7. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. und B. gegen Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und A. gegen Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_374/2022 / 8C_421/2022 vom 5. Dezember 2022 | |
Regeste | |
Art. 29 Abs. 1 und 3 BV; Art. 58 Abs. 3 und Art. 61 lit. f ATSG; § 81 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 23. Februar 1981 über die Verwaltungsrechtspflege; unentgeltlicher Rechtsbeistand; ausserkantonaler Anwalt.
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Kantonale Regelungen, wonach nur im eigenen Kanton registrierte Anwälte mit amtlichen Mandaten betraut werden können, lassen sich rechtsprechungsgemäss sachlich begründen und sind mit Art. 29 Abs. 3 BV grundsätzlich vereinbar. In besonderen Fällen, namentlich wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt existiert oder der Anwalt sich bereits in einem vorangegangenen Verfahren mit der Sache befasst hat, dürfen kantonale Bestimmungen dem Einsetzen eines ausserkantonalen unentgeltlichen Rechtsbeistands jedoch nicht entgegenstehen (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 6.3).
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Die Verneinung der ausnahmsweisen Bestellung eines ausserkantonalen unentgeltlichen Rechtsbeistands mit der Begründung, das vor dem Versicherungsgericht geführte Beschwerdeverfahren stelle im Verhältnis zum bisherigen, vor dem unzuständigen Gericht geführten Verfahrensteil kein neues Verfahren im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dar, weshalb sich der Beschwerdeführer bzw. sein Rechtsvertreter nicht auf ein vorbestehendes Vertrauensverhältnis bzw. auf eine Vertretung in einem vorangehenden Verfahren berufen könne, stellt eine überspitzt formalistische Betrachtungsweise dar und hält vor Bundesrecht nicht stand (E. 7.2).
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Sachverhalt | |
A. Mit Verfügung vom 19. Januar 2021 sprach die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) dem 1977 geborenen A. für die Restfolgen des Unfallereignisses vom 21. Oktober 1995 ab 1. Februar 2021 eine Invalidenrente auf der Basis eines Invaliditätsgrads von 32 % sowie eine Integritätsentschädigung basierend auf einer Integritätseinbusse von 25 % zu. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 7. April 2021 fest.
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B.
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B.a A. erhob gegen den Einspracheentscheid gemäss Angaben in der Rechtsmittelbelehrung beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt Beschwerde und ersuchte sinngemäss um höhere Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung sowie um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung. Im Laufe des Verfahrens liess er, nunmehr anwaltlich vertreten durch B., Basel, diverse Unterlagen betreffend Bedürftigkeit einreichen. Mit Verfügung vom 2. August 2021 wurde dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege entsprochen. Nach durchgeführtem Schriftenwechsel trat das Sozialversicherungsgericht mit Urteil vom 25. Januar 2022 auf die Beschwerde wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht ein und überwies die Sache zuständigkeitshalber an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau.
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B.b Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau teilte der Rechtsvertreterin von A. mit Schreiben vom 16. März 2022 mit, die unentgeltliche Rechtsverbeiständung könne grundsätzlich nur im Anwaltsregister des Kantons Thurgau eingetragenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten bewilligt werden. Es räumte B. die Möglichkeit ein, sich zur Frage zu äussern, inwiefern zwischen ihr und A. ein vorbestehendes Vertrauensverhältnis gegeben sei, was gemäss Praxis allenfalls eine Ausnahme rechtfertigen würde. Dazu liess sich A. bzw. seine Rechtsvertreterin am 31. März 2022 vernehmen.
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B.c Ebenfalls mit Eingabe vom 31. März 2022 gelangte A. an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und liess beantragen, es sei die Verfügung vom 3. (recte: 2.) August 2021 zu bestätigen und ihm seien die unentgeltliche Prozessführung sowie Verbeiständung zu bewilligen. Zudem seien seiner Rechtsvertreterin ein Honorar von Fr. 5'833.35 sowie Auslagen von Fr. 126.75, total Fr. 5'960.10 zuzusprechen, sofern und soweit A. keine Parteientschädigung im an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau überstellten Verfahren zugesprochen werde. Mit Urteil vom 21. April 2022 wies das Sozialversicherungsgericht das Gesuch von A. resp. Rechtsanwältin B. um Zusprechung eines Anwaltshonorars ab. Es sei Aufgabe des sachzuständigen Gerichts, auch über die Verfahrens- und Parteikosten zu befinden.
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B.d Mit Eingabe vom 9. Mai 2022 liess A. dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt zugehen. Gestützt darauf ersuchte er das Verwaltungsgericht nochmals um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung ab Mandatsbeginn, das heisst ab 2. Juni 2021, für das ganze laufende Beschwerdeverfahren. Mit Entscheid vom 18. Mai 2022 wies das Verwaltungsgericht sowohl die Beschwerde wie auch das Gesuch um Bestellung von Rechtsanwältin B. als unentgeltliche Anwältin für das Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht ab.
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C.
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C.a (...)
