54. Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. November 1954 i.S. "Zürich" Allg. Unfall- und Haftpflichtversicherungs-Aktiengesellschaft gegen Müblbauer. | |
Regeste | |
Unfallversicherung.
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2. Verkrallung einer Hand als psychoneurotische Unfallfolge:
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a) Feststellung des natürlichen Kausalzusammenhangs;
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b) Adäquanz desselben;
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c) die psychoneurotische Reaktion unterbricht, da selber Unfallfolge, den Kausalzusammenhang nicht;
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d) Disposition zu solchen Reaktionen.
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3. Invaliditätsentschädigung auf Grund des "Jahreslohnes" des Verunfallten: bei Saisonangestellten ist massgebend der effektiv bezogene Lohn, nicht ein durch Umrechnung ermittelter Jahresverdienst.
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Sachverhalt | |
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Patientin sitzt zurückgelehnt mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl..., klagt über Schmerzen am Hinterkopf, im Oberkiefer beidseits, Zahnschmerzen; wenige Minuten lang soll nach dem Sturz Bewusstlosigkeit bestanden haben... Am Hinterkopf links ist eine Blutbeule in Bildung, bei der Palpation starke Schmerzäusserung, Druck auf die Oberkieferknochen ebenfalls schmerzhaft, keine Blutung aus Ohren und Nase. Die Angaben über den Verlauf des Unfalls sind nur mühsam zu erhalten (Somnolenz); Patientin zeigt immer wieder auf den Hinterkopf und unterbricht die Antworten durch Stöhnen und Klagen. Patellar-Sehnenreflexe gesteigert, symmetrisch.
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In der Klinik Bernhard gemachte Röntgenaufnahmen liessen eine Schädelfraktur nicht nachweisen, sodass der Arzt die Patientin nach Hause brachte, wo er ihr Luminal verschrieb und strenge Bettruhe verordnete. Am folgenden Tage stellte Dr. Piderman fest, dass sich der schlafähnliche Zustand verstärkt hatte und alle Reaktionen ausserordentlich träge waren; der sich daraus ergebende Verdacht auf Schädelbasisfraktur veranlasste den Arzt, die Patientin erneut in seine Klinik zu nehmen, wo sie bis 25. August 1949 verblieb. Ausser von Dr. Piderman wurde sie in der Folge zeitweise von seinem Stellvertreter Dr. Merbeck behandelt, ferner zweimal von Dr. Morgenthaler von der Universitätspoliklinik für Nervenkranke in Zürich (im Auftrag von Dr. Piderman), sowie (im Auftrag der Beklagten) durch den Churer Nervenarzt Dr. Würth und Privatdozent Dr. Lüthy in Zürich untersucht und begutachtet. Es liess sich bei der Verunfallten weder eine Schädel- noch eine Hirnverletzung feststellen. Dagegen zeigten sich nach dem Abklingen der ersten körperlichen und psychischen ![]() ![]() | |
B.- Die Firma Grieder & Cie. hatte für ihr Personal bei der "Zürich" eine Kollektiv-Unfallversicherung abgeschlossen. Der Begriff des Unfalls ist in der Police nicht definiert. Nach § 17 der Allgemeinen Bedingungen gilt Verlust des Armes oder der Hand rechts für 60% der Ganzinvalidität. § 22 bestimmt:
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"Wenn Krankheitszustände schon vor dem Unfall vorhanden waren oder nach demselben, aber davon unabhängig; eintreten, so hat die Gesellschaft nur für diejenigen Unfallfolgen Entschädigung zu leisten, welche ohne die Mitwirkung jener Krankheitszustände voraussichtlich entstanden wären."
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Nach Ziff. III 8 a der Beilage zum Antrag betragen die Versicherungsleistungen im Invaliditätsfall den sechsfachen Jahreslohn; ferner werden während der Dauer der ärztlichen Behandlung, längstens jedoch für die Dauer eines Jahres vom Unfalltag an gerechnet, die durch den Unfall bedingten unumgänglich notwendigen Kosten der ärztlichen Behandlung, einschliesslich der Kosten für Klinik- und Spezialbehandlung, vergütet.
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C.- Im Dezember 1949/April 1950 leitete Frau Mühlbauer im Hinblick auf ihre Teilinvalidität infolge gänzlicher Versteifung ihrer rechten Hand sowie für Heilungs- und Arztkosten gegen die "Zürich" Klage auf Zahlung von Fr. 44'219.75 nebst 5% Zins ein.
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D.- Nach Durchführung eines Beweisverfahrens und Einholung von Gutachten der Professoren Krayenbühl, Glaus und Francillon hiess das Bezirksgericht Zürich die Klage im Betrag von Fr. 15'977.05 nebst Zins gut; im Mehrbetrage wies es sie ab.
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E.- Die Beklagte legte Berufung an das Obergericht ein mit dem Antrag auf Abweisung der Klage, eventuell Reduktion des Betrages, bezahlte jedoch aus Kommiserationsgründen unter Wahrung ihres grundsätzlichen Standpunktes der Klägerin Fr. 8000.-- nebst Zins, welchen Betrag ![]() ![]() | |
F.- Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung der Beklagten mit dem Antrag auf Abweisung der Klage im genannten noch streitig gebliebenen Betrage. Die Klägerin trägt auf Bestätigung des angefochtenen Urteils an.
