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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Streitig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Pr&au ...
Erwägung 3
Erwägung 4
Erwägung 5
Erwägung 5.3
Bearbeitung, zuletzt am 04.10.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
18. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Stadt Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
8C_740/2021 vom 19. Januar 2023
 
 
Regeste
 
Art. 49 BV; Art. 65 Abs. 3 Satz 1 KVG; Prämienverbilligung durch die Kantone; Berücksichtigung der aktuellsten Einkommensverhältnisse.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 149 I 172 (173)A.
A.a Am 1. April 2020 traten im Kanton Zürich das totalrevidierte Einführungsgesetz vom 29. April 2019 zum Krankenversicherungsgesetz (EG KVG; LS 832.01) und die Verordnung vom 25. März 2020 zum EG KVG (VEG KVG; LS 832.1) in Kraft.
A.b Am 14. Februar 2021 beantragte der 1989 geborene A. bei den Gesundheitsdiensten der Stadt Zürich (nachfolgend: Gesundheitsdienste oder Beschwerdegegnerin) Prämienverbilligungen für das Jahr 2020. Mit Schreiben vom 11. März 2021 verwiesen die Gesundheitsdienste auf ihre E-Mail vom 16. Februar 2021, in welcher sie vermerkt hatten, dass die revidierten Bestimmungen des EG KVG und der VEG KVG erstmals auf das Prämienverbilligungsjahr 2021 anwendbar seien und A. gemäss den massgebenden altrechtlichen Bestimmungen keinen Anspruch auf Prämienverbilligungen für das Jahr 2020 habe. Daran hielten sie mit Verfügung vom 31. März 2021 und Einspracheentscheid vom 7. Juni 2021 fest.
B. Die dagegen erhobene Beschwerde des A. wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Urteil vom 28. September 2021).
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A. beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 31. März 2021 seien sein Antrag auf Prämienverbilligung für das Jahr 2020 gutzuheissen und die ihm zustehende Prämienverbilligung vollumfänglich auszuzahlen. Eventualiter sei die Angelegenheit zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz, subeventualiter an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Weiter lässt A. beantragen, es sei vorfrageweise im SinneBGE 149 I 172 (173) BGE 149 I 172 (174)einer konkreten Normenkontrolle festzustellen, dass die gesetzlichen Grundlagen des Kantons Zürich betreffend Prämienverbilligung dem Bundesrecht, namentlich dem KVG, widersprächen.
Während die Gesundheitsdienste auf eine Abweisung der Beschwerde schliessen, verzichten die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.
 
 
Erwägung 3
 
3.2.1 Gemäss § 9 Abs. 1 der bis am 31. März 2020 gültigen Fassung des EG KVG (nachfolgend: aEG KVG) beurteilte sich der Anspruch auf Prämienverbilligung nach den persönlichen Verhältnissen am 1. April des dem Auszahlungsjahr vorangehenden Jahres (Stichtag) und den am Stichtag bekannten wirtschaftlichen Verhältnissen. Die wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmten sich nach dem steuerbaren Gesamteinkommen und steuerbaren Gesamtvermögen gemäss der am Stichtag im Kanton vorliegenden jüngsten Steuereinschätzung (§ 9 Abs. 2 aEG KVG). Wichen die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Person von dem gemäss § 9 Abs. 1 und 2 aEG KVGBGE 149 I 172 (174) BGE 149 I 172 (175)bestimmten Einkommen und Vermögen ab, konnte sie ab dem Folgejahr für dieses Jahr bei der Gemeinde eine Prämienverbilligung oder deren Anpassung verlangen (§ 16 Abs. 1 der VEG KVG in der bis am 31. März 2020 geltenden Fassung [nachfolgend: aVEG KVG]). Massgebend waren in diesem Fall die wirtschaftlichen Verhältnisse gemäss den Steuerfaktoren des Vorjahres zum Jahr, für das der Antrag gestellt wurde (§ 16 Abs. 2 aVEG KVG).
 
