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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
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23. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
1B_407/2010 vom 4. Mai 2011
 
 
Regeste
 
Art. 29, 30 Abs. 1 und Art. 191c BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Ablehnung der Mitglieder einer Strafkammer des Obergerichts im Berufungsverfahren.
 
Es bestehen keine Anhaltspunkte für den Anschein der Befangenheit bei den übrigen Mitgliedern der Strafkammer (E. 2.5). Eine Gerichtspraxis, die den Anforderungen an den verfassungsmässigen Richter und die richterliche Unabhängigkeit nicht entspricht, kann den Anschein der Befangenheit aller Mitglieder eines Spruchkörpers begründen (E. 2.6.4).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 137 I 227 (228)A. X. wurde vom Bezirksgericht Zürich (...) mehrerer Vermögensdelikte für schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 17 Monaten und 15 Tagen verurteilt. Der Verurteilte gelangte gegen dieses Urteil mit Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich. Dieses räumte dem amtlichen Verteidiger von X. eine Frist ein, um allfällige Beweisanträge zu stellen und zu begründen, worauf dieser mit Eingabe vom 14. Juni 2010 Beweisanträge stellte. In der Folge schrieb der Vorsitzende der I. Strafkammer des Obergerichts, Vizepräsident Peter Marti, am 29. Juni 2010 dem Verteidiger einen Brief, worin er eine Beurteilung der Sach- und Rechtslage abgab und den Verteidiger ersuchte, mit seinem Klienten ernsthaft einen Rückzug der Berufung wegen schlechter Erfolgsaussichten zu diskutieren. Der Verteidiger antwortete mit Schreiben vom 23. August 2010, dass an der Berufung festgehalten werde. Mit Schreiben vom 24. August 2010 teilte Oberrichter Marti dem Verteidiger mit, dass er die Aufrechterhaltung der Berufung zur Kenntnis nehme und am weiteren Verfahren nicht mitwirken werde.
Mit Eingabe vom 26. August 2010 stellte X. den Antrag, dass der Vorsitzende sowie sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts im Berufungsverfahren wegen des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu treten haben. Die Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer gaben - mit Ausnahme von Oberrichter Marti - gewissenhafte Erklärungen ab, dass sie nicht befangen seien. Mit Beschluss vom 3. November 2010 bewilligte das Gesamtgericht des Obergerichts ohne Mitwirkung der Mitglieder der I. Strafkammer den Ausstand von Oberrichter Marti für das Berufungsverfahren. Das Ablehnungsbegehren gegen die übrigen Mitglieder und Ersatzmitglieder der I. Strafkammer wies es ab.
B. Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 8. Dezember 2010 beantragt X., der Beschluss des Gesamtgerichts des Obergerichts vom 3. November 2010 sei aufzuheben. Sämtliche Mitglieder der I. Strafkammer des Obergerichts seien wegen Befangenheit oder des Anscheins der Befangenheit in den Ausstand zu versetzen. Er rügt die Verletzung des Anspruchs auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK) sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Art. 29 BV). Zur Begründung beruft er sich auf BGE 134 I 238, worin die Unzulässigkeit eines ähnlichen Vorgehens, wie es Oberrichter Marti gegenüber dem Verteidiger praktiziert habe, festgehalten worden sei.BGE 137 I 227 (228) BGE 137 I 227 (229)Die übrigen Mitglieder der I. Strafkammer billigten das verfassungswidrige Verhalten ihres Vorsitzenden, weshalb auch bei ihnen der Anschein der Befangenheit bestehe. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
(Auszug)
 
