24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde Lindau gegen Kantonsrat und Regierungsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
1C_11/2010 vom 27. August 2010 | |
Regeste | |
Art. 29 Abs. 2 und Art. 50 BV, Art. 85 KV/ZH, Art. 82 lit. b und Art. 89 BGG, Art. 4 und 9 f. RPG; Rechtsmittel gegen den kantonalen Richtplan, Mitwirkung der Gemeinde im Richtplanverfahren.
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Autonomie der Zürcher Gemeinden im Bau- und Planungsrecht (E. 2).
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Anspruch der Gemeinden auf Anhörung und Mitwirkung im Richtplanverfahren (E. 3.2). Der Kantonsrat verletzte das Mitwirkungsrecht der Gemeinde, weil er ihren Einwand, der notwendige Bahnanschluss sei nicht während der gesamten Abbauzeit der Kiesgrube gesichert, nicht prüfte (E. 3.3).
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Sachverhalt | |
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B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, eventuell subsidiärer Verfassungsbeschwerde, vom 11. Januar 2010 beantragt die politische Gemeinde Lindau, der Beschluss des Kantonsrats vom 24. November 2009 sei bezüglich der Festsetzung der Kiesgrube Tagelswangen aufzuheben. (...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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(Auszug)
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Erwägung 1 | |
1.2 Richtpläne unterliegen der Genehmigung durch den Bundesrat (Art. 11 RPG). Für den Bund und die Nachbarkantone werden Richtpläne erst mit dieser Genehmigung verbindlich (Art. 11 Abs. 2 RPG). Daraus ergibt sich e contrario, dass die bundesrätliche Genehmigung im Bereich innerkantonaler Fragen deklaratorisch wirkt. Insofern unterscheiden sich die Rechtswirkungen der Genehmigung des Richtplans von jenen der Genehmigung eines Nutzungsplans (vgl. Art. 26 ![]() ![]() | |
1.3 Richtpläne sind nach Art. 9 Abs. 1 RPG für Behörden verbindlich. Gemeinden, die sich durch einen kantonalen Richtplan in ihrer Autonomie verletzt fühlen, können ihn gestützt auf Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG vor dem Hintergrund der bisherigen Rechtsprechung direkt und unter Umständen auch akzessorisch anfechten (BGE 119 Ia 285 E. 3b S. 290 und E. 4a S. 293 f.; BGE 111 Ia 129 E. 3c und d S. 130 f.; KIENER, a.a.O., S. 240; AEMISEGGER/SCHERRER, a.a.O., N. 38 zu Art. 82 BGG; AEMISEGGER, a.a.O., N. 28 zu Art. 34 RPG). Die Gemeinde wird durch die umstrittene Richtplanfestsetzung insbesondere als Trägerin der kommunalen Richt- und Nutzungsplanung (§§ 31 f. und 45 PBG/ZH) sowie als Baubewilligungsbehörde (§ 318 PBG/ZH) in ihren hoheitlichen Befugnissen betroffen. Damit ist sie nach Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG berechtigt, unter Berufung auf Art. 50 Abs. 1 BV und Art. 85 KV/ZH (SR 131.211) Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie zu erheben (BGE 135 I 302 E. 1.1 S. 304 mit Hinweisen). Ob ihr die beanspruchte Autonomie tatsächlich zukommt, ist eine Frage der materiellen Beurteilung (BGE 135 I 43 E. 1.2 S. 45 mit Hinweisen).
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1.4 Zudem kann sich die Beschwerdeführerin auf die allgemeinen Legitimationsbestimmungen von Art. 89 Abs. 1 lit. b und c BGG berufen. Dieses allgemeine Beschwerderecht ist grundsätzlich auf Privatpersonen zugeschnitten. Gemeinwesen können es für sich in Anspruch nehmen, wenn sie durch die angefochtene Verfügung gleich oder ähnlich wie Private betroffen sind (BGE 135 I 43 E. 1.3 S. 47; BGE 135 II 156 E. 3.1 S. 157; je mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung kann jedoch ein Gemeinwesen auch zur Beschwerde legitimiert sein, wenn es durch den angefochtenen Entscheid in seinen hoheitlichen Befugnissen und Aufgaben berührt wird. Die Gemeinden sind mithin zur Beschwerdeführung befugt, wenn sie als Gebietskorporationen öffentliche Anliegen wie den Schutz der Einwohner zu ![]() ![]() | |
Erwägung 2 | |
2.1 Nach der Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder Vollzug eigener kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Der Schutz der Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet, sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich anwendbaren kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht (BGE 135 I 233 E. 2.2 S. 241 f.; BGE 129 I 290 E. 2.1 S. 294; je mit Hinweisen).
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2.2 Nach Art. 85 KV/ZH regeln die Gemeinden ihre Angelegenheiten selbstständig. Das kantonale Recht gewährt ihnen möglichst weiten Handlungsspielraum. Der Kanton berücksichtigt die möglichen Auswirkungen seines Handelns auf die Gemeinden, die Städte und auf die Agglomerationen (Art. 85 Abs. 2 KV/ZH). Er hört die Gemeinden rechtzeitig an (Art. 85 Abs. 3 KV/ZH). Verfassungsmässige Schranken bei der Umschreibung der Gemeindeautonomie durch die kantonale Gesetzgebung sind für den hier betroffenen Bereich nicht ersichtlich und auch nicht vorgebracht. Die Autonomie der ![]() ![]() | |
2.3 Eine in ihrer Autonomie betroffene Gemeinde kann unter anderem geltend machen, die kantonale Behörde habe die Tragweite von verfassungsmässigen Rechten missachtet. Sie kann sich auf das Willkürverbot und auf Verfahrensgrundrechte berufen, soweit diese Vorbringen mit der behaupteten Rüge der Autonomieverletzung in engem Zusammenhang stehen. Die Anwendung von eidgenössischem und kantonalem Verfassungsrecht prüft das Bundesgericht mit freier Kognition, die Handhabung von Gesetzes- und Verordnungsrecht unter dem Gesichtswinkel des Willkürverbots. Das Bundesgericht auferlegt sich Zurückhaltung, soweit die Beurteilung der Streitsache von einer Würdigung der örtlichen Verhältnisse abhängt, welche die kantonalen Behörden besser überblicken (BGE 135 I 302 E. 1.2 S. 305 mit Hinweisen).
