24. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A., B. und C. gegen Grosser Rat und Regierungsrat des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten) | |
2C_402/2022 vom 31. Juli 2023 | |
Regeste | |
Art. 19 BV; § 41c Abs. 2 und 3 VG/TG; Anspruch auf Unentgeltlichkeit des Grundschulunterrichts; Gesetzesvorlage des Kantons Thurgau vom 12. Januar 2022 zur vorschulischen Sprachförderung; Pflicht zum Besuch eines Angebots der vorschulischen Sprachförderung; Verfassungswidrigkeit der Kostenbeteiligung der Erziehungsberechtigten.
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Sachverhalt | |
A. Der Grosse Rat des Kantons Thurgau stimmte an der Sitzung vom 12. Januar 2022 der Änderung des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 29. August 2007 über die Volksschule (VG/TG; RB 411.11) mit 103 zu 13 Stimmen zu (ABl. Nr. 3/2022, S. 134 f.). Dabei wurde eine vorschulische Sprachförderung für Kinder eingeführt, welche das dritte Altersjahr bis zum 31. Juli des jeweiligen Jahres vollenden und einen sprachlichen Förderbedarf aufweisen.
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B. Zur Durchführung der vorschulischen Sprachförderung klärt die Schulgemeinde den sprachlichen Förderbedarf gemäss den Vorgaben des Kantons ab und entscheidet, ob ein Angebot der vorschulischen Sprachförderung besucht werden muss. Der neu eingefügte § 41c VG/TG bestimmt die Pflichten der Erziehungsberechtigten bei der vorschulischen Sprachförderung wie folgt:
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" 1 Die Erziehungsberechtigten sind verpflichtet, bei der Abklärung des Förderbedarfs und bei der Umsetzung der vorschulischen Sprachförderung mitzuwirken.
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2 Die Erziehungsberechtigten sind im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht für den Weg zu einem Angebot der vorschulischen Sprachförderung verantwortlich.
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3 Die Schulgemeinde kann von den Erziehungsberechtigten einkommensabhängige Beiträge von maximal Fr. 800 pro Jahr verlangen. Von bedürftigen Erziehungsberechtigten werden keine Beiträge verlangt.
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4 Erziehungsberechtigte, die Pflichten verletzen, welche sich aus den Vorschriften zur vorschulischen Sprachförderung ergeben, werden auf Antrag der Schulbehörde mit Busse bestraft."
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Die Referendumsfrist für die Änderung vom 12. Januar 2022 lief am 21. April 2022 unbenutzt ab (ABl. Nr. 17/2022, S. 1203).
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 20. Mai 2022 gelangen A., B. und C. an das Bundesgericht. Sie beantragen die Aufhebung von § 41c Abs. 2 und 3 VG/TG in der Fassung vom 12. Januar 2022. Sie machen unter anderem geltend, die kantonale Bestimmung sei nicht mit dem in Art. 19 BV verankerten Anspruch auf unentgeltlichen Grundschulunterricht vereinbar.
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(...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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(Auszug)
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3.2 Die Beschwerdegegner bringen vor, die vorschulische Sprachförderung betreffe nur einen kleinen Teil einer Alterskohorte und finde nicht im Rahmen des Grundschulunterrichts statt. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass damit lediglich eine selektive Verpflichtung zum Besuch der vorschulischen Sprachförderung zur Diskussion stehe. Das bloss selektive Obligatorium für den Besuch von Sprachkursen könne indes nicht zur obligatorischen Schulzeit gezählt werden, da die vorschulische Sprachförderung nicht zum notwendigen Grundschulunterricht gehöre. Dies ergebe sich, so die Beschwerdegegner weiter, namentlich aus dem Umstand, dass keine Lernziele gemäss Lehrplan erreicht und nur wenige Stunden pro Woche besucht werden müssten. Mit der Vorlage über die vorschulische Sprachförderung werde der Grundschulunterricht nicht "nach unten" ausgeweitet. Die vorschulische Sprachförderung falle folglich nicht in den Anwendungsbereich von Art. 19 BV. Nur beim allgemein obligatorisch erklärten Schulunterricht bestehe aber ein Anspruch auf Unentgeltlichkeit nach Art. 19 BV. Entsprechend könne in § 41c Abs. 2 und 3 VG/TG unter anderem eine Kostenbeteiligung der Erziehungsberechtigten eingeführt werden.
