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Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 12
Erwägung 14
Erwägung 14.4
Erwägung 17.5
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
7. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Demokratische Juristinnen und Juristen Bern (DJB) und Mitb. gegen Regierungsrat des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
1C_181/2019 vom 29. April 2020
 
 
Art. 10 und 22 BV; Art. 11 EMRK; Art. 84 Abs. 1 PolG/BE; Unverhältnismässigkeit der Verbindung der Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen mit einer Strafdrohung nach Art. 292 StGB.
 
 
Art. 13 BV; Art. 8 EMRK; Art. 83 Abs. 1 lit. h und Art. 84 Abs. 4 PolG/BE; fehlende Verhältnismässigkeit einer Wegweisungsbestimmung, die sich gegen Fahrende richtet.
 
 
Art. 13 BV; Art. 8 EMRK; Art. 118 Abs. 2 PolG/BE; Verfassungswidrigkeit einer Regelung zur präventiven polizeilichen Überwachung durch ein an einem Fahrzeug befestigten GPS-Gerät.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 147 I 103 (104)A. Der Grosse Rat des Kantons Bern beschloss am 27. März 2018 eine Totalrevision des Polizeigesetzes vom 8. Juni 1997 (PolG/BE; BSG 551.1).
Das neue Polizeigesetz enthält unter anderem folgende Bestimmungen zur Kostentragung bei Veranstaltungen mit Gewalttätigkeit, zur Wegweisung und Fernhaltung sowie zur Observation.BGE 147 I 103 (104)
    BGE 147 I 103 (105)4.3.6 Kostentragung bei Veranstaltungen mit Gewalttätigkeiten
    Art. 54 Grundsatz
    1 Bei Veranstaltungen, bei denen Gewalt an Personen oder Sachen verübt worden ist, können die Gemeinden der Veranstalterin oder dem Veranstalter und der an der Gewaltausübung beteiligten Person zusätzlich zum Kostenersatz gemäss Artikel 51 und 52 die Kosten des Polizeieinsatzes ab Beginn der Gewaltausübung in Rechnung stellen.
    Art. 55 Voraussetzungen
    1 Die Veranstalterin oder der Veranstalter wird nur kostenpflichtig, wenn sie oder er nicht über die erforderliche Bewilligung verfügt oder Bewilligungsauflagen vorsätzlich oder grobfahrlässig nicht eingehalten hat.
    2 Die an der Veranstaltung teilnehmende Person, die sich auf behördliche Aufforderung hin entfernt, wird nicht kostenpflichtig, wenn sie weder selbst Gewalt angewendet noch zur Gewaltanwendung aufgefordert hat.
    Art. 56 Bemessungsgrundlagen
    1 Die Kostenauflage an die Veranstalterin oder den Veranstalter bemisst sich nach Massgabe der Nichteinhaltung der Bewilligungsauflagen.
    2 Die Kostenauflage an die an der Gewaltausübung beteiligte Person bemisst sich nach Massgabe des individuellen Tatbeitrags und der individuellen Verantwortung für den Polizeieinsatz gemäss Artikel 54.
    Art. 57 Begrenzung der Kostenauflage
    1 Der Veranstalterin oder dem Veranstalter werden höchstens 40 Prozentund der an der Gewaltausübung beteiligten Person höchstens 60 Prozent der Kosten gemäss Artikel 54 auferlegt.
    2 Der Veranstalterin oder dem Veranstalter sowie der an der Gewaltausübung beteiligten Person werden höchstens 10'000 Franken, in besonders schweren Fällen höchstens 30'000 Franken in Rechnung gestellt.
    (...)
    7.2.6 Wegweisung und Fernhaltung
    Art. 83 Im Allgemeinen
    1. Voraussetzungen und Inhalt
    1 Die Kantonspolizei kann eine oder mehrere Personen von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten, wenn
    a) die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere durch eine Ansammlung, gestört oder gefährdet wird,
    b) Dritte erheblich belästigt oder gefährdet werden,
    c) Einsätze zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder zur Rettung, insbesondere durch Polizeikräfte, Feuerwehr und Rettungsdienste, behindert, gestört oder diese gefährdet werden,BGE 147 I 103 (105)BGE 147 I 103 (106)d) sie die Kantonspolizei an der Durchsetzung vollstreckbarer Anordnungen hindern, stören oder sich einmischen,
    e) sie ernsthaft und unmittelbar gefährdet sind,
    f) sie eine andere Person in der physischen, psychischen oder sexuellen Integrität verletzen, bedrohen oder sie wiederholt belästigen, insbesondere ihr nachstellen, namentlich auch in Fällen häuslicher Gewalt,
    g) dies zur Wahrung der Rechte von Personen, insbesondere zur Wahrung der Pietät, notwendig ist, oder
    h) auf einem privaten Grundstück oder auf einem Grundstück eines Gemeinwesens ohne Erlaubnis des Eigentümers oder des Besitzers campiert wird.
    2 Sie verfügt mit der Wegweisung oder Fernhaltung die zum Vollzug notwendigen Massnahmen.
    3 In Fällen gemäss Absatz 1 Buchstabe f kann zudem ein Kontakt- und Annäherungsverbot auferlegt werden.
    Art. 84 2. Form
    1 Die Massnahmen gemäss Artikel 83 Absatz 1 ergehen unter der Strafdrohung gemäss Artikel 292 StGB.
    2 Die Verfügung gemäss Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe f wird auch dem Opfer mitgeteilt.
    3 Wegweisungen und Fernhaltungen bis zu einer Dauer von 48 Stunden können mündlich angeordnet werden. Die Betroffenen können nachträglich eine schriftliche Verfügung verlangen.
    4 Wegweisungen gemäss Artikel 83 Absatz 1 Buchstabe h werden schriftlich vor Ort verfügt. Werden die Wegweisungen von den Betroffenen nicht innerhalb von 24 Stunden befolgt, kann die Kantonspolizei das Gelände räumen, sofern ein Transitplatz zur Verfügung steht.