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2.4 Im vorliegenden Fall wird die Autonomie der Beschwerdeführerin nicht dadurch tangiert, dass ein kommunaler Erlass im Genehmigungsverfahren oder eine Verfügung der Gemeinde in Anwendung von kommunalem, kantonalem oder eidgenössischem Recht in einem Rechtsmittelverfahren aufgehoben worden wäre. Die Beschränkung beruht vielmehr auf einer im Verfahren der Richtplanung ergangenen Anordnung des Kantonsrats (vgl. BGE 119 Ia 285 E. 4c S. 295 mit Hinweisen). Nach der bundesgerichtlichen Praxis kann der kantonale Gesetzgeber durch Gesetzesänderung die von ihm einmal gezogenen Schranken der Autonomie nachträglich enger ziehen, solange nicht irgendwelche unmittelbar durch die Verfassung gewährleisteten Befugnisse oder Anforderungen berührt werden. Gleiches gilt für Autonomiebeschränkungen, die sich durch Erlass oder Änderung der kantonalen Richtplanung ergeben (BGE 119 Ia 285 E. 4c S. 295 mit Hinweisen). Wird eine Gemeinde in dieser Weise durch eine kantonale Anordnung in ihrer Autonomie eingeschränkt, so kann sie insbesondere verlangen, dass die kantonale Behörde in ![]() ![]() | |
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Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt sich zudem insbesondere das Recht der Betroffenen, sich vor Erlass eines Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann (BGE 135 II 286 E. 5.1 S. 293; BGE 132 II 485 E. 3.2 S. 494; BGE 127 I 54 E. 2b S. 56; BGE 117 Ia 262 E. 4b S. 268; je mit Hinweisen).
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Solche Mitwirkungsrechte sind den Gemeinden in Bezug auf Richtplanfestsetzungen, die auf eine Beschränkung ihrer Autonomie in der Raumplanung ausgerichtet sind, umfassend zu gewähren. Die Stellungnahmen sind in einem Zeitpunkt einzuholen, in welchem sie noch in die Entscheidungen einfliessen können. Zwar besteht kein Anspruch der Gemeinden, dass ihre Vorschläge tatsächlich berücksichtigt werden. Die kantonale Behörde hat sich jedoch mit den Vorschlägen der Gemeinden - wie der übrigen Vernehmlassungsteilnehmer - auseinanderzusetzen und zu begründen, weshalb sie nicht berücksichtigt werden (JAAG, a.a.O., N. 22 f. zu Art. 85 KV/ZH).
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3.3 Die umstrittene Richtplanfestsetzung betrifft die Gemeinde konkret in ihrer planerischen Entscheidungsfreiheit und Entwicklungsmöglichkeit. Die Realisierung des Kiesabbaus setzt nach dem Wortlaut der umstrittenen Festsetzung einen Anschluss an die Bahngeleise voraus, welcher nach den Akten mittels Vereinbarung mit den SBB nur bis ins Jahr 2016 gesichert ist. Für den weiteren Kiesabbau, dessen Dauer im Richtplan nicht näher festgelegt wird, steht nicht fest, ob der Gleisanschluss weiterbenutzt werden kann. Insbesondere wurde der Teilplan Verkehr des Richtplans nicht an die hier umstrittene Änderung des Teilplans Ver- und Entsorgung angepasst. Die Gemeinde Lindau macht zu Recht geltend, sie sei zu einer entscheidenden Besprechung des Kantons mit den SBB und dem Kiesabbau-Unternehmen nicht beigezogen worden und sie sei mit ihrem Argument, der Abtransport mit der Bahn sei nach 2016 nicht gesichert, nicht gehört worden. Selbst wenn die Sachverhaltsdarstellung der kantonalen Behörden zutreffen sollte, nach welcher der Kiesabbau 20 und nicht 50 Jahre, d.h. lediglich von 2012 bis ca. 2032 dauern werde, so ergibt sich für die Jahre 2017 bis ca. 2032 in Bezug auf den Gleisanschluss für die Kiesgrube offensichtlich ein Koordinationsbedarf in Bezug auf die Weiterentwicklung der Bahninfrastruktur, welchem der Kantonsrat mit dem angefochtenen Beschluss keine Rechnung trägt. Er hat sich mit dem möglichen Fehlen des Bahnanschlusses während eines erheblichen Teils der Kiesabbaudauer nicht auseinandergesetzt und die diesbezüglichen Einwände der Gemeinde gegen die Festsetzung des Kiesabbaugebiets nicht entkräftet. Darin liegt eine Missachtung der Mitwirkungsrechte der Gemeinde im Richtplanungsverfahren. Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und die Richtplanfestsetzung in Bezug auf die umstrittene Kiesgrube aufzuheben. ![]() |