2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) | |
1B_420/2022 vom 9. September 2022 | |
Regeste | |
Art. 30 Abs. 1 BV; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf ein unabhängiges Gericht; Gefährdung der internen gerichtlichen Unabhängigkeit durch informelle Hierarchien.
| |
Der Schutzbereich der Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK umfasst nicht bloss die gegen äussere Beeinflussung gerichtete richterliche Unabhängigkeit, sondern auch die interne Unabhängigkeit der Gerichtspersonen, namentlich die Autonomie der einzelnen Gerichtsmitglieder im Kollegialgericht. Letztere kann nicht nur durch formelle Hierarchien, sondern auch durch informelle Hierarchien innerhalb des Spruchkörpers gefährdet sein. Die vorliegend zu beurteilende Einsetzung einer Gerichtsschreiberin und eines Gerichtsschreibers der entscheidenden Kammer als Richterin und Richter in eben dieser Kammer ist nicht mit dem Anspruch auf ein unabhängiges Gericht zu vereinbaren (E. 5).
| |
Sachverhalt | |
![]() | |
B. A. wurde am 22. Juni 2022 festgenommen und mit Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Bezirks Zürich vom 25. Juni 2022 gestützt auf den dringenden Tatverdacht der Veruntreuung wegen Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft versetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht Zürich mit Beschluss vom 26. Juli 2022 ab.
| |
C. Mit Eingabe vom 15. August 2022 erhebt A. beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Nichtigkeit des Beschlusses des Obergerichts sowie der Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts festzustellen und ihn unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Eventualiter beantragt er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und seine sofortige Entlassung respektive die Rückweisung der Sache zum neuen Entscheid.
| |
(...)
| |
(Auszug)
| |
Erwägung 1 | |
1.1 Der angefochtene kantonal letztinstanzliche Entscheid betrifft die Anordnung von Untersuchungshaft (Art. 220 Abs. 1 StPO). ![]() ![]() | |
Dem kann nicht gefolgt werden. Nach ständiger Rechtsprechung führt ein während des laufenden Haft-Beschwerdeverfahrens ergangener Entscheid über die Verlängerung der Untersuchungshaft nicht dazu, dass das aktuelle praktische Interesse an der Behandlung der Haftbeschwerde dahinfallen würde (BGE 139 I 206 E. 1.2; zuletzt Urteil 1B_78/2022 vom 2. März 2022 E. 2.4 mit Hinweisen). Es rechtfertigt sich nicht, die Situation anders zu behandeln, wenn der neue Haftentscheid nicht auf die Initiative der Staatsanwaltschaft (Gesuch um Haftverlängerung), sondern der beschuldigten Person (Gesuch um Haftentlassung) zurückzuführen ist, zumal die Problematik sich widersprechender Entscheide in beiden Situationen identisch ist. Eine Abschreibung des Beschwerdeverfahrens zufolge Gegenstandslosigkeit fällt mit Blick auf die nach wie vor andauernde Haft des Beschwerdeführers somit ausser Betracht.
| |
(...)
| |
![]() | |
5.3 Ob die Einsetzung einer Gerichtsschreiberin oder eines Gerichtsschreibers der entscheidenden Kammer als Ersatzrichterin oder ![]() ![]() | |
Richterliche Unabhängigkeit bedeutet zunächst einmal die Unabhängigkeit vor externer Einflussnahme, namentlich durch die anderen Staatsgewalten oder die Parteien (vgl. BGE 123 II 511 E. 5c). Eine Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK ![]() ![]() | |
Diese Grundsätze schlagen sich auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nieder. Dieser hat wiederholt eine Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit festgestellt, obwohl die jeweiligen Gerichtspersonen in ihrer rechtsprechenden Funktion nicht (direkt) weisungsgebunden waren oder ihnen eine solche Weisungsfreiheit sogar gesetzlich zugesichert wurde, und ohne dass Anzeichen für eine konkrete externe Einflussnahme vorgelegen hätten. Ausschlaggebend war, dass die betroffenen Gerichtspersonen in jeweils anderer Funktion gegenüber der (am Verfahren beteiligten) Verwaltung (Urteil des EGMR Sramek gegen Österreich vom 22. Oktober 1984, Nr. 8790/79, § 41 f.) oder gegenüber den Strafbehörden (Urteil des EGMR Belilos gegen Schweiz vom 29. April 1988, Nr. 10328/83, § 63 ff.) in einem Weisungsverhältnis standen, womit zumindest der Anschein bestand, dass es an der erforderlichen Unabhängigkeit gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK mangle.