    (...)
    Art. 89 Entzug der aufschiebenden Wirkung
    1 Die Beschwerde gegen eine Wegweisungs- oder Fernhaltungsverfügung hat keine aufschiebende Wirkung, es sei denn, die instruierende Behörde ordne sie auf Antrag an.
    (...)
    7.2.16 Observation
    Art. 118 Voraussetzungen und Inhalt
    1 Zur Erkennung und Verhinderung von Verbrechen oder Vergehen oder zur Gefahrenabwehr kann die Kantonspolizei Personen und Sachen an allgemein zugänglichen Orten verdeckt beobachten und dabei Bild- und Tonaufnahmen machen, wennBGE 147 I 103 (106)
    BGE 147 I 103 (107)a) ernsthafte Anzeichen dafür bestehen, dass Verbrechen oder Vergehen vor der Ausführung stehen, und
    b) andere Massnahmen zur Informationsbeschaffung aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden.
    2 Sie kann zu diesem Zweck technische Überwachungsgeräte einsetzen, um den Standort von Personen oder Sachen festzustellen.
    Art. 119 Genehmigung
    1 Hat eine Observation einen Monat gedauert, so bedarf ihre Fortsetzung der Genehmigung durch das kantonale Zwangsmassnahmengericht.
    Art. 120 Sinngemässe Geltung der StPO und Rechtsschutz
    1 Artikel 141 und 283 StPO sind sinngemäss anwendbar.
    2 Der Rechtsschutz richtet sich nach Artikel 184.
Das neue Polizeigesetz wurde in der kantonalen Volksabstimmung vom 10. Februar 2019 angenommen. Der Erwahrungsbeschluss wurde im Amtsblatt des Kantons Bern vom 20. Februar 2019 publiziert.
B. Dagegen haben am 22. März 2019 die demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (DJB), die SP Stadt Bern, das Grüne Bündnis Kanton Bern, die Grünen Kanton Bern, die Alternative Linke Bern, die Juso Kanton Bern, die Juso Stadt Bern, die Jungen Grünen Kanton Bern, die Unia, der Gewerkschaftsbund des Kantons Bern, die GSoA (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee), der Verein für kirchliche Gassenarbeit Bern, der Verein schäft qwant, die Radgenossenschaft der Landstrasse, der Verband Sinti und Roma Schweiz, die Gesellschaft für bedrohte Völker, humanrights.ch, grundrechte.ch, die kritischen Jurist*innen Fribourg/Bern, sowie die Privatpersonen B. und A. (gesamthaft nachfolgend: Beschwerdeführende) Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Sie beantragen, die Art. 54, 55, 56 und 57 (zur Kostentragung bei Veranstaltungen mit Gewalttätigkeit), die Art. 83 Abs. 1 lit. h, 83 Abs. 2, 84 Abs. 1, 84 Abs. 4 und 89 (zur Wegweisung und Fernhaltung) und Art. 118 Abs. 2 i.V.m. Art. 118 Abs. 1, 119 und 120 (zur Observation) PolG/BE seien aufzuheben.
Das Bundesgericht hat die Angelegenheit öffentlich beraten und heisst die Beschwerde teilweise gut.
(Zusammenfassung)
 
BGE 147 I 103 (107) BGE 147 I 103 (108)Aus den Erwägungen:
 
Fernhaltung und Wegweisung
Das Bundesgericht hat bereits mehrmals in Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen (unterschiedlich schwere) Eingriffe in die persönliche Freiheit erblickt (BGE 132 I 49 E. 5.2 S. 56; BGE 130 I 369 E. 2 S. 372 f.; BGE 128 I 327 E. 3.3 S. 337 und E. 4.3.2 S. 344). Auch die Versammlungsfreiheit kann durch solche Massnahmen eingeschränkt werden (BGE 132 I 49 E. 5.3 S. 56 f.; vgl. auch JÜRG MARCEL TIEFENTHAL, Kantonales Polizeirecht der Schweiz, 2018, S. 220 ff.).
Art. 84 Abs. 1 PolG/BE sieht vor, dass jegliche Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen unter der Strafdrohung gemäss Art. 292 StGB ergehen. Je nach Buchstabe des Art. 83 Abs. 1 PolG/BE, derBGE 147 I 103 (108) BGE 147 I 103 (109)zur Anwendung kommt, können verschiedene Grundrechte betroffen sein. So kann eine Massnahme gestützt auf Art. 83 Abs. 1 lit. a PolG/BE, wonach die Kantonspolizei eine oder mehrere Personen von einem Ort vorübergehend wegweisen oder fernhalten kann, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört oder gefährdet wird, insbesondere durch eine Ansammlung, sowohl die persönliche Freiheit als auch die Versammlungsfreiheit beeinträchtigen (vgl. BGE 132 I 49 E. 5.2 ff. S. 56 f.). Je nach Einzelfall wiegt ein Eingriff schwerer oder weniger schwer. Eine Grundrechtseinschränkung bedarf jedoch in jedem Fall einer gesetzlichen Grundlage, muss durch ein öffentliches Interesse gerechtfertigt und verhältnismässig sein (Art. 36 BV).
