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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Die Beschwerdeführerin beantragt die Feststellung, das Ur ...
4. Die Beschwerdeführerin hat im Revisionsgesuch vom 21. Jan ...
5. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Stadt Liestal gegen Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_455/2020 vom 2. Dezember 2020
 
 
Regeste
 
Art. 30 Abs. 1 BV; Beurteilung eines nach Fällung des letztinstanzlichen kantonalen Urteils, aber vor Ablauf der Beschwerdefrist beim Bundesgericht entdeckten Ausstandsgrunds in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts.
 
Wirkt ein Richter, der zugleich als Exekutivmitglied einer Gemeinde amtiert, in einem Verfahren betreffend den interkommunalen Finanzausgleich mit, welches auf Gesuch einer anderen Gemeinde des gleichen Kantons veranlasst wurde, liegt eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV vor (E. 5).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 147 I 173 (174)A. Mit Schreiben vom 12. Januar 2016 stellte der Stadtrat der Einwohnergemeinde Liestal (Kanton Basel-Landschaft; nachfolgend: Stadt Liestal) an den Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft ein Gesuch um Ausrichtung eines Härtebeitrags in der Grössenordnung von rund Fr. 2 Mio. aus dem kantonalen Ressourcenausgleichsfonds für das Jahr 2014. Anlass für das entsprechende Gesuch waren die markant zunehmenden Sozialhilfekosten, die für die Stadt Liestal zu einer finanziellen Belastung geführt hatten.
B. Mit Beschluss Nr. 1827 vom 20. Dezember 2016 lehnte der Regierungsrat das Gesuch der Stadt Liestal ab. Die gegen den Beschluss vom 20. Dezember 2016 erhobene Beschwerde der Stadt Liestal wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Urteil vom 13. September 2017 ab. Mit Urteil 2C_127/2018 vom 30. April 2019 hob das Bundesgericht das Urteil des Kantonsgerichts vom 13. September 2017 infolge einer unrechtmässigen Kognitionsbeschränkung bei der Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts auf und wies die Angelegenheit zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurück. Mit Urteil vom 18. Dezember 2019 wies das Kantonsgericht die Beschwerde erneut ab. Das Urteil wurde gleichentags mündlich eröffnet. Das schriftlich begründete Urteil ging bei der Stadt Liestal am 5. Mai 2020 ein.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 29. Mai 2020 gelangt die Stadt Liestal gegen das am 5. Mai 2020 schriftlich eröffnete Urteil vom 18. Dezember 2019 an das Bundesgericht. Sie verlangt die Feststellung, dass das Urteil vom 18. Dezember 2019 nichtig sei. Eventualiter seiBGE 147 I 173 (174) BGE 147 I 173 (175)das Urteil vom 18. Dezember 2019 aufzuheben und das Gesuch vom 12. Januar 2016 um Ausrichtung eines Härtebeitrags gutzuheissen. Subeventualiter sei das Urteil vom 18. Dezember 2019 aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.
(Zusammenfassung)
 
4.2 Die dargelegte bundesgerichtliche Rechtsprechung wirft die Frage auf, ob es in der vorliegenden Angelegenheit sachgerechtBGE 147 I 173 (177) BGE 147 I 173 (178)erscheint, die Rechtsprechung im Zivil- und Strafrecht zur Beurteilung von Ausstandsgründen während laufender Beschwerdefrist auf das Öffentliche Recht zu übertragen.
5.1 Gemäss Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einer oder einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richterin oder Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Ob diese Garantien verletztBGE 147 I 173 (178) BGE 147 I 173 (179)sind, prüft das Bundesgericht frei. Sie werden verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit begründen. Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung angenommen, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Mitglieds des Spruchkörpers zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten der betreffenden Person oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur begründet sein. Nicht verlangt wird, dass die Person tatsächlich voreingenommen ist, sondern es genügt der objektiv gerechtfertigte Anschein (vgl. BGE 140 I 240 E. 2.2 S. 242; BGE 137 I 227 E. 2.1 S. 229). Die Befangenheit einer Richterin oder eines Richters kann sich nicht nur aus der besonderen Konstellation im Einzelfall, sondern auch aus der vom Kanton gewählten Gerichtsorganisation ergeben (vgl. BGE 136 I 207 E. 3.2 S. 210 f.). Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung muss der Ablehnungs- oder Ausstandsgrund unverzüglich nach Kenntnisnahme geltend gemacht werden (vgl. BGE 144 IV 35 E. 2.2 i.f. S. 41; BGE 140 I 240 E. 2.4 S. 244; BGE 126 III 249 E. 3c S. 253).
