Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 3
Erwägung 4
Erwägung 5
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
11. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle Basel-Landschaft gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_358/2017 vom 2. Mai 2018
 
 
Regeste
 
Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK; Art. 17 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 2 ATSG; Art. 28a Abs. 3 IVG; gemischte Methode der Invaliditätsbemessung im Rahmen einer Wiedererwägung (Motivsubstitution).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 144 I 103 (104)A.
A.a Die 1976 geborene A., verheiratet und Mutter eines am 15. November 2013 geborenen Sohnes, war seit September 1996 als Filialleiterin einer Bäckerei tätig. Am 11. April 2001 erlitt sie bei einem Autounfall ein schweres Schädelhirntrauma, welches eine vollständige Arbeitsunfähigkeit nach sich zog. Seither ist sie, abgesehen von einem Arbeitseinsatz im Rahmen eines 50 %-Pensums im Bereich Telefonmarketing/Administration von August 2002 bis Juli 2003, nicht mehr erwerbstätig.
A.b Im Juli 2001 meldete sich A. bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Basel-Landschaft sprach ihr mit Wirkung ab 1. April 2002 eine ganze Invalidenrente zu. Diesen Anspruch bestätigte die Verwaltung revisionsweise.
A.c Im Rahmen eines weiteren, im Februar 2015 von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens erkannte die IV-Stelle, dass bei A. seit der Geburt ihres Sohnes am 15. November 2013 ein Aufgabenbereich vorliege. Die Invaliditätsbemessung sei deshalb nicht mehr anhand eines Einkommensvergleichs, sondern nach der gemischten Methode (mit einem Erwerbsanteil von 80 % und einem Haushaltanteil von 20 %) vorzunehmen. Auf diese Weise gelangte die Verwaltung neu zu einem rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 33 %. Mit Vorbescheid vom 26. Januar 2016 stellte sie A. die Aufhebung der Rente auf das Ende des der Verfügung folgenden Monats in Aussicht. Nach Einwand der Versicherten verfügte sie am 9. Juni 2016 im angekündigten Sinne.
B. Beschwerdeweise liess A. beantragen, die Verfügung vom 9. Juni 2016 sei aufzuheben; es sei ihre bisherige ganze Invalidenrente mit Wirkung auf 1. August 2016 auf eine Viertelsrente herabzusetzen. Replicando änderte sie ihr Rechtsbegehren unter Hinweis auf das zwischenzeitlich (am 4. Juli 2016) rechtskräftig gewordene Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) Di Trizio gegen Schweiz vom 2. Februar 2016 (7186/09) dahingehend, dass ihr weiterhin eine ganze Invalidenrente zuzusprechen sei. Das angerufene Kantonsgericht Basel-Landschaft verneinte einen Revisionsgrund und nahm eine Prüfung unterBGE 144 I 103 (104) BGE 144 I 103 (105)wiedererwägungsrechtlichen Gesichtspunkten vor. Mit Entscheid vom 16. Februar 2017 hiess es die Beschwerde teilweise gut, hob die Verfügung vom 9. Juni 2016 auf und stellte fest, dass die Versicherte mit Wirkung ab 1. August 2016 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente hat.
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid vom 16. Februar 2017 sei aufzuheben und ihre Verfügung vom 9. Juni 2016 wiederherzustellen.
A. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
 
 
Erwägung 2
 
2.2 Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger jederzeit auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Mit der gleichen (substituierten) Begründung kann die Beschwerdeinstanz die zunächst auf Art. 17 ATSG gestützte Rentenaufhebung schützen (SVR 2017BGE 144 I 103 (105) BGE 144 I 103 (106)IV Nr. 4 S. 7, 9C_770/2015 E. 2.1, und 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/2010 E. 4). Die Wiedererwägung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung. Darunter fällt insbesondere eine Leistungszusprache aufgrund falscher Rechtsregeln bzw. ohne oder in unrichtiger Anwendung der massgeblichen Bestimmungen. Ob eine solche vorliegt, beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage, wie sie bei Erlass der Verfügung bestand, einschliesslich der damaligen Rechtspraxis (BGE 140 V 77 E. 3.1 S. 79 f. mit Hinweisen; vgl. auch BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.).
 