| |
In der Literatur wird einhellig darauf hingewiesen, dass neben der gegen äussere Beeinflussung gerichteten Unabhängigkeit auch der internen Unabhängigkeit der Gerichtsperson (sog. richterliche Eigenständigkeit; vgl. EICHENBERGER, a.a.O., S. 48), wozu namentlich die Autonomie im Kollegialgericht gehört ![]() ![]() | |
Problematisch sind indessen nicht nur formelle Hierarchien innerhalb eines Gerichts. Auch Einflüsse, welche sich aus sogenannt informellen ![]() ![]() | |
5.3.4 Im Zusammenhang mit der vorliegend streitigen Praxis des Obergerichts Zürich weisen HAUSER/SCHWERI/LIEBER darauf hin, dass es zumindest "als nicht ganz unbedenklich" erscheine, wenn eine Gerichtsschreiberin als Ersatzrichterin oder ein Gerichtsschreiber als Ersatzrichter gegenüber seinen eigenen Vorgesetzten bzw. seiner Anstellungsbehörde, also in einer strukturellen Hierarchie, unabhängig und unbefangen entscheiden müsse (HAUSER/SCHWERI/LIEBER, a.a.O., N. 5 zu § 11 GOG/ZH). Andere Lehrmeinungen sind, wenn auch nicht unmittelbar auf die vorliegend streitige Praxis des Kantons Zürich bezogen, pointierter. Nach REITER biete der Einsatz von Gerichtsschreiberinnen als Richterinnen bzw. Gerichtsschreibern als Richter zwar im Hinblick auf die zeitliche Effizienz signifikante Vorteile. Dies vermöge jedoch die Gefahren nicht aufzuwiegen, welche sich aufgrund der informellen Hierarchien im kollegialen Spruchkörper ergeben würden. Aus verfassungs- und völkerrechtlicher Perspektive liege es daher nahe, eine solche Doppelfunktion von Gerichtsschreiber- und kollegial rechtsprechender Richtertätigkeit zu verbieten (REITER, a.a.O., S. 170 Rz. 331 ff.; für eine solche Lösung siehe bspw. Art. 43 Abs. 1 Gerichtsorganisationsgesetz des Kantons Graubünden vom 16. Juni 2010 [BR 173.000]). Nach REITER/STADELMANN ist die "Gefahr informeller Hierarchien" schliesslich zumindest dann "nicht mehr als gering" einzuschätzen, wenn ein Gerichtsmitglied auf die Karriere eines anderen Mitglieds Einfluss nehmen könne (REITER/STADELMANN, a.a.O., RZ. 16 Fn. 32); ![]() ![]() | |
Auch das Bundesgericht hatte sich bereits mit einer ähnlichen Fragestellung auseinanderzusetzen, nämlich ob im Lichte von Art. 30 Abs. 1 BV ein an einem Gericht weisungsabhängig arbeitender Gerichtsschreiber am gleichen Gericht als Einzelrichter tätig sein könne (Urteil 2C_334/2015 vom 19. Mai 2015 E. 3.2). Im Hinblick auf den genannten (speziell gelagerten) Einzelfall hatte das Bundesgericht festgehalten, der in Frage stehende Gerichtsschreiber könne bei seiner Einzelrichtertätigkeit nicht als unabhängiger Einzelrichter bezeichnet werden, wenn er im Rahmen seiner übrigen Tätigkeit als Gerichtsschreiber der Weisungsbefugnis der Statthalterin (die ein konnexes Verfahren behandelt hatte) unterstellt sei (zit. Urteil 2C_ 334/2015 E. 4.). Die im zit. Urteil 2C_334/2015 behandelte Problematik wird im hier zu entscheidenden Fall dadurch akzentuiert, dass nicht eine Einzelrichtertätigkeit einer weisungsabhängig arbeitenden Gerichtsschreiberin bzw. Gerichtsschreibers, sondern deren Einsitz in einem Kollegialgericht streitig ist (vgl. E. 5.3.3 hiervor).
| |
5.3.5 Der Vorinstanz ist insofern zuzustimmen, dass die eingesetzte Ersatzoberrichterin und der eingesetzte Ersatzoberrichter den ordentlichen Mitgliedern des Obergerichts rechtlich gleichgestellt und somit formell, in Ausübung ihrer Richterfunktion, nicht weisungsgebunden sind. Indessen gesteht die Vorinstanz selbst zu, dass die Ersatzoberrichterin und der Ersatzoberrichter sich in ihrer parallel ausgeübten (hauptamtlichen) Tätigkeit als Gerichtsschreiberin und Gerichtsschreiber dem Oberrichter Andreas Flury gegenüber in einem formellen Subordinationsverhältnis befinden, woran auch der Umstand nichts zu ändern vermag, dass die Gerichtsschreiberinnen und Gerichtsschreiber innerhalb der Gerichtsorganisation (direkt) der Leitenden Gerichtsschreiberin unterstellt sein sollen. Verstärkt wird diese Problematik sodann durch den Umstand, dass gemäss § 30 der Verordnung vom 3. November 2010 über die Organisation des Obergerichts (LS 212.51) der Vorsitzende der Kammer, der ebenfalls Mitglied des Spruchkörpers der Vorinstanz ist, die Besetzung des Gerichts bestimmt, und es somit in seinem pflichtgemässen Ermessen liegt, wann und in welcher Funktion er die zugleich in Gerichtsschreiber- und Richterfunktion tätigen Mitglieder seiner Kammer einsetzt. Ob die Mitglieder des vorinstanzlichen ![]() ![]() | |
Mit Blick auf die hiervor dargestellte Rechtsprechung und unter Würdigung der einschlägigen Lehre ist festzuhalten, dass die zeitgleich ausserhalb des Spruchkörpers bestehende (unbestrittene) formelle Hierarchie zwischen den Mitgliedern des vorinstanzlichen Spruchkörpers zumindest den Anschein einer informellen Hierarchie innerhalb des Spruchkörpers schafft, die geeignet ist, die interne richterliche Unabhängigkeit der als Ersatzrichterin bzw. Ersatzrichter eingesetzen Personen zu beeinträchtigen. Dies ist umso gewichtiger, als sich dieser Anschein der fehlenden Unabhängigkeit des Spruchkörpers aus den gewählten organisatorischen Gegebenheiten ergibt (vgl. BGE 147 III 577 E. 6) und demnach auch durch geeignete organisationsrechtliche Massnahmen verhindert werden kann und muss (vgl. REITER/STADELMANN, a.a.O., Rz. 15 f.). Welche konkreten Massnahmen dies sind, ist eine Frage der grundsätzlich den Kantonen obliegenden Gerichtsorganisation (vgl. Art. 14 Abs. 2 StPO).
| |
5.5 Auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers braucht infolge Gutheissung der Beschwerde nicht eingegangen zu werden. Da der ![]() ![]() ![]() |