Im interkantonalen Vergleich erweist sich die neue Berner Regelung als äusserst unüblich. Soweit ersichtlich kennt einzig der Kanton Jura die automatische Verbindung der Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen mit einer Strafdrohung, wobei die entsprechende Verfügung in diesem Kanton im Gegensatz zum PolG/BE jedoch schriftlich ergehen muss (Art. 58 Abs. 1 lit. f des loi du 28 janvier 2015 sur la police cantonale [RSJU 551.1]). Einige andere Kantone kennen zwar eine automatische Verbindung der Strafdrohung mit einer Wegweisungs- oder Fernhaltungsmassnahme, jedoch nur in Fällen von häuslicher Gewalt (vgl. z.B. § 37a Abs. 2 des Gesetzes vom 13. November 1996 betreffend die Kantonspolizei des Kantons Basel-Stadt [PolG; SG 510.100]). Die restlichen Kantone sehen entweder die Möglichkeit der Anordnung einer Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahme unter Strafdrohung gemäss Art. 292 StGB gar nicht vor (vgl. z.B. Art. 12 des Polizeigesetzes des Kantons Graubünden vom 20. Oktober 2004 [PolG; BR 613.000]) oder nur in besonderen oder schwerwiegenden Fällen (vgl. z.B. § 34 Abs. 2 des Polizeigesetzes des Kantons Zürich vom 23. April 2007 [PolG; LSBGE 147 I 103 (109) BGE 147 I 103 (110)550.1]; § 19 Abs. 3 des Gesetzes vom 27. Januar 1998 über die Luzerner Polizei [PolG; SRL 350]; § 42a Abs. 3 PolG/BS; Art. 31 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Nidwalden vom 11. Juni 2014 über das Polizeiwesen [PolG; NG 911.1]). Mit Ausnahme der Fälle der häuslichen Gewalt verwenden die kantonalen Polizeigesetze bei der Anordnung einer Strafdrohung nach Art. 292 StGB stets eine Kann-Formulierung, die es der Polizei erlaubt, die Anordnung einer Strafdrohung und somit die Schwere der Massnahme an die konkrete Situation anzupassen (vgl. z.B. § 19 Abs. 3 PolG/LU sowie MOECKLI/ KELLER, Wegweisungen und Rayonverbote, Sicherheit & Recht 3/2012 S. 242 f.). Die neue Berner Regelung wäre somit im interkantonalen Vergleich die schärfste Wegweisungsregelung.
Zwar ist die automatische und obligatorische Verbindung zwischen den Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen mit der Strafdrohung nach Art. 292 StGB eine geeignete Massnahme; sie erscheint jedoch nicht erforderlich, um den Schutz der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten. Art. 84 Abs. 1 PolG/BE enthält keine Kann-Formulierung und kann aufgrund der klaren Äusserung des Regierungsrats im Vortrag vom 5. Juli 2017 zum PolG/BE (nachfolgend: Vortrag) auch nicht in eine solche uminterpretiert werden (vgl. oben E. 10.2); sie erlaubt es der Kantonspolizei somit nicht, die Wegweisung oder Fernhaltung je nach Umständen und Schweregrad des konkreten Falls mit oder ohne Strafdrohung zu erlassen. In nicht schwerwiegenden Fällen - namentlich wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Betroffenen der polizeilichen Anordnung ohne Weiteres nachkommen werden - genügt jedoch eine einfache Wegweisung oder Fernhaltungsmassnahme. Eine Kann-Formulierung oder auch eine Beschränkung der Strafdrohung auf besonders schwere Fälle sind somit mildere, aber ebenso geeignete Massnahmen.
Nach Art. 27 UNO-Pakt II darf Angehörigen von ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Art. 27 UNO-Pakt II begründet kein kollektives Recht für die erwähnten Minderheiten, sondern einzig ein individuelles und direkt gerichtlich anrufbares Recht darauf, dass die Merkmale ihrer Minderheit respektiert und gefördert werden. Betreffend Schutz der Lebensweise von Fahrenden geht jedoch der Schutzbereich des Art. 27 UNO-Pakt II gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht über jenen von Art. 8 EMRK hinaus (BGE 145 I 73 E. 4.1 S. 83 f. mit Hinweis).
Als Minderheit haben Fahrende einen Anspruch auf besondere Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Lebensweise durch die Behörden, und zwar sowohl im Gesetzgebungsverfahren wie auch im konkreten Einzelfall (Urteil des EGMR Winterstein und andere gegen Frankreich vom 17. Oktober 2013, § 148; Urteil Chapman, § 96). Aus Art. 8 EMRK folgt nach der Rechtsprechung des EGMR eine positive Verpflichtung für die Vertragsstaaten, den Fahrenden ihre traditionelle Lebensweise zu ermöglichen (Urteil Winterstein, § 148; Urteil Chapman, § 96). Zur Identität der Fahrenden gehört insbesondere das Leben in Wohnwagen (Urteil Chapman, § 142). Aus Art. 8 EMRK folgt zwar kein eigentliches "Recht auf Wohnen" (Urteil Chapman, § 99); der EGMR betont jedoch, dass der Verlust einer Wohnung einer der schwerwiegendsten Eingriffe in das Recht auf Achtung der Wohnung darstellt und im Falle der Fahrenden auch in das Recht auf Privat- und Familienleben (Urteil Win terstein, § 142 und 148).
BGE 147 I 103 (112)
In seiner Botschaft zum RÜSNM hielt der Bundesrat ausdrücklich fest, dass dieses in der Schweiz auf nationale sprachliche Minderheiten angewendet werden kann, aber auch auf andere schweizerische Bevölkerungsgruppen, wie die Mitglieder der jüdischenBGE 147 I 103 (113) BGE 147 I 103 (114)Gemeinde oder die Fahrenden (Botschaft vom 19. November 1997 über das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, BBl 1998 II 1293 Ziff. 22; siehe auch den Vierten Bericht der Schweiz zur Umsetzung des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten vom Februar 2017, S. 4).