5.2.1 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung begründet die blosse Kollegialität zwischen den Mitgliedern eines Gerichts keine Ausstandspflicht: In diesem Sinne verneinte das Bundesgericht eine Ausstandspflicht für Bundesrichterinnen und Bundesrichter in einer Angelegenheit, in der (einer) der Beschwerdeführer vor Bundesgericht ein ehemaliger nebenamtlicher Bundesrichter gewesen war (vgl. BGE 141 I 78 E. 3.3 S. 82). Gleiches erwog es für eine Konstellation, in der der Rechtsvertreter, der eine Partei vor dem Verwaltungsgericht vertrat, zugleich nebenamtlicher Richter am selben Gericht war. Der blosse Umstand, dass ein Parteivertreter in Drittverfahren am (selben) Gericht ein Ersatzrichteramt bekleidet, stellt im Grundsatz die Unbefangenheit der Gerichtsmitglieder nicht in Frage (vgl. BGE 139 I 121 E. 5 S. 125 ff.). Als unbefangen erschien auch die Richterin in einem Prozess, in dem ein Mitglied der Rechtsmittelinstanz als Parteivertreter auftrat. Die Beziehung einer unterinstanzlichen Richterin zu einem Anwalt, der gleichzeitig Mitglied einer Rechtsmittelinstanz ist, geht im Allgemeinen nicht wesentlichBGE 147 I 173 (179) BGE 147 I 173 (180)über die Kollegialität unter Mitgliedern desselben Gerichts hinaus (vgl. BGE 133 I 1 E. 6.6 S. 9). Es ist auch nicht verfassungswidrig, wenn ein Ersatzrichter einer oberen Gerichtsbehörde über ein Rechtsmittel gegen einen Entscheid einer unteren Gerichtsbehörde befindet, der er selber als ordentliches Mitglied angehört (vgl. Urteil 4A_388/ 2014 vom 24. September 2014 E. 3.3).
Das Bundesgericht hatte sich sodann wiederholt mit Fällen zu befassen, in denen ein nebenamtlicher Richter wegen seiner hauptberuflichen Tätigkeit in einer Anwaltskanzlei mit einer Prozesspartei besonders verbunden war: Ein als Richter amtender Anwalt erschien als befangen, solang zu einer der Prozessparteien ein noch offenes Mandat bestand oder wenn er für eine Prozesspartei in dem Sinne mehrmals anwaltlich tätig wurde, dass eine Art Dauerbeziehung vorlag (vgl. BGE 138 I 406 E. 5.3 f. S. 407 ff.; BGE 135 I 14 E. 4.1 S. 15 f.). Der Anschein der Befangenheit ergab sich auch bei einem nebenamtlichen Richter, wenn nicht er ein Mandat mit einer Prozesspartei unterhielt, sondern ein anderer Anwalt seiner Kanzlei (vgl. BGE 139 III 433 E. 2.1.5 S. 438). Ausserdem bejahte das Bundesgericht eine besondere Verbundenheit und damit den Anschein der Befangenheit, als ein offenes Mandat des als nebenamtlicher Richter tätigenBGE 147 I 173 (180) BGE 147 I 173 (181)Anwalts oder seiner Kanzlei nicht nur zu einer Verfahrenspartei, sondern auch zu einer mit dieser eng verbundenen Person (Konzernschwestergesellschaft) bestand (vgl. BGE 139 III 433 E. 2.3 f. S. 441 ff.).
