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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 3
Erwägung 4
Erwägung 5
6. Die Lehre äussert sich zur Belastung des Nachlasses bzw.  ...
Erwägung 7
8. Die Beschwerde ist gutzuheissen und das angefochtene Urteil au ...
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14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Generalprokurator sowie Obergericht des Kantons Bern (Staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
1P.139/2006 vom 15. Mai 2006
 
 
Regeste
 
Art. 127 Abs. 1 BV, Art. 389 Ziff. 5 und Art. 390 Abs. 1 Ziff. 2 StrV/BE; Kosten der Strafuntersuchung, Haftung des Nachlasses, Legalitätsprinzip.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 132 I 117 (117)Y. erhängte sich in der Nacht vom 28./29. August 2004 in der Strafanstalt. Er war beschuldigt worden, am 28. Februar 2002 seineBGE 132 I 117 (117) BGE 132 I 117 (118)Ehefrau und seine beiden Kinder getötet zu haben, und deswegen des mehrfachen Mordes angeklagt. Die Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht VIII Bern-Laupen hätte am 18. Oktober 2004 beginnen sollen.
Mit Verfügung vom 22. August 2005 stellte das Kreisgericht das Strafverfahren ein (Keine-Folge-Gebung) und auferlegte die Kosten der Voruntersuchung (Fr. 30'260.-) und des Kreisgerichts (Fr. 300.-) dem Nachlass von Y. sel. Es stellte das Honorar dessen amtlichen Verteidigers von Fr. 18'214.30 (Anspruch gegenüber dem Kanton Bern im Falle der Nichterhältlichkeit: Fr. 12'403.90) unter den "Vorbehalt der gesetzlichen Rück- und Nachzahlungspflichten", d.h. der Pflicht zur Rückzahlung des Honorars gegenüber dem Kanton und zur Nachzahlung der Differenz zum vollen Honorar gegenüber dem amtlichen Verteidiger bei wirtschaftlicher Zumutbarkeit innerhalb von zehn Jahren.
Das Obergericht des Kantons Bern hiess die Appellation der Schwester und Alleinerbin des Verstorbenen, X., teilweise gut, indem es die Rück- und Nachzahlungspflicht für das Honorar des amtlichen Verteidigers aufhob. Im Übrigen bestätigte es die Verfügung des Kreisgerichts.
X. führt dagegen staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil des Obergerichts hinsichtlich der Kostenauflage an den Nachlass (Kosten der Strafuntersuchung und des Kreisgerichts) sowie der Kosten- und Entschädigungsfolgen des Verfahrens vor Obergericht aufzuheben und die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
 
Erwägung 2
 
    Art. 309 Abs. 2 (Inhalt des Urteils)
    Liegen im Zeitpunkt der Beurteilung die Voraussetzungen der Strafverfolgung nicht vor oder wird von der Strafverfolgung in Anwendung von Artikel 4 abgesehen, ist im Urteil darauf zu erkennen, dass dem Verfahren keine weitere Folge gegeben wird.
    Art. 389 (Kostentragung durch den Kanton)
    In den nachstehend genannten Fällen trägt unter Vorbehalt von Artikel 390 der Kanton die VerfahrenskostenBGE 132 I 117 (118)
    BGE 132 I 117 (119)1. bei Nichteintreten auf eine Anzeige (Art. 227),
    2. bei Nichteröffnung (Art. 228),
    3. bei Aufhebung der Strafverfolgung (Art. 250 Abs. 2),
    4. bei Freispruch (Art. 309 Abs. 1),
    5. wenn dem Verfahren keine weitere Folge gegeben wird (Art. 309 Abs. 2).
    Art. 390 Abs. 1 (Anderweitige Kostentragung)
    In Fällen gemäss Artikel 389 können die Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegt werden
    1. der Privatklägerschaft sowie den einen Strafantrag stellenden oder eine Anzeige einreichenden Personen, sofern diese mutwillig oder grobfahrlässig gehandelt haben;
    2. der angeschuldigten Person, sofern diese in rechtlich vorwerfbarer Weise das Verfahren veranlasst oder so dessen Durchführung erschwert hat.
Nach dem Obergericht entsprechen diese Erwägungen der neuen Berner Gerichtspraxis, die eingeleitet wurde mit den Urteilen des Wirtschaftsstrafgerichts vom 11. Dezember 2002 und des Kassationshofs vom 18. August 2003 (beide zusammengefasst in: ZBJV 140/2004 S. 762 ff.; im Folgenden auch: Praxisänderung 2002/03). Entscheidend sei, ob die Kosten des Strafverfahrens eine Verbindlichkeit des Angeschuldigten wie jede andere zu dessen LebzeitenBGE 132 I 117 (119) BGE 132 I 117 (120)entstandene Schuld darstellen und damit im Todesfall ein Bestandteil des Nachlasses würden. Dazu stellt das Obergericht in der Sache aber keine eigenen Erwägungen an.
 