Das Rahmenübereinkommen enthält keine unmittelbar anwendbaren Bestimmungen (BGE 145 I 73 E. 4.1 S. 84; vgl. RAINER HOFMANN, in: Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, Handkommentar, Einführung, Überblick, Würdigung, 2015, N. 16). Während eine betroffene Person die Bestimmungen des RÜSNM in einem Einzelfall also nicht direkt vor einem Gericht geltend machen kann, sind insbesondere die gesetzgebenden Behörden dazu verpflichtet, Massnahmen zum Schutz der nationalen Minderheiten zu ergreifen. Soweit die Umsetzung des RÜSNM in den Kompetenzbereich der Kantone fällt, sind die kantonalen gesetzgeberischen Behörden verpflichtet, das RÜSNM als Teil des Bundesrechts zu beachten und umzusetzen (Art. 5 Abs. 4, Art. 46 und Art. 49 Abs. 1 BV; BGE 137 I 305 E. 3.2 S. 319; vgl. auch KÄLIN UND ANDERE, Völkerrecht, Eine Einführung, 4. Aufl. 2016, S. 115; JUDITH WYTTENBACH, Umsetzung von Menschenrechtsübereinkommen in Bundesstaaten, 2017, S. 346 und S. 436 ff.; AUER/MALINVERNI/HOTTELIER, Droit constitutionnel suisse, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Rz. 1344).
 
Erwägung 12
 
Im Vortrag des Regierungsrates an den Grossen Rat zum PolG/BE verzichtete der Regierungsrat jedoch auf Spezialbestimmungen für Fahrende (Vortrag, a.a.O., S. 44 f.). Eine Einschätzung des Polizeirechtsexperten Dr. Markus Mohler habe ergeben, dass für Fahrende die Rechtsordnung als Ganzes ohne Ausnahmen gelte. Dies bedeute, dass verfahrensrechtliche Sonderregelungen in Bezug auf Fahrende eine Ungleichbehandlung oder gar Diskriminierung darstellen würden. Während die Grundbestimmungen zur Wegweisung und Fernhaltung auch auf Fahrende anwendbar seien, gelte es darauf hinzuweisen, dass diese nicht bereits durch ihre Lebensart als störend oder gefährdend anzusehen seien und dieser Umstand somit für die Anwendung der Bestimmungen nicht ausreiche (Vortrag, a.a.O., S. 44 f.).
Auf Antrag einer Mehrheit der Sicherheitskommission fügte jedoch der Grosse Rat die Art. 83 Abs. 1 lit. h und Art. 84 Abs. 4 in das neue Polizeigesetz ein. Aus den Wortprotokollen des Grossen Rats ergibt sich, dass sich die Parlamentsdebatten zu den strittigen Artikeln ausschliesslich auf die Wegweisung von Fahrenden beschränkten (vgl. Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2017, S. 1613 ff. [erste Lesung], und 2018, S. 245 ff. [zweite Lesung]); eine andere Gruppe von "illegal Campierenden" wurde im Grossen Rat nichtBGE 147 I 103 (116) BGE 147 I 103 (117)thematisiert. Die beiden Bestimmungen wurden in den parlamentarischen Beratungen zuweilen als "Fahrenden"-Artikel, als "Lex Fahrende" oder als "Regelung betreffend die Fahrenden" bezeichnet (vgl. z.B. die Wortmeldungen von Grossrätin Schindler [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2017, S. 1614], Grossrätin Fuhrer-Wyss [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2017, S. 1614, und Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2018, S. 247], Grossrat Müller [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2017, S. 1615], Grossrätin Schwaar [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2017, S. 1617], Grossrat Wenger [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2017, S. 1618], Grossrat Jost [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2018, S. 247 f.] und Regierungsrat Käser [Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 2018, S. 251]).
Aus der Entstehungsgeschichte und den Ratsdebatten ergibt sich, dass der Grosse Rat nicht nur Art. 84 Abs. 4 PolG/BE, sondern auch Art. 83 Abs. 1 lit. h PolG/BE ausschliesslich für die Fahrenden erlassen hat.
Während die Fahrenden somit zweifelsohne der Hauptanwendungsfall des Art. 83 Abs. 1 lit. h PolG/BE sind, erscheint dessen Anwendung auf andere Fälle aufgrund des Wortlauts zwar theoretisch nicht ausgeschlossen. Praktisch reichen jedoch a priori die anderen Wegweisungstatbestände des Art. 83 Abs. 1 PolG/BE sowie spezialrechtliche Bestimmungen aus, um andere Fälle von Wegweisungen zu bewältigen. Das Büro des Grossen Rats führt denn auch aus, dass in der Praxis in der Regel für andere Fallgruppen als die Fahrenden nicht auf die polizeiliche Wegweisung zurückgegriffen werden muss. Ausserdem hat das Kantonsparlament Bern die vom Büro des Grosen Rats erwähnte Problematik der "Waldmenschen" bereits in dem vor wenigen Jahren eingefügten Art. 38 Abs. 2 des kantonalen Waldgesetzes (KWaG; BSG 921.11) behandelt; nach dieser Bestimmung veranlasst der kantonale Forstdienst alle nötigen Massnahmen zur Behebung von Rechswidrigkeiten im Walde.
Bei dieser Ausgangslage würde es sich rechtfertigen, Art. 83 Abs. 1 lit. h PolG/BE aufzuheben, sollte sich herausstellen, dass dieser im Hauptanwendungsfall grundrechtswidrig ist, zumal die anderen Fälle von illegalem Camping anhand anderer Bestimmungen oder ohne polizeiliche Wegweisung bewältigt werden können.
In den folgenden Ausführungen ist somit zu prüfen, ob Art. 83 Abs. 1 lit. h und Art. 84 Abs. 4 PolG/BE in ihrer Anwendung auf die Fahrenden grundrechtskonform sind.
