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Zitiert durch:
BGE 132 I 201 - Anwaltstarif Aargau


Zitiert selbst:
BGE 128 I 225 - Klinik Rheinau


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 3
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server
 
16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
5P.182/2004 vom 1. Juli 2004
 
 
Regeste
 
Unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Art. 29 Abs. 3 BV).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 130 I 180 (181)A. Mit Eingabe vom 24. März 2003 liess X., Mutter der Tochter Y., bei der Vormundschaftsbehörde A. das Begehren stellen, es sei die ihr am 3. Dezember 2001 entzogene elterliche Obhut über das bei Z., ihrer Schwester, platzierte Kind wieder auf sie zu übertragen. Gleichzeitig stellte sie das Gesuch, ihr im eingeleiteten Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und ihren Anwalt zum unentgeltlichen Rechtsvertreter zu bestellen.
Die Vormundschaftsbehörde A. beschloss am 16. Juni 2003, auf das Armenrechtsgesuch nicht einzutreten mit der Begründung, im Verfahren vor den Vormundschaftsbehörden sei das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege nicht vorgesehen.
Am 6. Januar 2004 wies das Bezirksamt Baden die von X. gegen den vormundschaftsbehördlichen Beschluss vom 16. Juni 2003 eingereichte Beschwerde ab.
B. X. erhob Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau (Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde). Mit Entscheid vom 16. März 2004 änderte das Obergericht den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 von Amtes wegen dahin ab, dass das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes abgewiesen werde. Im Übrigen wies es die Beschwerde wie auch das für das obergerichtliche Verfahren gestellte Armenrechtsgesuch ab.
C. X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 und 29 Abs. 3 BV, eventuell von Art. 6 EMRK, und verlangt, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben; allenfalls sei ihr für das gesamte kantonale Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen.
 
 
Erwägung 2
 
2.1 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht sowohl eine willkürliche Anwendung von § 35 Abs. 3 des Aargauer Verwaltungsrechtspflegegesetzes (wonach in Fällen, wo die Schwere einer Massnahme oder die Rechtslage es als gerechtfertigt erscheinen lässt, ein unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt werden kann) alsBGE 130 I 180 (181) BGE 130 I 180 (182)auch einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 3 BV vor. Sie geht nicht davon aus, dass die unentgeltliche Rechtspflege nach dem kantonalen Recht unter leichteren Bedingungen gewährt werden könne, als es auf Grund der Verfassungsbestimmung der Fall ist. Die Beschwerde ist daher ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel von Art. 29 Abs. 3 BV zu beurteilen, zumal in diesem Fall das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei prüfen kann, ob der Anspruch auf Gewährung des Armenrechts missachtet worden sei. Auf Willkür beschränkt ist die Prüfungsbefugnis indessen, soweit tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz beanstandet werden (BGE 129 I 129 E. 2.1 S. 133 mit Hinweisen).
Angesichts der obergerichtlichen Feststellung, das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde sei kostenfrei, ist das hiefür gestellte Armenrechtsgesuch der Beschwerdeführerin ausschliesslich bezüglich der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung von Bedeutung. Ob eine solche sachlich notwendig ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Die Rechtsnatur des Verfahrens ist ohne Belang. Grundsätzlich fällt die unentgeltliche Verbeiständung für jedes staatliche Verfahren in Betracht, in das der Gesuchsteller einbezogen wird oder das zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 227 mit Hinweisen). Die bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232; BGE 125 V 32 E. 4b S. 35 f., mit Hinweisen).
 
Erwägung 3
 
3.1 Die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung hat das Obergericht mit der Begründung verneint, das Verfahren vor derBGE 130 I 180 (182) BGE 130 I 180 (183)Vormundschaftsbehörde und den vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden sei vergleichbar mit dem Verfahren vor den Betreibungs- und Konkursämtern und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden. In beiden Fällen handle es sich um ein seiner Natur nach einfaches, von der Offizialmaxime beherrschtes Einparteienverfahren mit allenfalls weiteren Verfahrensbeteiligten. Für das Verfahren vor den Betreibungs- und Konkursämtern habe die unentgeltliche Rechtsvertretung stets ausser Frage gestanden und für das Beschwerdeverfahren sei festgestellt worden, dass ein strenger Massstab anzulegen und die Mitwirkung eines Rechtsanwalts in aller Regel nicht erforderlich sei. Das müsse für das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde um so mehr gelten, als diese, anders als eine obere Aufsichtsbehörde, nicht endgültig entscheide und zudem, wie auch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, im Rahmen der Offizialmaxime dafür zu sorgen habe, dass keinem Verfahrensbeteiligten wegen Unbeholfenheit Nachteile erwüchsen. Hinzu komme, dass der Entscheid einer Vormundschaftsbehörde durch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden in deren Doppelfunktion als Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen in einem Beschwerdeverfahren selbst bei Verwirkung der Beschwerdefrist und auch ausserhalb eines solchen Verfahrens von Amtes wegen aufgehoben werden könne, wenn er als Verstoss gegen eine klare Gesetzesvorschrift oder einen Rechtsgrundsatz im wohlverstandenen Interesse des Massnahmebedürftigen nicht hingenommen werden könnte.
3.2 Die vom Obergericht erwähnte Untersuchungsmaxime und die von ihm angeführte Möglichkeit einer aufsichtsrechtlichen, von Amtes wegen anzuordnenden Aufhebung eines vormundschaftsbehördlichen Entscheids durch die Aufsichtsbehörden lassen eine anwaltliche Vertretung der am Verfahren Beteiligten nicht ohne weiteres als unnötig erscheinen (vgl. BGE 125 V 32 E. 4b S. 36): Das sachgerechte Anlegen eines jeden Verfahrens und dessen richtige Leitung erfordern von der Behörde eine umfassende Kenntnis der einschlägigen Rechtsfragen, geht es doch darum, die rechtserheblichen tatsächlichen Umstände einfliessen zu lassen. Die Erfahrung zeigt, dass ein schlecht begonnenes Verfahren später nur sehr schwer in die richtige Bahn zu bringen ist. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken, dass sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unabhängig vonBGE 130 I 180 (183) BGE 130 I 180 (184)den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (dazu BGE 128 III 411 E. 3.2.1 und 3.2.2 S. 412 ff.). An der in BGE 111 Ia 5 (E. 4 S. 9 f.) unter Hinweis auf die umfassende Beschwerdemöglichkeit geäusserten Auffassung, für das Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt vor der erstinstanzlichen vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde bestehe generell kein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, kann nicht festgehalten werden.