Erwägung 3
 
3.1 Die Vorinstanz erwog, mit der IV-Stelle sei ein Revisionsgrund zu verneinen, weil sich dessen Annahme nach der neusten Rechtsprechung (vgl. dazu nachstehende E. 4.2) alleine aufgrund eines familiär bedingten Statuswechsels verbiete. Zu Recht berufe sich die IV-Stelle nun darauf, dass die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Rentenverfügung vom 12. Mai 2005 gegeben seien: Die Verfügung sei - insbesondere wegen des im Rahmen der Festsetzung des Invalideneinkommens zu Unrecht vorgenommenen maximalen Tabellenlohnabzuges - zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung. Die IV-Stelle habe damals zutreffenderweise einen Einkommensvergleich vorgenommen und das Valideneinkommen gestützt auf die Tabellenlöhne gemäss der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2002 auf Fr. 51'072.- festgesetzt. Darauf sei auch im Rahmen der Wiedererwägung abzustellen. Nicht gefolgt werden könne aber dem von der Verwaltung ermittelten Invalideneinkommen von Fr. 15'401.-. Es rechtfertige sich, den Tabellenlohn einer Büroangestellten (Fr. 3'275.- gemäss LSE 2002, Tabelle TA1, privater Sektor, persönliche Dienstleistungen, Kompetenzniveau 4, Frauen) beizuziehen, was bei einem 50 %-Pensum und aufgerechnet auf die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,9 Stunden zu einem Invalideneinkommen von Fr. 20'534.- führe. Eine Gegenüberstellung der beiden Vergleichseinkommen ergebe einen Invaliditätsgrad von gerundet 60 % (59,79 %). Damit habe die Versicherte mit Wirkung ab 1. August 2016 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente.
 
Erwägung 4
 
4.2 Nach der zur Umsetzung des erwähnten EGMR-Urteils vom 2. Februar 2016 ergangenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (insbesondere BGE 143 I 50 und 60) ist zwecks Herstellung einesBGE 144 I 103 (107) BGE 144 I 103 (108)konventionskonformen Zustandes in Konstellationen, in welchen allein familiäre Gründe (die Geburt von Kindern und die damit einhergehende Reduktion des Erwerbspensums) für einen Statuswechsel von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig" (mit Aufgabenbereich) sprechen, fortan auf die (allein darauf beruhende) revisionsweise Aufhebung oder Herabsetzung der Invalidenrente im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG zu verzichten. Die versicherte Person hat diesfalls Anspruch auf die Weiterausrichtung der bisherigen Rente (vgl. auch BGE 144 I 21 E. 4.2 S. 26; Urteil 9C_525/2016 vom 15. März 2017 E. 4.2.2; ferner BGE 143 V 77 E. 3.2.2 S. 80; vgl. auch IV-Rundschreiben Nr. 355 des BSV vom 31. Oktober 2016 [aktualisiert per 26. Mai 2017]; Urteil 9C_553/2017 vom 18. Dezember 2017 E. 5.1 und 5.2).
BGE 144 I 103 (109)4.4.2 Diese Grundsätze liess die Vorinstanz ausser Acht, als sie im Rahmen der Prüfung der künftigen Anspruchsberechtigung der Versicherten auf die Verhältnisse im Jahr 2002 - statt auf diejenigen im Zeitpunkt der Verfügung (9. Juni 2016) - abstellte. In diesem Punkt ist ihr Entscheid bundesrechtswidrig.
Es steht aufgrund der Akten fest, dass die Versicherte ohne Gesundheitsschaden hypothetisch im Jahr 2016 nicht mehr voll, sondern lediglich noch zu 80 % erwerbstätig und daneben zu 20 % im Haushalt beschäftigt gewesen wäre. Wenn nun aber, wie in E. 4.3 dargelegt, diese Änderung der Verhältnisse (Statuswechsel) als Di-Trizio-ähnliche Konstellation im Rahmen einer Rentenrevision ausser Acht zu lassen ist, muss es sich hinsichtlich der Wiedererwägung ebenso verhalten. Andernfalls würde der im EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016 als EMRK-widrig beanstandeten Folge - der aus dem Statuswechsel resultierenden Rentenaufhebung bzw. -herabsetzung - über einen anderen Rechtstitel zum Durchbruch verholfen. Mit anderen Worten darf der allein familiär bedingte Statuswechsel von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig" (mit Aufgabenbereich) auch im Rahmen einer wiedererwägungsweisen Anspruchsüberprüfung nicht zu einer Änderung der Bemessungsmethode (Anwendbarkeit der gemischten anstelle der Einkommensvergleichsmethode) führen.
 