Erwägung 4
 
4.1 Im Einspracheentscheid vom 7. Juni 2021 hielten die Gesundheitsdienste fest, gemäss den auf das Prämienverbilligungsjahr 2020 anwendbaren altrechtlichen Bestimmungen sei der Stichtag betreffend die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers der 1. April 2019. Zu diesem Zeitpunkt sei die jüngste im KantonBGE 149 I 172 (175) BGE 149 I 172 (176)vorliegende Steuereinschätzung jene des Jahres 2017 mit Rechnungsdatum vom 10. Dezember 2018 gewesen. Diese habe ein steuerbares Gesamteinkommen von Fr. 43'200.- und ein steuerbares Gesamtvermögen von Fr. 24'000.- ausgewiesen. Das steuerbare Gesamteinkommen liege daher über der für das Jahr 2020 gültigen Berechtigungsgrenze von Fr. 36'300.-, weshalb dem Beschwerdeführer im Rahmen der regulären Beurteilung für das Jahr 2020 keine Prämienverbilligung zugesprochen werden könne. Bei der Neubeurteilung aufgrund veränderter wirtschaftlicher Verhältnisse nach § 16 Abs. 2 aVEG KVG seien die Steuerfaktoren des Vorjahres zum Jahr massgebend, für das der Antrag gestellt werde. Die definitive Steuerrechnung 2019 habe ein steuerbares Gesamteinkommen von Fr. 40'200.- und ein steuerbares Gesamtvermögen von Fr. 63'000.- ausgewiesen. Auch das steuerbare Gesamteinkommen des Jahres 2019 habe somit über der Berechtigungsgrenze gelegen. Weiter hielten die Gesundheitsdienste fest, dem Antrag des Beschwerdeführers, den Anspruch auf Prämienverbilligung für das Jahr 2020 anhand der Steuerfaktoren dieses Jahres (bzw. anhand des geltend gemachten steuerbaren Einkommens von "deutlich" unter Fr. 5'000.-) zu prüfen, könne aufgrund der klar formulierten Bestimmung von § 16 Abs. 2 aVEG KVG nicht stattgegeben werden.
Im Weiteren erkannte die Vorinstanz, dass der Übergang von den alten zu den neuen Bestimmungen des totalrevidierten EG KVG und der VEG KVG in Bezug auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Jahres 2020 zu einer Bemessungslücke führe: Zwar würden die Verhältnisse dieses Jahres gemäss § 6 Abs. 1 VEG KVG grundsätzlich zur provisorischen Bestimmung der Prämienverbilligung für eines der nachfolgenden Anspruchsjahre herbeigezogen. Es treffe jedoch zu, dass bei der definitiven Bestimmung der Prämienverbilligung für kein Anspruchsjahr darauf abgestellt werde. Unter Hinweis auf das Urteil 9C_154/2008 vom 18. August 2008 sowie auf das Urteil des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts H 319/01BGE 149 I 172 (176) BGE 149 I 172 (177)vom 28. Januar 2003 führte die Vorinstanz sodann aus, bei der Umstellung zum neuen System von provisorischer und definitiver Prämienverbilligung handle es sich um eine Ablösung der Vergangenheits- durch die Gegenwartsbemessung. Diese sei mit Blick auf die zitierte Praxis des Bundes- bzw. des Eidg. Versicherungsgerichts als zulässig zu erachten. Eine Bemessungslücke lasse sich bei einem derartigen Systemwechsel naturgemäss nicht vermeiden und sei hinzunehmen. Inwiefern damit gegen den Sinn und Geist von Art. 65 KVG verstossen bzw. dessen Zweck beeinträchtigt oder gar vereitelt würde, werde vom Beschwerdeführer nicht näher dargetan und sei auch nicht ersichtlich.
 