5.3.1 Die Mitwirkung von A. erweist sich deshalb als bedenklich, da er als mitwirkender Kantonsrichter, der zugleich als Gemeinderat amtiert, auf Ersuchen einer anderen Gemeinde des gleichen Kantons über eine Angelegenheit des interkommunalen Finanzausgleichs urteilt. Unabhängig von der Auslegung der kantonalrechtlichen Bestimmungen ist der vorliegenden Angelegenheit aufgrund der zu beurteilenden (inter-)kommunalen Thematik eine Befangenheit immanent: Als amtierendes Mitglied einer Gemeindexekutive urteilt A. in seiner kantonalen richterlichen Funktion über eine Angelegenheit einer anderen Gemeinde. Die Beantwortung der Rechtsfragen, die sich im Zusammenhang mit der Beurteilung des interkommunalen Finanzausgleichs stellen, wirkt sich nicht lediglich auf die Beschwerdeführerin aus. Sie hat potenziell auch auf die Gemeinde einen Einfluss, in deren Gemeinderat A. Mitglied ist. Er ist als Kantonsrichter zufolge seines Doppelmandats bei objektiver Betrachtung befangen, da der Anschein besteht, dass er bei der Anwendung der kantonalen Bestimmungen zum interkommunalen Finanzausgleich Interessen aus seiner Tätigkeit als Mitglied der Exekutive einer anderen Gemeinde wahrnehmen könnte. Dass die Gemeinde U., in der A. als Gemeinderat amtet, finanziell von einer Ablehnung des Gesuchs der Beschwerdeführerin "nur marginal betroffen" - d.h. im Umfang von 2,3 % oder von rund Fr. 46'000.- - sein soll, ändert daran entgegen der Auffassung des Regierungsrats nichts. Infolgedessen ergibt sich durch seine Mitwirkung im vorinstanzlichen Verfahren eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV.
5.3.2 Für ein solches Verständnis sprechen überdies die einschlägigen kantonalen Bestimmungen: Auch wenn § 34 Abs. 3 GOG bloss vorsieht, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinden nicht in eine Abteilung des Kantonsgerichts Einsitz nehmen können, die Verfassungs- und Verwaltungssachen zu beurteilen hat, scheint es, als hätte der kantonale Gesetzgeber mit § 34 Abs. 5 GOG für Gerichtsmitglieder in bestimmten Konstellationen bewusst eineBGE 147 I 173 (181) BGE 147 I 173 (182)weitergehende Unvereinbarkeitsregelung angestrebt. Das Gerichtsorganisationsgesetz, das für A. in seiner Funktion als Kantonsrichter anwendbar ist, behält ausdrücklich Unvereinbarkeitsvorschriften anderer Gesetze vor (vgl. § 34 Abs. 5 GOG). Gemäss § 9 Abs. 1 GemG dürfen Mitglieder des Kantonsgerichts nicht den Gemeindebehörden und den Kontrollorganen angehören. Insofern liegt entgegen der Auffassung des Regierungsrats kein Normkonflikt zwischen dem kantonalen Gerichtsorganisations- und dem kantonalen Gemeindegesetz vor. Vielmehr wird das Gerichtsorganisationsgesetz aufgrund des Vorbehalts von § 34 Abs. 5 GOG mit der Unvereinbarkeitsbestimmung des Gemeindegesetzes ergänzt.
Somit stellt der geltend gemachte Ausstandsgrund eine erhebliche Tatsache dar, die im vorinstanzlichen Verfahren bis zur mündlichen Urteilseröffnung nicht hätte geltend gemacht werden müssen und als Beschwerdegrund im Rechtsmittelverfahren vor Bundesgericht noch vorgebracht werden kann (vgl. auch § 40 Abs. 2 lit. c des Verwaltungsverfahrensgesetzes Basel-Landschaft vom 13. Juni 1988 [VwVG/ BL; SGS 175]).
5.4 Nach dem Dargelegten liegt eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV vor. Im Grundsatz ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ein unter Missachtung von Ausstandspflichten zustande gekommener Entscheid unabhängig von seiner inhaltlichen Richtigkeit aufzuheben (vgl. Urteil 1C_517/2018 vom 4. April 2019 E. 3). Damit erübrigt sich die Behandlung des Hauptantrags um Feststellung derBGE 147 I 173 (182) BGE 147 I 173 (183)Nichtigkeit sowie der materiellen Aspekte der Beschwerde. Ausserdem kann offenbleiben, ob der Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK, dessen Verletzung die Beschwerdeführerin ebenfalls rügt, bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem interkommunalen Finanzausgleich eröffnet ist.BGE 147 I 173 (183)