 
Erwägung 2
 
2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob diese Garantien verletzt sind, prüft das Bundesgericht frei. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen vermögen. Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung angenommen, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Bei der Beurteilung solcher Umstände ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich befangen ist (BGE 136 I 207 E. 3.1 S. 210; BGE 135 I 14 E. 2; BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240; BGE 133 I 1 E. 6.2; BGE 131 I 24 E. 1.1; je mit Hinweisen).
Der Anschein der Befangenheit kann durch unterschiedlichste Umstände und Gegebenheiten erweckt werden. Dazu können nach der Rechtsprechung insbesondere vor oder während eines Prozesses abgegebene Äusserungen eines Richters zählen, die den Schluss zulassen, dass sich dieser bereits eine feste Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 134 I 238 E. 2.1 S. 240; BGE 125 I 119 E. 3a S. 122).
BGE 137 I 227 (229)
BGE 137 I 227 (230)2.2 Im vorliegenden Verfahren ist nicht umstritten, dass Oberrichter Marti mit seinem Schreiben vom 29. Juni 2010 an den Verteidiger des Beschwerdeführers den Anschein der Befangenheit erweckte (vgl. BGE 134 I 238 E. 2.6 S. 247). Deshalb wurde ihm mit dem angefochtenen Entscheid der Ausstand bewilligt.
Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren im Sinne von Art. 29 BV bemängelt, kann ihm ebenfalls nicht gefolgt werden. Er sieht diesen Grundsatz dadurch verletzt, dass der Präsident der I. Strafkammer den urteilenden Spruchkörper erst nach seinem Ausstand wegen offensichtlicher Befangenheit nach seinem Gutdünken habe zusammenstellen wollen. Auch hier behauptet der Beschwerdeführer einen Sachverhalt, der in den Akten keine Stütze findet. Die I. Strafkammer legt in ihrer Vernehmlassung zur Beschwerde detailliert dar, wie die Besetzung des Spruchkörpers ohne Einflussnahme von Oberrichter Marti erfolgte. Diese Darstellung vermag der Beschwerdeführer nicht substanziiert in Zweifel zu ziehen. Somit ist auf die Rüge der Verletzung von Art. 29 BV nicht weiter einzutreten.
BGE 137 I 227 (232)2.6.1 Die Garantie des verfassungsmässigen Richters soll nach ständiger Rechtsprechung zu der für einen korrekten und fairen Prozess notwendigen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit letztlich ein gerechtes Urteil ermöglichen. Offenheit des Verfahrens und Möglichkeit eines gerechten Urteils werden aber gefährdet, wenn ausserhalb des Prozesses liegende Umstände in sachwidriger Weise auf das Verfahren einwirken. Auch soweit ein Richter allein wegen des Anscheins der Voreingenommenheit soll abgelehnt und ausgeschlossen werden können, wollen Verfassung und Konvention ein faires und auch aus der (objektivierten) Sicht der Parteien offenes Verfahren garantieren. Der amtende Richter soll ein "echter Mittler" sein, und der "Rechtsuchende soll sich beim Richter im Recht geborgen fühlen". Neben dem Schutz der Prozessparteien dient dies dem Vertrauen der Betroffenen in ein rechtsstaatliches Justizverfahren und ermöglicht ihnen die innere Anerkennung des Gerichtsurteils. Aus der Sicht der Rechtsgemeinschaft geht es schliesslich um das Vertrauen im gerichtlichen Verfahren und letztlich die Legitimation von Gerichten in einem demokratischen Rechtsstaat überhaupt (zum Ganzen: BGE 114 Ia 50 E. 3c S. 55 f. mit Hinweisen; REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, 2001, S. 55 ff.).
Zunächst steht das Herbeiführen eines Ausstandsgrunds durch die Justizperson selbst im Widerspruch zur Pflicht, ihre Unabhängigkeit und die anhaltende Offenheit des Verfahrens sicherzustellen. Gerichtspersonen, die staatliche Aufgaben wahrnehmen, sind an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen (Art. 35 Abs. 2 BV). Der Ausstand ist als prozessuale Folge einer unvermeidbaren Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit ausgestaltet. Die Möglichkeit des Ausstands entbindet die Gerichtspersonen jedoch nicht von der Verpflichtung, primär mit eigenem verantwortungsbewusstem Handeln ihre durch Art. 30 Abs. 1 und Art. 191c BV garantierte Unabhängigkeit zu bewahren (vgl. KIENER, a.a.O., S. 327 ff.).
Mit dem Ausstand eines Richters wird zudem die Besetzung des Spruchkörpers verändert, was im konkreten Fall im überwiegenden Interesse der Besetzung des Spruchkörpers mit unabhängigen Gerichtspersonen hingenommen werden kann. Wird einem zur Instruktion einer Angelegenheit zuständigen Richter jedoch zugestanden, dass er in eigenem Belieben in einer konkreten Angelegenheit seinen Ausstand provozieren darf, so entsteht die Gefahr der Manipulation der Zusammensetzung des Spruchkörpers und damit der Rechtsprechung.
Auch kann der Anschein der Befangenheit eines Spruchkörpers entstehen, wenn ein im Ausstand befindliches Mitglied einer Kammer seine Meinung zum Ausgang eines Verfahrens bereits dargelegt hat und auf diese Weise den Spruchkörper beeinflusst.
Ein bewusster Verstoss einer Gerichtsperson gegen die Pflicht zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit schadet somit dem Vertrauen in eine gerechte Beurteilung durch die staatlichen Gerichte und ist geeignet, die Legitimation von Gerichten im demokratischen RechtsstaatBGE 137 I 227 (233) BGE 137 I 227 (234)infrage zu stellen. Akzeptanz und Legitimität der Justiz sowie die glaubwürdige Autorität der Rechtsprechung und des ihr anvertrauten Rechts setzen jedoch ein in der Erfahrung bewährtes Vertrauen auf reale Unabhängigkeit des Richters unabdingbar voraus (vgl. KURT EICHENBERGER, Sonderheiten und Schwierigkeiten der richterlichen Unabhängigkeit in der Schweiz, in: Unabhängigkeit und Bindungen des Richters, Richard Frank [Hrsg.], 2. Aufl. 1997, S. 98).
Trotz solcher Möglichkeiten zulässiger Mitteilung einer vorläufigen Einschätzung der Prozessaussichten an eine Verfahrenspartei ist dabei grundsätzlich mit Blick auf den Anspruch auf einen unbefangenen Richter grosse Zurückhaltung geboten. Keinesfalls sollte ein Richter den Rückzug des Rechtsmittels fordern und dabei offen oder verdeckt Druck ausüben. Ebenso wenig darf der Eindruck entstehen, dass sich der Richter mit der Sache nicht urteilsmässig befassen wolle (BGE 134 I 238 E. 2.4 S. 244). Eine Praxis, welche den dargelegten Anforderungen nicht nachkommt, ist mit Art. 30 Abs. 1 und Art. 191c BV sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK unvereinbar und kann den Anschein der Befangenheit nicht nur in Bezug auf die betroffene Gerichtsperson, sondern für den gesamten Spruchkörper begründen.BGE 137 I 227 (234)