 
Erwägung 14
 
Je nach Umständen des konkreten Einzelfalls wiegt der Eingriff schwerer oder weniger schwer. Ein schwerer Eingriff in das Privat- und Familienleben wird in der Regel dann vorliegen, wenn es sich bei den wegzuweisenden Personen um (in der Regel Schweizer) Fahrende handelt, deren Verweildauer auf den verschiedenen Plätzen meist hoch ist. Diesfalls gehen diese am Aufenthaltsort oft einer Arbeit nach und ihre Kinder besuchen am Aufenthaltsort die Schule (vgl. EspaceSuisse, Halteplätze für Jenische, Sinti und Roma, Raum&Umwelt, Februar 1/2019 S. 12). Der Grundrechtseingriff wiegt hingegen in der Regel weniger schwer bei (meist ausländischen) Fahrenden, die eben erst an einem Standort angekommen sind und weder beabsichtigen, dort länger als ein paar Tage zu verweilen noch ihre Kinder einzuschulen oder dort einer Arbeit nachzugehen, sondern auf der Durchreise sind.
Wenn eine sofortige Wegweisung bereits dann möglich sein soll, wenn auch nur ein Transitplatz im obigen Sinne zur Verfügung steht, hat dies jedoch zur Folge, dass diese Massnahme gegenüber Schweizer Fahrenden oder ausländischen Fahrenden, die nicht nur auf der Durchreise sind, auch dann vollzogen werden kann, wenn für sie keine angemessenen Ersatzplätze (Stand- oder Durchgangsplätze) zur Verfügung stehen. Dies ist hinsichtlich der Verhältnismässigkeit problematisch (vgl. E. 14.4.3.1 nachfolgend).
BGE 147 I 103 (121)in der Landwirtschaftszone befindet (vgl. EspaceSuisse, a.a.O., S. 14). Lassen sich Fahrende ohne jede Absprache mit der Eigentümerschaft auf einem Areal nieder, liegt für sie die Möglichkeit nahe, umgehend wieder weggewiesen zu werden. Dagegen präsentiert sich die Situation anders, wenn sich Fahrende zunächst erlaubterweise an einem Standort niederlassen und längere Zeit dort verweilen (möchten). Für sie ist es von Bedeutung, vorhersehen zu können, ob ihr anfänglich rechtmässiger Aufenthalt durch einen blossen (mündlichen) Entzug einer erteilten Erlaubnis ohne Weiteres zu einem illegalen Aufenthalt wird, mit der Folge, dass sie den Platz innerhalb von 24 Stunden verlassen und andernfalls eine polizeiliche Räumung gewärtigen müssen. Angesichts der Schwere des Grundrechtseingriffs einer Räumung für Fahrende, die länger an einem Ort verweilen, erscheint es fraglich, ob Art. 83 Abs. 1 lit. h PolG/BE genug bestimmt ist. Die Frage kann offenbleiben, wenn die Artikel bereits aus anderen Gründen aufzuheben sind.
 
Erwägung 14.4
 
Die Kann-Formulierung würde es der Kantonspolizei tatsächlich erlauben, den Fahrenden vor Aussprechen einer Wegweisungsmassnahme eine zusätzliche Frist von einigen Tagen oder Wochen zu gewähren. Die Kantonspolizei könnte an sich auch die in Art. 84 Abs. 4 PolG/BE vorgesehene Räumungsfrist von 24 Stunden um mehrere Tage verlängern. Es ist jedoch in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass es die klare Absicht des Grossen Rates war, mit Hilfe der neuen Bestimmungen die bisherige, als zu lange empfundene Verfahrensdauer einer Wegweisung von Fahrenden bzw. einer Räumung (ca. ein bis zwei Wochen) zu verkürzen (vgl. hiervor E. 13.5). Wenn die Kantonspolizei in der Praxis also längere Fristen gewähren würde, würden die Bestimmungen die bisherige Rechtslage nicht ändern: eine Wegweisung würde im Endeffekt trotzdem ein bis zwei Wochen in Anspruch nehmen. Dies würde der Absicht der gesetzgeberischen Behörde klarerweise entgegenlaufen.
Zwar wiegen bei einer längerfristigen und allenfalls rechtswidrigen Niederlassung von Fahrenden an einem bestimmten Ort unter Umständen auch die entgegenstehenden öffentlichen Interessen - insbesondere die öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie der Umwelt-, Natur- und Heimatschutz - und das entgegenstehende Interesse der Eigentümerinnen und Eigentümer der betroffenen Grundstücke schwer. Gerade in diesen Fällen, also bei einem bereits länger dauernden Aufenthalt, dürfte es aber für die betroffenen Privaten bzw. für die Öffentlichkeit in der Regel jedoch nicht von Bedeutung sein, dass eine Wegweisung sofort vollzogen wird. Insgesamt überwiegen daher die oben aufgeführten, gewichtigen Interessen derBGE 147 I 103 (123) BGE 147 I 103 (124)Schweizer Fahrenden daran, den Platz nicht innert 24 Stunden verlassen zu müssen. Die beiden Bestimmungen lassen sich somit in Bezug auf Schweizer Fahrende nicht verfassungskonform auslegen; sie verstossen gegen Art. 13 BV und Art. 8 EMRK.
Ausserdem ist der kantonale Gesetzgeber aufgrund des übergeordneten Rechts verpflichtet, die Schweizer Fahrenden als nationale Minderheit in seiner Gesetzgebung zu schützen und dazu verpflichtet, ihnen Halteplätze zur Verfügung zu stellen. Zwangsräumungen sollen zudem erst nach einer umfassenden Prüfung erfolgen (vgl. oben E. 11). Indem sie die Möglichkeit einer raschen Wegweisung und Zwangsräumung vorsehen, genügen Art. 83 Abs. 1 lit. h und Art. 84 Abs. 4 PolG/BE diesen Ansprüchen nicht. Auch der Umstand, dass Schweizer Fahrende weggewiesen werden können, ohne dass ein angemessener Ersatzhalteplatz zur Verfügung steht, stellt eine Verletzung des RÜSNM dar. Die Regelung verletzt unter Umständen auch das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRK; SR 0.107), das verlangt, dass bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen ist (Art. 3 Abs. 1 KRK). Die Berner Bestimmungen zur Wegweisung bzw. Räumung tragen diesem Umstand nicht Rechnung.