Erwägung 5
 
5.3.2.1 Die IV-Stelle geht in ihrer Beschwerde von einem branchenüblichen Lohn von Fr. 56'978.- aus (gestützt auf LSE 2012, TA1, Handel, Instandhaltung und Reparatur von Motorfahrzeugen [45-47], Kompetenzniveau 2 [praktische Tätigkeiten wie u.a. Verkauf], Frauen: Fr. 4'382.-; unter Berücksichtigung der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit und der Lohnentwicklung im Sektor G von 2013 bis 2016). Aufgrund des ermittelten Minderverdienstes von 27 % gelangt die Verwaltung zu einem Valideneinkommmen von Fr. 53'971.- (nach Heraufsetzung des Einkommens von Fr. 41'436.- um 22 % von Fr. 56'978.-).
5.3.2.2 In ihrer Vernehmlassung wendet die Versicherte ein, die Berechnung der IV-Stelle trage dem Umstand nicht Rechnung, dass sie als Filialleiterin gearbeitet habe. Sie hält die Tabelle T1_b der LSE 2014, Detailhandel (Ziffer 47), Berufliche Stellung 3 (unteres Kader), für massgebend. Auf dieser Grundlage ermittelt sie (nach Berücksichtigung der Lohnentwicklung und der betriebsüblichen Arbeitszeit) ein branchenübliches Einkommen von Fr. 69'598.- undBGE 144 I 103 (111) BGE 144 I 103 (112)einen Minderverdienst von 68 %. Nach ihrer eigenen Parallelisierungsrechnung (Heraufsetzung des Einkommens von Fr. 41'436.- um 63 % von Fr. 41'436.-) ergibt sich ein Valideneinkommen von Fr. 67'541.-.
5.3.2.3 Der von der Beschwerdegegnerin vernehmlassungsweise vorgeschlagenen Berechnungsweise ist insoweit beizupflichten, als im Rahmen der Invaliditätsbemessung grundsätzlich auf die neuste LSE, mithin diejenige von 2014 (statt von 2012) abzustellen ist (BGE 143 V 295 E. 4.1.3 S. 300). Würde auf dieser statistischen Grundlage zu Gunsten der Versicherten der Lohn beigezogen, den Frauen im Detailhandel (Ziffer 47 [statt Ziffer 45-47]) erzielten, und zwar im für sie vorteilhaften Kompetenzniveau 3, welches komplexe praktische, ein grosses Wissen in einem Spezialgebiet voraussetzende Tätigkeiten umfasst, ergäbe sich für das Jahr 2016 ein Lohn von Fr. 64'713.- (Fr. 5'087.- gemäss der üblicherweise verwendeten Tabelle TA1, unter Berücksichtigung der Lohnentwicklung und der betriebsüblichen Arbeitszeit). Nach Parallelisierung (Heraufsetzung des Einkommens von Fr. 41'436.- um 31 % von Fr. 64'713.-) führte dieser Weg zu einem Valideneinkommen von Fr. 61'497.-. Da aber auch unter Zugrundelegung dieses eher zu grosszügig bemessenen Wertes kein anderes Ergebnis resultieren würde (dazu E. 5.4), kann offengelassen werden, welche Berechnungsweise vorzuziehen ist.