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3.3.2 Der Anspruch auf ausreichenden Unterricht umfasst einen Unterricht, der für die Einzelne und den Einzelnen angemessen und geeignet sein muss und der genügt, um die Schülerinnen und Schüler angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten (vgl. BGE 144 I 1 E. 2.2; BGE 138 I 162 E. 3.1). Allerdings besteht mit Rücksicht auf das begrenzte staatliche Leistungsvermögen kein Anspruch auf den idealen oder optimalen Unterricht (vgl.
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BGE 138 I 162 E. 4.6.2; vgl. auch BGE 141 I 9 E. 3.3). Der Anspruch wird verletzt, wenn die Ausbildung des Kindes in einem Masse eingeschränkt wird, dass die Chancengleichheit nicht mehr gewahrt ist, oder wenn es Lehrinhalte nicht vermittelt erhält, die in der hiesigen Wertordnung als unverzichtbar gelten (vgl. BGE 130 I 352 E. 3.2). Der Anspruch auf Unentgeltlichkeit schliesst die Erhebung von Schulgeld aus, wobei sich dies primär auf öffentliche Schulen und die Dauer der obligatorischen Schulzeit bezieht (vgl. BGE 144 I 1 E. 2.2).
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3.4.1 Gemäss der Botschaft des Regierungsrats des Kantons Thurgau an den Grossen Rat vom 8. Juni 2021 zur Änderung des Gesetzes über die Volksschule (nachfolgend: Botschaft RR/TG) stellt das Obligatorium eine Massnahme dar, um die Sprachkompetenz und die Deutschkenntnisse von Vorschulkindern zu fördern. Mit dem selektiven Obligatorium würden gezielt diejenigen Kinder zur vorschulischen Sprachförderung verpflichtet, bei denen entsprechende Defizite bestünden, und es könne - anders als mit den bestehenden freiwilligen Angeboten - die Erreichbarkeit aller Kinder gewährleistet werden. Die gezielte Förderung der Sprachkompetenz erhöhe später die schulische Chancengerechtigkeit (vgl. Botschaft RR/TG, a.a.O., Ziff. 1.1). Gemäss dem in den Akten befindlichen Dokument "Informationen für Schulgemeinden" geht das Amt für Volksschule des Kantons Thurgau davon aus, dass rund 25 % der Kinder einen Förderbedarf aufwiesen (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG).
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Alsdann entscheidet die Schulgemeinde mittels anfechtbarem Entscheid, ob ein Angebot der vorschulischen Sprachförderung besucht werden muss (vgl. § 41b Abs. 2 VG/TG; Botschaft RR/TG, a.a.O., S. 5 i.f.). Wird der Besuch eines Angebots der vorschulischen Sprachförderung verfügt, sind die Eltern wiederum unter Bussenandrohung verpflichtet, ihre Kinder (mit Förderbedarf) ein Angebot der vorschulischen Sprachförderung besuchen zu lassen (vgl. § 41c Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 VG/TG). Faktisch führt die Gesetzesvorlage folglich ein allgemeines Obligatorium ein, von dem gewisse Kinder - nämlich jene ohne Förderbedarf - in einem zweiten Schritt wieder befreit werden.