Analoges gilt für ausländische Fahrende, die ebenfalls längere Zeit am selben Ort verweilen, einer Arbeit nachgehen und eventuell ihre Kinder einschulen. Sie stehen zwar nicht unter dem speziellen Schutz des RÜSNM, aber auch für sie bedeutet eine übereilte Wegweisung bzw. Räumung aus den oben genannten Gründen einen unverhältnismässigen Eingriff in ihr Privat- und Familienleben (Art. 13 BV und Art. 8 EMRK) und unter Umständen eine Verletzung der KRK.
Eine Wegweisung bzw. Räumung innert 24 Stunden oder innert weniger Tage könnte sich für diese Fallgruppe als verhältnismässig erweisen, zumindest wenn der Aufenthalt von Anfang an rechtswidrig war, d.h. ohne Erlaubnis des Eigentümers (vgl. oben E. 14.2.2).BGE 147 I 103 (124) BGE 147 I 103 (125)Dies hängt jedoch davon ab, ob das Gesetz selbst weitere Gewährleistungen dafür enthält, dass von einer tatsächlich verhältnismässigen Anwendung der Regelung ausgegangen werden darf. Die Verfassungsmässigkeit hängt somit auch von den bestehenden formellen Garantien ab: Wenn ein wirksamer nachträglicher Rechtsschutz faktisch stark erschwert wird, ist bei der abstrakten Normenkontrolle ein strengerer Massstab anzusetzen.
In BGE 145 I 73 hat das Bundesgericht die Neuenburger Regelung betreffend Räumung von Halteplätzen als verfassungsmässig erachtet. Das Büro des Grossen Rats macht geltend, die Berner Bestimmungen betreffend Räumung seien restriktiver ausgestaltet als jene des LSCN/NE und folglich ebenfalls verfassungsmässig. Ein Vergleich zeigt jedoch, dass das LSCN/NE im Gegensatz zum PolG/BE mehrere verfahrensrechtliche Garantien zugunsten der Fahrenden enthält. So kann eine Räumung im Kanton Neuenburg einzig durch die Vorsitzende oder den Vorsitzenden der Polizeidirektion angeordnet werden; im Kanton Bern kann dies durch subalterne Angehörige des Polizeikorps verfügt werden. Zwar bringt das Büro des Grossen Rats vor, dass eine Räumung nicht durch einen einzelnen Polizisten oder eine einzelne Polizistin erfolgen würde, sondern im Rahmen eines Grosseinsatzes. Eine solche Gewährleistung ergibt sich jedoch nicht aus dem Gesetz. Eine Räumung kann gemäss LSCN/NE sodann nur auf Antrag der Eigentümerin oder des Eigentümers des Grundstücks, der berechtigten Person oder einer Aufsichtsbehörde verfügt werden. Diese müssen überdies die Gründe der Rechtswidrigkeit des Aufenthalts angeben, gegebenenfalls anhand des abgeschlossenen Rahmenvertrags (vgl. Art. 25 LSCN/NE). Das Neuenburger Gesetz sieht ausserdem ausdrücklich vor, dass die Vertreterin oder der Vertreter der Fahrenden vor einer allfälligen Räumung von einer Aufsichtsbehörde angehört wird; die Aussagen werden protokolliert und an die Polizeidirektion weitergeleitet (Art. 26 LSCN/NE). Im Gegensatz dazu sehen die Berner Bestimmungen nicht ausdrücklich vor, dass den Fahrenden rechtliches Gehör gewährt wird; da die Wegweisung schriftlich vor Ort verfügt wird, bleibt auch keine Zeit, allfällige Aussagen der Fahrenden zu protokollieren und der Polizeidirektion vor einem Räumungsentscheid zu unterbreiten. Schliesslich muss die Räumungsverfügung im Kanton Neuenburg schriftlich ergehen, die Gründe für die Räumung nennen und ein Datum für die Abreise bzw. Räumung festsetzen (Art. 27 LSCN/NE). Das Polizeigesetz des Kantons BernBGE 147 I 103 (125) BGE 147 I 103 (126)hingegen enthält keine näheren Bestimmungen zur Nennung der Gründe für die Räumung. Zudem kann (und soll nach dem Willen des Gesetzgebers) eine Räumung innerhalb von 24 Stunden erfolgen. Innerhalb dieser Frist ist es praktisch unmöglich, eine Beschwerde - allenfalls in einer Fremdsprache - zu verfassen und einzureichen, zumal die Verfügung im Regelfall keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. Art. 89 PolG/BE).
Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich, dass die Neuenburger Gesetzgebung zu den Fahrenden über mehrere Schutzmechanismen verfügt, die eine Einhaltung des Verhältnismässigkeitsprinzips sichert; die Berner Bestimmungen bieten dahingegen nur einen sehr eingeschränkten Rechtsschutz. Während die Räumung im Neuenburger Gesetz als Ultima Ratio konzipiert ist, erscheint sie im PolG/BE als Normalfall.
Beim Halt der (meist ausländischen) Fahrenden auf der Durchreise wiegen die entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen (vgl. oben E. 14.4.3.1) weniger schwer, da die Aufenthaltsdauer in der Regel kurz ist. Zwar wiegt auch der Anspruch der Fahrenden auf Privat- und Familienleben in dieser Konstellation weniger schwer. Angesichts des mangelhaften Rechtsschutzes, den das PolG/BE bietet, überwiegt er jedoch in der Interessenabwägung, womit sich Art. 83 Abs. 1 lit. h und Art. 84 Abs. 4 PolG/BE auch für (meist ausländische) Fahrende auf der Durchreise als unzumutbar erweisen.
Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine Wegweisung von illegal campierenden Fahrenden oder anderen illegal Campierenden unter Umständen auch aufgrund eines anderen Tatbestands von Art. 83 Abs. 1 PolG/BE erfolgen kann, insbesondere wenn eine Gefährdung oder Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt (lit. a). Die Kantonspolizei hat auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 2 PolG/BE auch die Möglichkeit, die Wegweisung zuBGE 147 I 103 (126) BGE 147 I 103 (127)vollziehen und den illegalen Halteplatz zu räumen. Dabei hat die Kantonspolizei jedoch die Garantien des Gesetzes des Kantons Bern vom 23. Mai 1989 über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG/BE; BSG 155.21) zu beachten und die Verhältnismässigkeit der Massnahme im Einzelfall zu prüfen. Eine Räumung ist im Regelfall nur denkbar, wenn ein zumutbarer Ersatzhalteplatz im Kanton für Fahrende zur Verfügung steht.
Bei dieser Sachlage erübrigt es sich zu prüfen, ob die angefochtenen Bestimmungen auch gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV), das Rechtsgleichheitsgebot (Art. 8 Abs. 1 BV), das Willkürverbot (Art. 9 BV), die Niederlassungsfreiheit (Art. 24 Abs. 1 BV) und gegen verfahrensrechtliche Garantien (Art. 29, 29a und 30 BV; Art. 6 und 13 EMRK) verstossen. Auch die Rügen betreffend Art. 83 Abs. 2 und Art. 89 Abs. 1 PolG/BE erübrigen sich: die Beschwerdeführenden rügen deren Verfassungswidrigkeit nur hinsichtlich der Fahrenden; für alle anderen Fälle enthält ihre Beschwerde keine Begründung und ist daher abzuweisen.
Observation und Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten
Art. 118 PolG/BE normiert zweierlei: Zum einen regelt Art. 118 Abs. 1 PolG/BE - analog zu Art. 282 f. StPO - die Observation, d.h. die verdeckte Beobachtung von verdächtigen Personen, unter Umständen mithilfe von Bild- und Tonaufnahmen. Darüber hinaus normiert Art. 118 Abs. 2 PolG/BE auch den Einsatz von technischen Überwachungsgeräten, um den Standort von Personen oder Sachen festzustellen. Insofern unterscheidet sich die bernische Regelung in relevanter Weise von derjenigen der StPO, welche diese Massnahme nicht unter den Tatbestand der Observation subsumiert, sondern unter denjenigen der Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten (Art. 280 f. StPO). Diese Überwachungsmassnahme unterliegt einer anderen, restriktiveren Regelung, die im Wesentlichen derjenigen für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs nachgebildet ist (vgl. Art. 281 Abs. 4 StPO).
Die Standortermittlung bzw. die Überwachung (in Echtzeit) durch ein am Fahrzeug der beobachteten Person befestigten GPS-Peilgerät stellt ebenfalls einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar. Das Bundesgericht hat sich mehrmals zur Schwere dieses Grundrechtseingriffs geäussert. Im nicht publizierten Urteil 1B_252/2017 vom 21. Februar 2018 bezeichnete es die Standortermittlung gemäss Art. 280 lit. c StPO als einen empfindlichen Eingriff in die Privatsphäre (E. 6.7). In BGE 144 IV 370 hielt das Bundesgericht fest, der Eingriff in die Privatsphäre durch ein GPS-Gerät dürfe nicht unterschätzt werden (E. 2.3 S. 373 ff.; vgl. auch BGE 146 IV 36 E. 2.1 S. 40). Der Eingriff wiege zwar weniger schwer als bei einer Abhörung und Aufzeichnung von nicht öffentlichen Gesprächen und der Beobachtung oder Aufzeichnung von Vorgängen an nicht öffentlichen oder nicht allgemein zugänglichen Orten (BGE 144 IV 370 E. 2.3 S. 373 ff.). Es gelte jedoch zu berücksichtigen, dass BGE 147 I 103 (128) BGE 147 I 103 (129)das GPS-Gerät im Unwissen der überwachten Person an deren Fahrzeug angebracht werde; dahingegen sei es zum Beispiel bekannt, dass die Randdaten der Fernmeldekommunikation - aus denen sich ebenfalls ablesen lässt, wo sich die überwachte Person aufhielt - aufbewahrt und gespeichert würden (BGE 144 IV 370 E. 2.3 S. 375 f.; vgl. auch BGE 142 IV 34 E. 4.3.2 S. 38).
Der Bundesrat schliesslich geht in der Botschaft zum Nachrichtendienstgesetz davon aus, dass die dort vorgesehenen Massnahmen, wozu auch das Orten des Standorts von Personen oder Sachen durch GPS-Geräte gehört, "stark in die Grundrechte eingreifen" (Botschaft vom 19. Februar 2014 zum Nachrichtendienstgesetz [nachfolgend: Botschaft NDG], BBl 2014 2105 ff., 2169).
Auch der EGMR hat die Überwachung durch ein an einem Fahrzeug befestigten GPS-Gerät mehrmals als einen Eingriff in die Privatsphäre gemäss Art. 8 EMRK bezeichnet; er äusserte sich jedoch nicht abschliessend zu dessen Schweregrad (Urteile Uzun gegen Deutschland vom 2. September 2010, § 52, und Ben Faiza gegen Frankreich vom 8. Februar 2018, § 55).
Insgesamt ergibt sich, dass bei der (Echtzeit)Überwachung durch ein an einem Fahrzeug befestigten GPS-Gerät von einem nicht leichten Eingriff in die Privatsphäre auszugehen ist.
Das Legalitätsprinzip gemäss Art. 36 Abs. 1 BV verlangt eine hinreichende und angemessene Bestimmtheit der anzuwendenden Rechtssätze (BGE 144 I 126 E. 6.1 S. 137 f.). Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt festlegen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und von der erst bei der Konkretisierung im Einzelfall möglichen und sachgerechten Entscheidung ab (BGE 144 I 126 E. 6.1 S. 138; BGE 143 I 253 E. 6.1 S. 264; BGE 140 I 381 E. 4.4 S. 386).