Erwägung 5
 
5.2 Der Beschwerdeführer verlangt eine konkrete Normenkontrolle, d.h. die vorfrageweise Überprüfung des kantonalen Rechts auf seine Übereinstimmung mit übergeordnetem Recht (vgl. BGE 146 III 377 E. 3.3; BGE 145 V 380 E. 1.2.2). Im Wesentlichen macht er geltend, die Nichtberücksichtigung der Einkommensverhältnisse des Jahres 2020 für die Bemessung der Prämienverbilligung 2020 verstosse gegen Bundesrecht und damit gegen Art. 49 Abs. 1 BV. Gemäss Art. 65 Abs. 3 Satz 1 KVG hätten die Kantone dafür zu sorgen, dass bei der Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Prämienverbilligung insbesondere auf Antrag der versicherten Person die aktuellsten Einkommens- und Familienverhältnisse berücksichtigt würden. Erforderlich sei demgemäss, dass die Vollzugsorgane jedenfalls dann auf die persönlichen und finanziellen Umstände des betreffenden Prämienverbilligungsjahres abstellten, wenn dies von der berechtigten Person verlangt werde. Das Überspringen der Einkommensverhältnisse des Jahres 2020, so der Beschwerdeführer weiter, widerspreche dieser Zielsetzung. Im Rahmen einer BGE 149 I 172 (177) BGE 149 I 172 (178)Übergangsregelung hätte vorgesehen werden müssen, dass bei Personen, die im Jahr 2020 ein Einkommen unter der Berechtigungsgrenze für die Prämienverbilligung erzielt hätten, dieses Einkommen für die definitive Bemessung der Prämienverbilligung 2020 berücksichtigt werde. Die von der Vorinstanz zitierte Rechtsprechung betreffe Beiträge von selbstständig erwerbstätigen Versicherten an die Ausgleichskasse, was mit dem Gebiet der Prämienverbilligung nicht vergleichbar sei.
 