Erwägung 3
 
In BGE 109 Ia 160 hob das Bundesgericht eine Kostenauflage zu Lasten des Nachlasses des Angeschuldigten wegen einer Verletzung der Unschuldsvermutung auf. Dieses Urteil ist für den vorliegenden Fall nicht einschlägig, da keine Verletzung der Unschuldsvermutung zu beurteilen ist; zudem sieht das Berner Recht - anders als das damals beurteilte Luzerner Recht - die Kostenauflage an den Nachlass nicht ausdrücklich vor.
 
Erwägung 4
 
BGE 132 I 117 (120)
BGE 132 I 117 (121)4.2 Bei den Kosten eines Strafverfahrens handelt es sich wie bei den Gerichtskosten (BGE 120 Ia 171 E. 2a) um Kausalabgaben (Urteil 1P.464/2005 vom 10. November 2005, E. 3.2). Nach der Rechtsprechung bedürfen öffentliche Abgaben der Grundlage in einem formellen Gesetz. Darin müssen zumindest der Kreis der Abgabepflichtigen, der Gegenstand und die Bemessungsgrundlagen der Abgabe festgelegt sein. Bei gewissen Arten von Kausalabgaben hat die Rechtsprechung diese Vorgaben für die Abgabenbemessung gelockert: Dies gilt namentlich dort, wo das Mass der Abgabe durch überprüfbare verfassungsrechtliche Prinzipien (Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip) begrenzt wird und nicht allein der Gesetzesvorbehalt diese Schutzfunktion erfüllt (BGE 130 I 113 E. 2.2). Einer solchen Lockerung zugänglich sind grundsätzlich auch Vorschriften über Verfahrenskosten (BGE 120 Ia 171 E. 2a). Die mögliche Lockerung betrifft in diesen Fällen aber stets nur die formellgesetzlichen Vorgaben zur Bemessung, nicht die Umschreibung des Kreises der Abgabepflichtigen und des Gegenstandes der Abgabe (BGE 123 I 248 E. 2; ADRIAN HUNGERBÜHLER, Grundsätze des Kausalabgabenrechts, in: ZBl 104/2003 S. 516).
 
Erwägung 5
 
Die übrigen Lehrmeinungen orientieren sich an jenen Kantonen, die die Kostenauflage an den Nachlass gesetzlich ausdrücklich vorschreiben, und sind daher nicht einschlägig (ROBERT HAUSER/ERHARD SCHWERI/KARL HARTMANN, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 108 Rz. 29; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge desBGE 132 I 117 (122) BGE 132 I 117 (123)Strafprozessrechts, 2. Aufl., Bern 2005, Rz. 1814 zu Art. 262 Abs. 2 [recte Art. 264] StPO/SG; THOMAS HANSJAKOB, Kostenarten, Kostenträger und Kostenhöhe im Strafprozess, Diss. St. Gallen 1988, S. 297 ff.).
Das auf den 1. Januar 1997 in Kraft getretene neue Strafverfahrensgesetz brachte in dieser Frage keine Änderung (vgl. Art. 200 Abs. 1 und 3 des Gesetzes von 1928, abgedruckt bei STAUB, a.a.O., S. 490). Erst die Praxisänderung 2002/03 ermöglichte eine Kostenauflage an den Nachlass bei Verfahrenseinstellung, weil der nicht verurteilte Angeschuldigte gestorben ist und diesem ein Veranlassen oder Erschweren des Strafverfahrens im Sinne von Art. 390 Abs. 1 Ziff. 2 StrV/BE hätte vorgeworfen werden können.
    "Erfolgt die Aufhebung zufolge Todes des Angeschuldigten, so können die Verfahrenskosten nicht etwa den Erben auferlegt werden. Die zürch. Rechtsprechung (...) hat dies allerdings als möglich erachtet, indem sie davon ausgeht, dass die Kostenauflage an den Angeschuldigten, der das Verfahren durch schuldhafte Erregung von Verdachtsgründen veranlasst habe, keine Straffolge sei, sondern auf einem selbständigen Rechtsgrund beruhe; der bezügliche Kostenanspruch des Staates sei schon zu Lebzeiten des Angeschuldigten entstanden, durch das Verhalten des Angeschuldigten begründet worden, nur seine gerichtliche Feststellung erfolge nach dem Tode. Diese Gesetzesauslegung ist gekünstelt und würde eine Rechtsnachfolge der Erben in die Prozessstellung des Angeschuldigten voraussetzen."BGE 132 I 117 (123)
BGE 132 I 117 (124)6.4 Das Wirtschaftsstrafgericht hält dem entgegen, man müsse sich vom Gedanken lösen, die Kostenpflicht des freigesprochenen oder aus anderen Gründen (Tod, Verjährung) aus dem Verfahren entlassenen Angeschuldigten habe irgendwie mit der Haftung für strafrechtliches Verschulden zu tun. Vielmehr handle es sich dabei um eine zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherte Haftung für ein fehlerhaftes Verhalten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet verliere die Ansicht von WAIBLINGER an Überzeugungskraft, denn die Kostenauflage an die Erben setze unter diesen Bedingungen keine Nachfolge in die Prozessstellung des Angeschuldigten voraus, sondern lasse sich mit erbrechtlichen Überlegungen begründen. Die dem Angeschuldigten wegen Verletzung zivilrechtlicher Normen aufzuerlegenden Verfahrenskosten gingen eo ipso auf die Erben über, da sie von der Universalsukzession gemäss Art. 560 ZGB erfasst würden und die Erben des Urhebers einer unerlaubten Handlung auch dann hafteten, wenn der Schaden erst nach dessen Tod eingetreten sei (ZBJV 140/2004 S. 765).
 