Im Polizeirecht stösst das Bestimmtheitserfordernis aufgrund des Regelungsbereichs auf besondere Schwierigkeiten. Die Aufgaben der Polizei und die Begriffe der öffentlichen Sicherheit undBGE 147 I 103 (129) BGE 147 I 103 (130)Ordnung lassen sich kaum abstrakt umschreiben. Die Polizeitätigkeit richtet sich gegen nicht im Einzelnen bestimmbare Gefährdungsarten und Gefährdungsformen in vielgestaltigen und wandelbaren Verhältnissen und ist demnach situativ den konkreten Umständen anzupassen (BGE 140 I 381 E. 4.4 S. 386 mit Hinweisen).
In gewissem Ausmass kann jedoch die Unbestimmtheit von Normen durch verfahrensrechtliche Garantien kompensiert werden, und es kommt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit besondere Bedeutung zu (BGE 136 I 87 E. 3.1 S. 90 f.).
Die GPS-Überwachung gemäss Art. 118 Abs. 2 PolG/BE darf zur Erkennung und Verhinderung jeglicher Verbrechen oder Vergehen angeordnet werden; eine besondere Schwere der Tat ist somit nicht vorausgesetzt. Es müssen lediglich "ernsthafte Anzeichen dafür bestehen, dass Verbrechen oder Vergehen vor der Ausführung stehen" (Art. 118 Abs. 1 lit. a PolG/BE). Die GPS-Überwachung ist ausserdem subsidiär zu anderen Massnahmen der Informationsbeschaffung (Art. 118 Abs. 1 lit. b PolG/BE). Weiter bedarf die Massnahme keiner vorgängigen richterlichen Genehmigung; hat die Observation jedoch einen Monat gedauert, bedarf ihre Fortsetzung einer Genehmigung durch das kantonale Zwangsmassnahmengericht (Art. 119 PolG/BE). Schliesslich müssen die beobachteten Personen nachträglich über die Observation informiert werden (Art. 120 Abs. 1 i.V.m. Art. 283 StPO). Die Mitteilung darf hier im Gegensatz zu Art. 279 Abs. 2 StPO (der Kraft des Verweises von Art. 281 Abs. 4 StPO für die strafprozessuale Überwachung mit technischen Geräten gilt) auch ohne Zustimmung des Zwangsmassnahmengerichts unter den Voraussetzungen von Art. 283 Abs. 2 lit. a und b StPO aufgeschoben oder unterlassen werden.
Im Gegensatz zur Vereinbarkeit der präventiven Observation mit Bild- und Tonaufnahmen mit dem Recht auf Privatsphäre (vgl. BGE 140 I 381 E. 4.4.1) hat das Bundesgericht entgegen der Ansicht des Regierungsrats diese Frage noch nicht beantwortet.
Gemäss Art. 26 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 27 Abs. 1 NDG ist der Einsatz von GPS-Geräten genehmigungspflichtig und kann nur angeordnet werden, wenn eine konkrete Bedrohung im Sinne von Artikel 19 Absatz 2 Buchstaben a-d gegeben ist oder die Wahrung weiterer wichtiger Landesinteressen nach Artikel 3 dies erfordert, die Schwere der Bedrohung die Massnahme rechtfertigt und die nachrichtendienstlichen Abklärungen bisher erfolglos waren, sonst aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden (Art. 27 Abs. 1 NDG). Die Massnahme bedarf sodann der Genehmigung des Bundesverwaltungsgerichts sowie der Freigabe durch die Vorsteherin oder den Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). Gemäss Bundesrat bewirkt dieses zweistufige Verfahren, dass der Einsatz von den vom NDG vorgesehenen Beschaffungsmassnahmen, wozu auch die GPS-Überwachung zählt, nicht nur nach rechtlichen, sondern auch nach politischen Gesichtspunkten beurteilt wird (Botschaft NDG, BBl 2014 2165 f.). Schliesslich ist der NDB verpflichtet, nachträglich die überwachte Person über die Massnahmen zu informieren; ein Aufschub oder ein Verzicht der Mitteilung ist nur nach Durchlaufen des zweistufigen Genehmigungsverfahrens möglich (Art. 33 NDG).BGE 147 I 103 (132)
BGE 147 I 103 (133)Die präventive Überwachung mittels GPS-Gerät unterliegt somit auf Bundesebene gleich strengen, wenn nicht gar strengeren Voraussetzungen als die GPS-Überwachung im Rahmen einer Strafuntersuchung. Der Bundesrat hat die Schwere des Grundrechtseingriffs durch eine GPS-Überwachung in seiner Botschaft ausdrücklich thematisiert, erachtete den Grundrechtseingriff jedoch als gerechtfertigt aufgrund der verfahrensrechtlichen Garantien, insbesondere des zweistufigen Genehmigungsverfahrens. Der Vergleich mit dem NDG stellt ein gewichtiges Indiz dafür dar, dass die weniger strengen Voraussetzungen des PolG/BE den Grundrechtseingriff nicht zu rechtfertigen vermögen.
 
Erwägung 17.5
 
Auch der EGMR hat wiederholt festgehalten, dass verdeckte Überwachungsmassnahmen aufgrund der fehlenden Kontrolle durch die Öffentlichkeit und der Missbrauchsgefahr nur mit dem Legalitätsprinzip vereinbar sind, sofern das Gesetz adäquate und hinreichende Garantien gegen willkürliche Eingriffe in die Privatsphäre vorsieht( Ben Faiza gegen Frankreich, § 59; Uzun gegen Deutschland, § 63 mit Hinweisen).BGE 147 I 103 (135)