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Zitiert durch:
BGE 138 I 162 - Audiopädagogische Therapie
BGE 135 I 49 - Einbürgerung Behinderter
BGE 134 I 105 - Behinderungsgerechte Wohnungsausstattung
BGE 133 I 156 - Untergymnasien


Zitiert selbst:
BGE 126 II 377 - Saisonnier F. A.
BGE 129 I 12 - Schulausschluss Kt. Bern
BGE 128 I 317 - Kirchensteuer Schaffhausen


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
4. Art. 19 und Art. 62 BV werden durch die Glarner Schulgesetzgeb ...
5. Indem die Glarner (Schul-)Behörden den Beschwerdefüh ...
Erwägung 6
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server
 
30. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Schulgemeinde C. bzw. D. und Erziehungsdirektion sowie Verwaltungsgericht des Kantons Glarus (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
2P.190/2004 vom 24. November 2004
 
 
Regeste
 
Art. 8 Abs. 2, 13 Abs. 1, 19 und 62 BV; Art. 20 BehiG; Anspruch von Behinderten auf einen angemessenen Grundschulunterricht; Sonderschulung ausserhalb des Heimatkantons.
 
Eine behinderungsbedingte Nichteinschulung in die Regelschule ist qualifiziert zu rechtfertigen, kann aber mit dem Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2 BV und Art. 20 BehiG vereinbar sein; massgebend ist das Wohl des behinderten Kindes im Rahmen des effektiv Möglichen (E. 6-6.1.3).
 
Ein schwer behindertes Kind muss nicht in eine Einführungsklasse aufgenommen werden, die auf normal begabte Kinder mit verzögerter Entwicklung ausgerichtet ist (E. 4.1 und 4.2), selbst wenn seine Sonderschulung nur ausserhalb des Heimatkantons möglich sein sollte (E. 5 und 6.2).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 130 I 352 (353)X. (geb. am ... 1996) ist seit Geburt behindert (spastische Cerebralparese, Tetraspastizität bei bilateraler Schizencephalie, Makrocephalie) und leidet an einem Entwicklungsrückstand. Sowohl der Schulrat C. wie der Schulrat D. lehnten es ab, ihn in die Einführungsklasse in D. einzuschulen bzw. ihn dorthin zuzuweisen; er bedürfe mit Blick auf die Schwere seiner Behinderung einer Sonderschulung. Die beiden hiergegen gerichteten Beschwerden wies die Erziehungsdirektion des Kantons Glarus am 21. Januar 2004 ab.BGE 130 I 352 (353) BGE 130 I 352 (354)Das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus bestätigte diesen Entscheid am 29. Juni 2004.
Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde gegen den umstrittenen Einschulungsentscheid ab.
 
 
Erwägung 3
 
3.3 Schon in der Praxis zu Art. 27 Abs. 2 aBV war anerkannt, dass Behinderten ein Anspruch auf geeignete Sonderschulung zukommt (VPB 56/1992 Nr. 38 S. 291). Diese Rechtsprechung gilt unter der neuen Bundesverfassung uneingeschränkt fort. Der Anspruch aufBGE 130 I 352 (354) BGE 130 I 352 (355)Grundschulunterricht, wie er sich aus Art. 19 BV ergibt, umfasst jedoch nur ein angemessenes, erfahrungsgemäss ausreichendes Bildungsangebot an öffentlichen Schulen. Ein Mehr an individueller Betreuung, das theoretisch immer möglich wäre, kann mit Rücksicht auf das staatliche Leistungsvermögen nicht gefordert werden (BGE 129 I 12 E. 6.4 S. 20 mit Hinweis; Urteil 2P.150/2003 vom 16. September 2003, E. 4.2).
 