Erwägung 5.3
 
BGE 149 I 172 (178)
BGE 149 I 172 (179)5.4 Wie der Beschwerdeführer zutreffend festhält, zielt die Prämienverbilligung im Allgemeinen darauf ab, im System des KVG mit einer Einheitsprämie pro Versicherer ohne Berücksichtigung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherten, für Personen in bescheidenen Verhältnissen die wirtschaftliche Last der Krankenversicherungsprämien zu mildern. Sie ist damit ein Element der Solidarität zugunsten weniger bemittelter Bevölkerungsschichten (BGE 145 I 26 E. 6.3; BGE 136 I 220 E. 6.2.1 mit Hinweis auf BGE 122 I 343 E. 3g/bb). Zur Regelung des Art. 65 Abs. 3 Satz 1 KVG wird in der bereits erwähnten bundesrätlichen Botschaft ausgeführt, dass sich die von den Kantonen zur Ermittlung der auf Prämienverbilligungen anspruchsberechtigten Versicherten herangezogenen Steuerdaten als Bemessungsgrundlage in vielen Fällen als zu wenig aktuell und daher als bloss von provisorischem Nutzen erwiesen hätten. Dies treffe insbesondere auf jene Kantone zu, welche noch eine zweijährige Steuerperiode kennen würden. Auch ganz allgemein hätte eine mangelnde Flexibilität und Aktualität der Bemessungsgrundlagen festgestellt werden können, welche in Einzelfällen (Änderung des Zivilstandes, Geburt eines Kindes, Arbeitslosigkeit usw.) zu einer nicht unerheblichen Benachteiligung der Betroffenen führen könne. Die Kantone sollten daher verpflichtet werden, bei der Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen jeweils grundsätzlich die aktuellsten Einkommens- und Familienverhältnisse zu berücksichtigen. Dabei gehe es nicht um den Verzicht auf Steuerdaten als grundsätzliche Bemessungsgrundlage, so die Botschaft, sondern vielmehr um die Schaffung von Möglichkeiten, die es erlaubten, dass bei einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse oder bei einer Änderung der Familienverhältnisse von Versicherten eine allfällige Anspruchsberechtigung aufgrund der aktuellsten Bemessungsgrundlage erfolgen könne (vgl. BBl 1999 793 ff., 844 f.).
5.5 Vorliegend beantragte der Beschwerdeführer am 14. Februar 2021 rückwirkend für das Jahr 2020 Prämienverbilligungen, wobei er geltend machte, in Letzterem neu ein steuerbares Einkommen von deutlich unter Fr. 5'000.- erzielt zu haben. Soweit er mit seiner Beschwerde als bundesrechtswidrig beanstandet, dass diese Einkommenseinbusse bei der Beurteilung seines Anspruchs auf Prämienverbilligungen für das Jahr 2020 nicht berücksichtigt wurde, dringt er durch. Im Zeitpunkt des Antrags im Februar 2021 hätten seine tatsächlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse des bereits abgeschlossenen Jahres 2020 anhand aktueller Ausweise über seineBGE 149 I 172 (179) BGE 149 I 172 (180)finanzielle Situation ohne Weiteres festgestellt und der Bestimmung des Prämienverbilligungsanspruchs zugrunde gelegt werden können. Indem das kantonale Recht dies in der gegebenen Konstellation jedoch nicht zulässt, sondern nur die Berücksichtigung der Steuerfaktoren des Jahres 2019 erlaubt und den Beschwerdeführer gestützt darauf von Prämienverbilligungen für das Jahr 2020 ausschliesst, widerspricht es nach dem Gesagten Sinn und Geist von Art. 65 Abs. 3 Satz 1 KVG (vgl. E. 3.1 sowie 5.4 hiervor). Hiervon ging denn auch bereits der Regierungsrat des Kantons Zürich aus, stellte er sich in seinem Antrag zur Änderung des damals geltenden bzw. zum Erlass eines neuen EG KVG vom 21. September 2016 doch auf den Standpunkt, das geltende Recht setze das Anliegen der bundesrechtlichen Vorgaben von Art. 65 Abs. 3 Satz 1 KVG nicht in allen Fällen um (vgl. die Vorlage 5313 des Regierungsrats des Kantons Zürich vom 21. September 2016 S. 33, abrufbar unter www.zh.ch/de/politik-staat/gesetze-beschluesse/beschluesse-des-regierungsrates/rrb/regierungsratsbeschluss-914-2016.html [besucht am 28. Oktober 2022]).
Dass das Bundesgericht bzw. das damalige Eidg. Versicherungsgericht in den von der Vorinstanz zitierten Urteilen die Gesetzes- und Verfassungskonformität einer Bemessungslücke bejahten, welche sich infolge der Änderung der zeitlichen Bemessungsgrundlagen für die Beiträge der Selbstständigerwerbenden an die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) ergab (Urteile 9C_154/2008 vom 18. August 2008 E. 3.3; H 319/01 vom 28. Januar 2003 E. 5.2), vermag daran nichts zu ändern. Aus den genannten Urteilen lässt sichBGE 149 I 172 (180) BGE 149 I 172 (181)für die vorliegende Konstellation bereits deshalb nichts ableiten, weil sie nicht das Gebiet der Krankenversicherung bzw. der Prämienverbilligung betrafen und es - anders als hier (vgl. E. 5.5) - darüber hinaus auch im Ermessen des (Bundes-)Verordnungsgebers stand, in der Bemessungslücke anfallende Einkommensminderungen unberücksichtigt zu lassen.
5.7 Die Bundesrechtswidrigkeit kantonaler Normen hat deren Nichtanwendbarkeit im Einzelfall zur Folge (BGE 138 I 356 E. 5.4.6; BGE 135 V 134 E. 4.5; BGE 129 I 346 E. 3.1). Im hier zu beurteilenden Fall bedeutet dies, dass die Gesundheitsdienste den Anspruch des Beschwerdeführers auf Prämienverbilligungen für das Jahr 2020 nicht mit dem Verweis auf § 62 Abs. 2 VEG KVG i.V.m. § 16 Abs. 2 aVEG KVG bzw. die Steuereinschätzungen der Jahre 2017 und 2019 hätten verneinen dürfen. Das Bundesgericht kann reformatorisch oder kassatorisch entscheiden. Es entscheidet eher reformatorisch, wenn dies im Einzelfall aufgrund der konkreten Sach- und Rechtslage möglich ist (Art. 107 Abs. 2 BGG). Zu den konkreten Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Beschwerdeführers im Jahr 2020 bzw. dem daraus (allenfalls) resultierenden Anspruch auf Prämienverbilligungen haben sich bis anhin indes weder die Beschwerdegegnerin noch die Vorinstanz geäussert. Mithin ist ein reformatorischer Entscheid nicht möglich. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit sie die relevanten Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers im Jahr 2020 nach Massgabe der bundesrechtlichen Vorgaben abkläre und anschliessend über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Prämienverbilligungen neu entscheide.BGE 149 I 172 (181)