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3.4.4 An der Ausweitung der Schulpflicht auf die Kinder, die das dritte Altersjahr bis zum 31. Juli des jeweiligen Jahres vollenden, ändert entgegen der Auffassung der Beschwerdegegner auch nichts, dass im Rahmen der vorschulischen Sprachförderung keine Lernziele gemäss Lehrplan erreicht und nur wenige Stunden pro Woche besucht werden müssen. Die Verpflichtung zum Besuch eines Angebots der vorschulischen Sprachförderung zielt, wie der Regierungsrat in seiner Botschaft darlegt, auf die Erhöhung der schulischen "Chancengerechtigkeit" (Botschaft RR/TG, a.a.O., Ziff. 1.1). Damit geben die Beschwerdegegner indes selbst zu erkennen, dass sie die Sprachförderung und das entsprechende Angebot als notwendig erachten, um alle Kinder angemessen auf ein selbstverantwortliches Leben im modernen Alltag vorzubereiten, andernfalls die Chancengleichheit nicht mehr gewahrt ist (vgl. auch E. 3.3.2 hiervor).
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3.5.1 In diesem Sinne gilt rechtsprechungsgemäss, dass der Kindergarten vom Anwendungsbereich von Art. 19 BV und dem Anspruch auf Unentgeltlichkeit erfasst wird, soweit er obligatorisch ist (vgl. BGE 146 I 20 E. 4.2; BGE 145 I 142 E. 5.4; BGE 140 I 153 E. 2.3.1; Urteile 2C_733/2018 vom 11. Februar 2019 E. 5.2.1; 2C_433/2011 vom 1. Juni 2012 E. 3.3). Gleich muss es sich mit der vorliegend zu beurteilenden obligatorischen, vorschulischen Sprachförderung verhalten. Der Kanton Thurgau hat sich dazu entschieden, diese Förderungsmassnahme verpflichtend auszugestalten. Die Gesetzesvorlage unterscheidet sich damit von Angeboten, die freiwillig in Anspruch genommen werden können - wie beispielsweise die anderweitige Frühförderung, der freiwillige Kindergarten oder die fakultative Spielgruppe. Soweit die Beschwerdegegner im Übrigen auf die "sprachliche Förderung in Deutsch vor der Einschulung" im Kanton Basel-Stadt Bezug nehmen, ist darauf hinzuweisen, dass die dortige Verpflichtung zur frühen Deutschförderung unentgeltlich ausgestaltet ist (vgl. § 4 i.V.m. § 11 Abs. 1 der Verordnung des Kantons Basel-Stadt vom 26. April 2016 über die sprachliche Förderung in Deutsch vor der Einschulung [SG 412.400]). Die Beschwerdeführer machen somit zu Recht geltend, dass die obligatorische Ausgestaltung der vorschulischen Sprachförderung die Unentgeltlichkeit des zwingend zu besuchenden Angebots nach sich ziehen muss.
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3.5.3 Aus der in Art. 19 BV garantierten Unentgeltlichkeit ergibt sich überdies auch ein Anspruch auf Übernahme der Transportkosten, wenn der Schulweg wegen übermässiger Länge oder Gefährlichkeit dem Kind nicht zugemutet werden kann (vgl. BGE 140 I 153 E. 2.3.3; BGE 133 I 156 E. 3.1; Urteile 2C_714/2021 vom 8. Juni 2022 E. 5.1; 2C_1022/2021 vom 6. April 2023 E. 5.3 i.f.; 2C_1063/2015 vom 16. März 2017 E. 4.2; 2C_433/2011 vom 1. Juni 2012 E. 3.2). § 41c Abs. 2 VG/TG, wonach die Erziehungsberechtigten für den Weg zu einem Angebot der vorschulischen Sprachförderung verantwortlich sind, ist in seiner absoluten Formulierung ebenfalls nicht mit Art. 19 BV vereinbar, zumal sich das Angebot der vorschulischen Sprachförderung im Wesentlichen an 4-jährige Kinder richtet. Aufgrund der verpflichtenden Ausgestaltung der vorschulischen Sprachförderung ist der Beschwerdegegner gehalten, die ortsnahe und angemessene Erreichbarkeit der obligatorischen Angebote in der jeweiligen Schulgemeinde sicherzustellen oder aber für die Transportkosten aufzukommen.
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