Erwägung 7
 
7.2 Die Darlegungen der Berner Gerichte treffen zu, wonach die Kostenauflage an einen nicht verurteilten Angeschuldigten mit einem strafrechtlichen Schuldvorwurf unzulässig sei. Dies würde nach der Rechtsprechung die Unschuldsvermutung verletzen (BGE 116 Ia 162 E. 2e). Damit ist allerdings für die Frage nichts gewonnen, ob das Legalitätsprinzip es zulässt, mit den Vorschriften über die Kostentragung des Angeschuldigten eine Forderung gegen seinen Nachlass zu begründen. Im unpublizierten Teil seines Urteils vom 18. August 2003 räumt der Kassationshof ein, eine direkte Kostenauflage an die Erben (im Gegensatz zur Belastung des Nachlasses) wäre vom Wortlaut des Strafverfahrensgesetzes nicht gedeckt. Der Kassationshof begründet nicht, wieso er die Erben und den Nachlass unterschiedlich behandeln will; möglicherweise beabsichtigt er damit eine Haftungsbegrenzung auf die Höhe der Erbschaft (HANSJAKOB, a.a.O., S. 301) oder ein Verbot der Kostenauflage im Falle der Erbausschlagung. Im Ergebnis führt die Verpflichtung des Nachlasses gleichwohl zu einer Haftung der Erben, weshalb die Sonderbehandlung des Nachlasses nicht einleuchtet.BGE 132 I 117 (124)
BGE 132 I 117 (125)7.3 Die Kostenverfügung erging rund ein Jahr nach dem Tod des Angeschuldigten. Es fragt sich, ob vor dieser Verfügung, zu Lebzeiten des Angeschuldigten, eine Forderung des Staates gegenüber dem Angeschuldigten auf Bezahlung der Strafuntersuchungskosten begründet wurde, die nach den zitierten Lehrmeinungen (E. 5.1) mit dessen Tod allenfalls auf die Alleinerbin überging.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Strafverfahrenskosten nicht gleichmässig entsprechend dem Zeitverlauf wachsen, sondern unter anderem davon abhängen, welche Untersuchungshandlungen durchgeführt werden; sie können je nach Gang des Verfahrens unterschiedlich ausfallen. Sodann sieht das kantonale Gesetz keine automatische Haftung des Angeschuldigten vor; eine Kostenpflicht entsteht nur im gerichtlich zu beurteilenden Ausnahmefall. Liegen dafür die Voraussetzungen vor, kann schliesslich das Gericht den Angeschuldigten allenfalls auch bloss zur Bezahlung eines Teils der Verfahrenskosten verpflichten (Art. 390 Abs. 1 Ziff. 2 StrV/BE).
Daraus wird deutlich, dass bis zum gerichtlichen Kostenentscheid weder die Zahlungspflicht als solche noch der allfällige Forderungsbetrag feststehen. Die Pflicht zur Kostentragung entsteht somit durch die entsprechende Verfügung; diese wirkt nicht feststellend, sondern rechtsgestaltend.
Im Rechtsverhältnis zwischen dem Staat und dem Angeschuldigten ist keine Kostenforderung entstanden; als die Kostenverfügung erging, war die Rechtspersönlichkeit des Angeschuldigten durch Tod bereits untergegangen (Art. 31 Abs. 1 ZGB). Daher ist ein Rechtsübergang vom Angeschuldigten auf die Alleinerbin ausgeschlossen. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich die Zahlungspflicht nicht mit einer allfälligen Analogie zur Steuernachfolge oder zur erbrechtlichen Universalsukzession begründen.
Da es sich um sein Vermögensinteresse handelt (Art. 156 Abs. 2 OG; BGE 97 I 329 E. 6), trägt der Kanton Bern als unterliegende Partei die Kosten (Art. 156 Abs. 1 OG). Zudem hat er der obsiegenden Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).BGE 132 I 117 (126)