt werden, sofern sie nicht für das ganze Gebiet der Schweiz gelten.
    2 (...)
    3 Im Bereich der für Motorfahrzeuge oder Fahrräder offenen Strassen dürfen nur die vom Bundesrat vorgesehenen Signale und Markierungen verwendet und nur von den zuständigen Behörden oder mit deren Ermächtigung angebracht werden."
3.2 Nach Art. 2 Abs. 1 lit. b SVG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 SVG ist klarerweise einzig der Bund bzw. der Bundesrat befugt, per Rechtssatz für das ganze Hoheitsgebiet geltende Beschränkungen des Motorfahrzeug- und Fahrradverkehrs anzuordnen, ohne diese auf dem Strassennetz auszuschildern. Den Kantonen ist esBGE 130 I 134 (137) BGE 130 I 134 (138)demgegenüber untersagt, den motorisierten Verkehr auf ihrem Gebiet per Rechtssatz generell zu beschränken. Sie können dies nach Art. 3 Abs. 2 SVG nur für "bestimmte Strassen" tun und müssen Verkehrsbeschränkungen, von hier nicht interessierenden Ausnahmen für polizeiliche Massnahmen nach Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Abs. 6 SVG abgesehen, als Totalfahrverbote im Sinne von Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 SVG oder als funktionelle Verkehrsbeschränkungen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 SVG verfügen, publizieren (vgl. BGE 104 IV 24 E. 3 S. 26) und mit den vom Bundesrat dafür vorgesehenen Signalen und Markierungen an Ort und Stelle kund tun (BGE 101 Ia 73, BGE 101 Ia 565 E. 3 S. 571; Urteil des Bundesgerichts 1P.203/1992 vom 6. April 1994, publ. in: URP 1994 S. 494; zur Abgrenzung von Totalfahrverboten nach Art. 3 Abs. 3 SVG und funktionellen Verkehrsbeschränkungen nach Art. 3 Abs. 4 SVG: VPB 60/1996 S. 732; zu den verfahrensrechtlichen Anforderungen an Massnahmen nach Art. 3 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 6 SVG: BGE 121 I 334 E. 6b S. 345 mit Hinweisen auf die Literatur).
Für ein solches Sonntagsfahrverbot muss u.a. festgelegt werden, an welchen Sonntagen es gilt, wer vom Verbot ausgenommen ist und was für eine Verkehrsordnung an diesen Tagen gelten soll, an denen die Strassen zwar einerseits dem (nicht motorisierten)BGE 130 I 134 (138) BGE 130 I 134 (139)Publikum zur freien Benutzung zur Verfügung stehen sollen, an denen anderseits aber trotzdem ein eingeschränkter motorisierter Strassenverkehr möglich sein soll. Es ist offenkundig, dass eine solche grundsätzlich für das ganze Kantonsgebiet geltende Regelung nur per Rechtssatz erlassen werden kann. Es ist schlechterdings ausgeschlossen, sie zu verfügen, zu publizieren und anschliessend sämtliche Strassen (ausgenommen allenfalls die Durchgangsstrassen nach Art. 3 Abs. 3 SVG) mit den entsprechenden Verkehrssignalen und Markierungen zu kennzeichnen; auf diese Weise lässt sich die Initiative von vornherein weder ganz noch teilweise umsetzen. Diese verlangt vielmehr, dass der Kanton Appenzell Ausserrhoden das von ihr angestrebte Sonntagsfahrverbot auf gesetzgeberischem Weg einführt und setzt damit - zu Unrecht (oben E. 3.2) - voraus, dass er über die entsprechende Rechtssetzungskompetenz verfügt.