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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Das Bundesgericht nimmt gegenüber dem Entscheid der kanto ...
Erwägung 3
Erwägung 3.2
Erwägung 4
Erwägung 4.2
Erwägung 4.3
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40. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde Wetzikon gegen X. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
1C_66/2010 vom 6. September 2010
 
 
Regeste
 
Art. 9 und 50 BV, Art. 85 KV/ZH; Gemeindeautonomie bei der Auslegung von Zonenvorschriften.
 
Autonomie der Gemeinde bei der Auslegung des kantonalrechtlichen Begriffs des mässig störenden Betriebs (E. 3).
 
Der Entscheid der Gemeinde, die Nutzung einer Liegenschaft für Freitodbegleitungen in einer primär der Wohnnutzung gewidmeten Zone sei mehr als nur mässig störend, ist vertretbar. Die blosse Vorstellung darüber, was im Innern eines benachbarten Gebäudes vor sich geht, ist bei der Beurteilung der Immissionen zu berücksichtigen. Die Aufhebung des kommunalen Entscheids durch das kantonale Verwaltungsgericht verletzte die Gemeindeautonomie und das Willkürverbot (E. 4).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 136 I 395 (396)A. Am 15. Dezember 2008 stellte X. ein Gesuch um baurechtliche Bewilligung für die Änderung der Nutzung der bisherigen Werkstatt- und Büroräume im Erdgeschoss der Liegenschaft Talstrasse 9 in Wetzikon. Die Liegenschaft befindet sich in der Wohnzone mit Gewerbeerleichterung "WG 2.9". Laut Baugesuch sollen die Räume neu durch den Verein "Y." zur Durchführung von Freitodbegleitungen für seine Mitglieder genutzt werden. Mit Beschluss vom 11. März 2009 verweigerte die Baukommission Wetzikon die Bewilligung mit der Begründung, die vorgesehene Nutzung sei nicht zonenkonform.
Einen gegen diesen Beschluss eingelegten Rekurs wies die Baurekurskommission III des Kantons Zürich am 8. Juli 2009 ab. Daraufhin erhob X. Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. Dieses hiess das Rechtsmittel teilweise gut und lud die Baukommission Wetzikon ein, die Bewilligung der beantragten Nutzung unter Erlass der gebotenen Nebenbestimmungen zu erteilen.
B. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht vom 29. Januar 2010 (...) beantragt die politische Gemeinde Wetzikon, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und die Bewilligungsverweigerung sei zu bestätigen. Eventualiter sei die Sache an die Baukommission Wetzikon zur Beurteilung des Ausmasses der Einwirkung des streitbetroffenen Betriebs zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 2. Dezember 2009 auf und verweigert die ihm zugrunde liegende Baubewilligung. Es weist die Angelegenheit zu neuem Entscheid im Kostenpunkt an das Verwaltungsgericht zurück.
(Auszug)
 
BGE 136 I 395 (396) BGE 136 I 395 (397)Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 3
 
 
Erwägung 3.2
 
    Mässig störende Betriebe sind gestattet, wo die Bau- und Zonenordnung sie zulässt; stark störende und solche, die unverhältnismässigen Verkehr auslösen, sind unzulässig.
Wie erwähnt, kann der Gemeinde bei der Anwendung des kantonalen Rechts eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zustehen. Dies trifft dann zu, wenn der erstinstanzliche Vollzug der kantonalen Bestimmung der Gemeinde übertragen ist und zudem die Art der zu regelnden Materie für ein kommunalesBGE 136 I 395 (398) BGE 136 I 395 (399)Selbstbestimmungsrecht Raum lässt. Diese Voraussetzung ist vorliegend, wo örtliche Interessen im Vordergrund stehen und eine sinnvolle Aufgabenerfüllung auf lokaler Ebene ermöglicht werden soll, erfüllt (vgl. BGE 119 Ia 214 E. 3b S. 219; Urteil 1P.9/1997 vom 21. Mai 1997 E. 2c, in: ZBl 99/1998 S. 170; je mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin verfügt somit bei der Auslegung des (von § 52 Abs. 3 PBG/ZH vorgegebenen und von Art. 5 Abs. 2 BZO übernommenen) Begriffs des mässig störenden Betriebs und damit bei der Beurteilung der Zonenkonformität des umstrittenen Bauvorhabens über Autonomie.
 
Erwägung 4
 
 
Erwägung 4.2
 
BGE 136 I 395 (400)Die geplante Nutzung bewirke eine leichte, keinesfalls aber eine erhebliche Einwirkung auf das psychische Wohlbefinden der Anwohner. Dafür sprächen auch die unbestritten gebliebenen Ausführungen des Baugesuchstellers, wonach in Schwerzenbach, wo die Freitodbegleitungen von November 2007 bis Juni 2009 durchgeführt worden seien, der Betrieb nach anfänglichem Presserummel kein Aufsehen mehr erregt habe. Weiter sei zu berücksichtigen, dass sich die Freitodbegleitungen im Innern des Gebäudes abspielten. Die getroffenen Vorkehren, wie insbesondere der Abtransport der Särge durch neutrale Fahrzeuge direkt aus der Garage, seien geeignet, das Konfliktpotenzial zusätzlich herabzusetzen. Unter diesen Umständen würde die Nutzung auch durch Kinder, welche den nahe gelegenen Kindergarten besuchten, gar nicht zur Kenntnis genommen.
 