Erwägung 6
 
6.1 Der Beschwerdeführer beanstandet weiter, seine Zuweisung in eine Sonderschule verletze das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV). Dieses verbiete eine Ungleichbehandlung aufgrund der Behinderung ohne qualifizierte Begründung. ZudemBGE 130 I 352 (356) BGE 130 I 352 (357)berücksichtige der angefochtene Entscheid Art. 20 des Bundesgesetzes vom 13. Dezember 2002 über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz [BehiG; SR 151.3]) als ausführendes Verfassungsrecht zu wenig.
6.1.2 Entscheidend für die Erfassung durch das Diskriminierungsverbot ist die Gefahr der Stigmatisierung und des gesellschaftlichen Ausschlusses wegen körperlicher oder geistiger Anormalität; im Zentrum steht der Schutz einer unterprivilegierten Gruppe und ihrer Angehörigen (JÖRG PAUL MÜLLER, Die Diskriminierungsverbote nach Art. 8 Abs. 2 der neuen Bundesverfassung, in: Ulrich Zimmerli [Hrsg.], Die neue Bundesverfassung, Bern 2000, S. 123; derselbe, Grundrechte in der Schweiz, 3. Auflage, Bern 1999, S. 416 und 427). Diskriminierungsträchtige Ungleichbehandlungen sind "qualifiziert zu rechtfertigen"; sie dürfen nicht einfach an das Unterscheidungsmerkmal, mithin die Eigenschaft, anknüpfen, welche die diskriminierte Gruppe definiert (BGE 126 II 377 E. 6a S. 393; vgl. auch BGE 126 V 70 E. 4c S. 73; BGE I 250/03 vom 30. September 2004, E. 3.4.3; BERNHARD WALDMANN, Das Diskriminierungsverbot von Art. 8 Abs. 2 BV als besonderer Gleichheitssatz, Bern 2003, S. 741 f.). Mit Art. 8 Abs. 4 BV ist die Benachteiligung behinderter Kinder grundsätzlich unvereinbar, nicht aber ihre unterschiedliche Behandlung - etwa im schulischen Bereich - schlechthin, soll doch jedes behinderte Kind seinen intellektuellen FähigkeitenBGE 130 I 352 (357) BGE 130 I 352 (358)entsprechende Schulen besuchen können (vgl. BEATRICE LUGINBÜHL, Zur Gleichstellung der Behinderten in der Schweiz, in: Thomas Gächter/ Martin Bertschi [Hrsg.], Neue Akzente in der "nachgeführten" Bundesverfassung, Zürich 2000, S. 112).
Gemäss Botschaft zum Behindertengleichstellungsgesetz (Botschaft vom 11. Dezember 2000 zur Volksinitiative "Gleiche Rechte für Behinderte" und zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen; BBl 2001 S. 1715 ff., 1786) bleibt den Kantonen weiterhin - unter Wahrung der Interessen der behinderten Schüler - die Wahl zwischen integrierter Schulung in der Regelschule und der Sonderschulung. Ferner weist die Botschaft darauf hin, dass die Politik der Integration von behinderten Kindern ihre Grenze im Umstand finden muss, dass die Schwere der Behinderung dem Unterricht der anderen Schüler nicht ernstlich entgegenstehen darf (BBl 2001 S. 1750).
Vorab das Wohl des (behinderten) Kindes ist massgebend für den Entscheid, welche Schule in Frage kommt (vgl. CAROLINE KLEIN, La discrimination des personnes handicapées, Diss. Bern 2002, S. 56 ff.). Weder qualifiziert sich die Sonderschulung als ein Eingriff in das Recht des Kindes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, noch besteht ein Anspruch, ohne Rücksicht auf die Fähigkeiten andere Schulen am Wohnort zu besuchen, wenn dort keine Sonderschulung möglich ist, die der konkreten Behinderung entspricht (HERBERT Plotke, Schweizerisches Schulrecht, 2. Aufl., Bern 2003, S. 467 f. mit Hinweis auf BGE 117 Ia 27 E. 5b S. 30, E. 7b S. 33).
6.2 Der Beschwerdeführer rügt auch vergeblich eine Verletzung des Anspruchs auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wie dies in Art. 13 Abs. 1 BV garantiert wird: Vorliegend ist nur zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer in die Einführungsklasse in D. eingeschult werden kann, was nach dem bisher Gesagten zu verneinen ist. Ob daraus zwingend folgt, eine Einschulung sei lediglich in der speziellen CP-Schule in F. möglich, bleibt aufgrund der Vernehmlassung des Verwaltungsgerichts unklar; danach betreibt das Heilpädagogische Zentrum Glarnerland mit seinen Schulen in D. und G. Institutionen, die sich für mehrfach behinderte Kinder eignen würden. Es kann indes offen gelassen werden, ob der Beschwerdeführer allenfalls in diesem Zentrum oder nur in F. eingeschult werden kann. Das Verwaltungsgericht bestreitet insoweit eine Behauptung des Beschwerdeführers, die er in der vorliegenden Eingabe erstmals im Zusammenhang mit einer angeblichen Verletzung von Art. 13 Abs. 1 BV vorbringt. Selbst wenn einzig eine Einschulung ausserhalb des Kantons Glarus - offenbar in F. - möglich sein sollte, was mit einer Trennung des Kindes von den Eltern verbunden wäre und für diese gewisse Kosten zur Folge hätte, verletzte dies Art. 13 Abs. 1 BV nicht. Das Verwaltungsgericht hat - entgegen den Einwänden des Beschwerdeführers - nicht das angebliche Sparinteresse der Schulbehörde, sondern dessen Wohl und Interesse als entscheidendes Kriterium berücksichtigt. Auch wenn eine Einschulung in F. für die Eltern und das Kind sicher nicht leicht zu tragen wäre, erschiene ein Eingriff in den Schutzbereich des Familienlebens dennoch verhältnismässig (Art. 36 Abs. 3 BV). Im Übrigen besteht kein grundsätzlicher Anspruch auf Sonderschulung am Wohnort.BGE 130 I 352 (359)