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C.b A. lässt (...) gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 18. Mai 2022 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und/oder subsidiäre Verfassungsbeschwerde einreichen (Verfahren 8C_421/2022). Er lässt beantragen, in Aufhebung von Dispositiv-Ziff. 3 des angefochtenen Entscheids sei ihm die unentgeltliche Verbeiständung mit Rechtsanwältin B. für das Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht zu gewähren und es sei die Sache zur Festlegung des Kostenerlasshonorars umfassend den Zeitraum vom 1. Juni 2021 bis 30. Mai 2022 an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung mit genannter Rechtsanwältin für das Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht und zur Festlegung des Kostenerlasshonorars für den erwähnten Zeitraum an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen. Auch diesbezüglich wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. (...) Das Verwaltungsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde, das BAG verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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(Auszug)
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6.1 Jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, hat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand (Art. 29 Abs. 3 BV). Die unentgeltliche Rechtspflege bezweckt, auch der bedürftigen Partei den Zugang zum Gericht und die Wahrung ihrer Parteirechte zu ermöglichen. Sie soll sicherstellen, dass jedermann unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen nicht aussichtslose Streitsachen zur gerichtlichen Entscheidung bringen und sich überdies im Prozess, sofern es sachlich geboten ist, durch eine Anwältin oder einen Anwalt vertreten lassen kann (BGE 135 I 1 E. 7.1). Für das sozialversicherungsrechtliche Beschwerdeverfahren findet der Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand in Art. 61 lit. f ATSG eine gesetzliche Grundlage.
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Liegt eine solche Situation vor, dürfen kantonale Bestimmungen dem Einsetzen eines ausserkantonalen unentgeltlichen Rechtsbeistands nicht entgegenstehen (BGE 113 Ia 69 E. 5c; Urteil 2C_610/ 2021 vom 11. März 2022 E. 7.1, nicht publ. in: BGE 148 II 169; Urteil 2C_590/2018 vom 8. Mai 2019 E. 3.5.2 mit Hinweisen).
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Erwägung 7 | |
7.2 Bei gegebener Sachlage rügt der Beschwerdeführer bezüglich Verneinung der ausnahmsweisen Bestellung von Rechtsanwältin B. als unentgeltliche Rechtsvertreterin zu Recht eine Verfassungs- und anderweitige Bundesrechtsverletzung. Namentlich die Begründung, das vor Verwaltungsgericht geführte Beschwerdeverfahren stelle im Verhältnis zum bisherigen, vor dem unzuständigen Gericht geführten Verfahrensteil kein neues Verfahren im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dar, weshalb sich der Beschwerdeführer bzw. seine Rechtsvertreterin nicht auf ein vorbestehendes Vertrauensverhältnis bzw. auf eine Vertretung in einem vorangehenden Verfahren berufen könnte, stellt eine überspitzt formalistische Betrachtungsweise dar. Diese Anwendung von § 81 Abs. 2 VRG/TG verstösst namentlich gegen Art. 29 Abs. 1 und 3 BV sowie gegen Art. 61 lit. f ATSG. Wohl hat das Bundesgericht, wie in E. 6.3 hiervor dargelegt, mehrfach entschieden, dass sich kantonale Regelungen, wonach nur im eigenen Kanton registrierte Anwälte mit amtlichen Mandaten betraut werden können, sachlich begründen lassen und mit Art. 29 Abs. 3 BV grundsätzlich vereinbar sind. Gleichzeitig hat es jedoch immer darauf hingewiesen, dass in besonderen Fällen gestützt auf den Anspruch auf ein gerechtes Verfahren im Sinne von Art. 29 Abs. 1 BV ein Wahlrecht des Verbeiständeten in Bezug auf seine Rechtsvertretung bestehen könne, namentlich wenn ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Anwalt bestehe oder der Anwalt sich bereits in einem vorangegangenen Verfahren mit der Sache befasst habe. Von einer solchen Situation ist vorliegend auszugehen, nachdem Rechtsanwältin B. den Beschwerdeführer bereits im vor dem unzuständigen Gericht angehobenen Teil des Verfahrens, das bis zum Abschluss des Rechtsschriftenwechsels dauerte, vertreten hatte. Demzufolge dürfen die kantonalen Bestimmungen bzw. deren Anwendung dem Einsetzen der ausserkantonalen Anwältin als unentgeltliche Rechtsvertreterin nicht entgegenstehen. Die Verweigerung der entsprechenden Bewilligung durch das Verwaltungsgericht hält vor Bundesrecht nicht stand. Auf die weitere Argumentation betreffend Vertrauenstatbestand und Vertrauensschutz ist mangels Relevanz nicht näher einzugehen.
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7.4 Die Höhe der Entschädigung für die unentgeltliche Verbeiständung richtet sich grundsätzlich nach kantonalem Recht. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hat sich dazu bisher nicht geäussert. Die Sache ist daher zur Festsetzung des Honorars der unentgeltlichen Rechtsvertreterin für das kantonale Beschwerdeverfahren vor dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt sowie vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau an Letzteres zurückzuweisen.
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