BGE 136 I 395 (401)Erwägung 4.3
 
    In den Wohnzonen mit Gewerbeerleichterung (WG 2.9 und WG 3.3) ist mässig störendes Gewerbe zulässig. Der Anteil für Wohn- und/oder Gewerbenutzung ist nicht beschränkt.
Dass diese Bestimmung neben materiellen auch immaterielle (ideelle) Immissionen erfasst, ist unbestritten. Immaterielle oder ideelle Immissionen sind Einwirkungen, die das seelische Empfinden verletzen bzw. unangenehme psychische Eindrücke erwecken. Wenn ein Betrieb zur Folge hat, dass die Umgebung unsicher, unästhetisch oder sonst wie unerfreulich wirkt, so kann dies die Attraktivität einer Gegend für Geschäfte und Wohnungen beeinträchtigen. Dabei liegt es im Wesen des Immissionsrechts, dass es nicht anders geregelt werden kann als mit dem weiten Begriff der übermässigen Einwirkung. In jedem konkreten Fall muss festgestellt werden, was anhand der gegebenen Umstände als übermässige Einwirkung anzusehen ist (vgl. BGE 108 Ia 140 E. 5c S. 143 ff.; Urteil 1C_262/2007 vom 31. Januar 2008 E. 3.4; je mit Hinweisen).
4.3.4 Im vorliegenden Fall ist eine Zone betroffen, welche in erster Linie der Wohnnutzung gewidmet ist, auch wenn mässig störendes Gewerbe zulässig und der Anteil der Gewerbenutzung nicht beschränkt ist (Art. 5 Abs. 2 BZO). Die fragliche Liegenschaft befindet sich zudem in unmittelbarer Nachbarschaft eines Kindergartens und in der näheren Umgebung einer Alterssiedlung und einer Berufsschule. Die Baukommission erwog, dass das Erfahren einer Selbsttötung schon im Einzelfall belastend sei. Erst recht treffe das zu, wenn die Selbsttötung in einer benachbarten Liegenschaft fast täglich stattfinde. Dies gelte ganz unabhängig davon, welche Haltung man zur Sterbehilfe im Allgemeinen einnehme. Diese Argumentation und der daraus gezogene Schluss, dass die beantragte Nutzung am fraglichen Ort mehr als nur mässig störend sei, ist durchaus vertretbar. Zwar hält das Verwaltungsgericht die befürchteten Auswirkungen für übertrieben, da die umstrittene Nutzung im Verborgenen stattfinde. Damit setzt es sich jedoch in Widerspruch zu der andernorts gemachten und zutreffenden Feststellung, wonach auch solche Einwirkungen auf das psychische Wohlbefinden zu berücksichtigen sind, die aus der blossen Vorstellung darüber entstehen, was im Innern eines benachbarten Gebäudes vor sich geht, mithin aus dem Wissen um verborgene Vorgänge. Auch wenn die Zufahrt zur Liegenschaft, die Sterbebegleitung selbst und der Wegtransport der Leichen mit grösstmöglicher Diskretion ablaufen, so ist nachvollziehbar, dass bei den Bewohnern ein Gefühl des Unbehagens ausgelöst wird. Daran vermag auch nichts zu ändern, dass gemäss den Ausführungen des Beschwerdegegners im vorinstanzlichen Verfahren Freitodbegleitungen in Schwerzenbach nach anfänglichem Presserummel ohne weiteres Aufsehen erfolgt sein sollen. Nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen der Beschwerdeführerin handelte es sich nämlich beim damaligen Standort um eine Industriezone mit Wohnverbot. Auch aus dem Umstand, dass in der Zentrumszone B (wo gemäss Art. 13 Abs. 1 BZO ebenfalls nur mässig störende Betriebe zulässig sind) Betriebe des Sexgewerbes ansässig sind, ergibt sich nichts anderes. Die Nutzweise jener Zone istBGE 136 I 395 (402) BGE 136 I 395 (403)von der vorliegend betroffenen verschieden; gemäss Art. 13 Abs. 1 BZO sind in den Zentrumszonen Wohnungen, Büros, Praxen, Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Verwaltungen sowie höchstens mässig störende Betriebe zulässig. Es hält deshalb vor dem Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV) stand, wenn in der Wohnzone mit Gewerbeerleichterung als übermässig störend eingestuft wird, was in der Zentrumszone noch als akzeptabel erscheint. Damit kann offenbleiben, inwiefern sich ein Betrieb des Sexgewerbes hinsichtlich seiner immateriellen Immissionen von der Freitodbegleitung unterscheidet.