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2. Für den Ausgang des Prozesses in grundsätzlicher Beziehung entscheidend ist die Frage, ob die Kontraktur der rechten Hand der Klägerin, bestehend in der Unfähigkeit, die Finger zu bewegen (medizinisch: die fixierte ![]() ![]() | |
a) Der natürliche Kausalzusammenhang ist von der Vorinstanz bejaht worden mit dem Hinweis darauf, dass vom Unfallereignis bis zu dem heute bestehenden Zustand der Klägerin eine zeitlich zusammenhängende Kette von Krankheitserscheinungen führe, welche die Vermutung eines nicht nur zeitlichen, sondern auch ursächlichen Zusammenhanges begründe; es wäre daher Sache der Beklagten, diese durch eine Aufeinanderfolge von Tatsachen begründete Vermutung des kausalen Zusammenhangs derselben zu widerlegen. In dieser Argumentation erblickt die Berufungsklägerin eine Verletzung der Beweislastregel des Art. 8 ZGB, gemäss welcher grundsätzlich derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen hat, der aus ihr Rechte ableitet. Danach kann nicht zweifelhaft sein, dass für den Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem jetzigen Zustand ihrer Hand die Klägerin beweispflichtig ist. Allein wenn die Vorinstanz findet, durch die in der Krankheitsgeschichte niedergelegte, zeitlich zusammenhängende Kette von Erscheinungen sei die "Vermutung" eines Kausalzusammenhanges erstellt, so meint sie damit keineswegs eine Rechtsvermutung; das heisst vielmehr, dass sie den Beweis des Kausalzusammenhangs als geleistet annehme, sofern er nicht durch andere, von der Beklagten zu erbringende Momente widerlegt ![]() ![]() | |
Ein natürlicher Kausalzusammenhang in dem Sinne, dass der heutige Zustand der Hand ohne den Unfall nicht eingetreten wäre, lässt sich übrigens auch auf Grund der Gutachten Krayenbühl/Glaus bejahen. Wenn zwar in der Zusammenfassung gesagt ist, "der Kausalzusammenhang zwischen dem Ereignis und dem jetzigen Befund sei unfallmedizinisch nicht als feststehend anzusehen", so dürfte mit dem Ausdruck "unfallmedizinisch" eine Beschränkung der Betrachtung auf die somatische Seite, unter Beiseitelassung der psychischen, angedeutet sein; denn anschliessend führen die Gutachter aus, dass "psychische bzw. psychoneurotische Momente insofern eine mitwirkende Rolle spielen", als die Klägerin schon vor dem Unfall zwar tüchtig und gesund, aber zu psychogenen Reaktionen mehr oder weniger disponiert gewesen sei, und als es durch den Unfall - Schreck, körperliche und soziale Folgen mit Spannungen und Konflikten - bei ihr zu einer Dekomposition und zu hysterischen Symptomen gekommen sei, welche ihrerseits die Handkontraktur zurückgelassen haben.
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Es ist mithin erstellt, dass die Kontraktur der Hand zwar nicht organischer (somatischer), sondern psychogener Herkunft ist, dies aber nicht etwa im Sinne einer autogenen Psychogenie, sondern in dem Sinne, dass die sie auslösenden psychischen Prozesse die direkte Folge des Unfalles sind, ohne den sie sich nicht eingestellt hätten. Damit ist der natürliche Kausalzusammenhang ausser Zweifel und die Feststellung der Vorinstanz keineswegs eine unzulässige Folgerung "post hoc ergo propter hoc".
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b) Rechtlich ist dieser Zusammenhang aber auch als adäquat zu qualifizieren. Die Beklagte bestreitet dies mit dem Hinweis auf die Singularität des Falles. Aus dem Gutachten ergebe sich, dass die Experten überhaupt noch nie eine derartige hysterische Versteifung der rechten Hand ![]() ![]() | |
Ist mithin die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zu bejahen, so kann unerörtert bleiben, ob und inwieweit allenfalls von diesem - von Hause aus speziell unter dem ![]() ![]() | |
c) Mit Bezug auf den Kausalzusammenhang vertritt die Beklagte ferner die Auffassung, dieser sei "durch das Dazwischentreten einer eigentlichen Hysterie der Klägerin unterbrochen worden", ohne freilich in ihrer Begründung die Frage dieser behaupteten Unterbrechung und diejenige der Adäquanz klar auseinanderzuhalten. Es mag sein, dass, wie die Beklagte ausführt, das Verhältnis von Ursache und (adäquater) Wirkung nicht nur durch das Dazwischentreten des als frei gedachten menschlichen Willens unterbrochen wird; es ist z.B. an interkurrente, nicht durch den Unfall, sondern anderweitig bedingte oder autogene Krankheiten zu denken. Eine solche war jedoch die nach den Experten zwar psychogene, aber durch den Unfall ausgelöste psychoneurotisch-hysterische Reaktion der Klägerin eben nicht, sondern, wie oben festgestellt, selber eine Unfallfolge. Von einem Unterbruch des Kausalzusammenhangs kann daher nicht die Rede sein.
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d) Endlich könnte noch, im Hinblick auf § 22 der Allgemeinen Bedingungen betr. den Einfluss von schon vor dem Unfall vorhanden gewesenen Krankheitszuständen auf die Entschädigungspflicht, die Frage diskutiert werden, ob die von den Experten festgestellte Disposition der Klägerin zu psychoneurotischen Reaktionen für den Entscheid eine Rolle spiele. Die Beklagte hat einen solchen Zusammenhang sowohl vor der Vorinstanz als in der Berufung angetönt; nachdem sie aber andernorts die Anwendbarkeit des § 22 der Allgemeinen Bedingungen ausdrücklich verneint, genügt der kurze Hinweis darauf, dass es sich bei jener Disposition einer, wie die Expertise Glaus feststellt, vor dem Unfall körperlich und psychisch praktisch gesunden Persönlichkeit nicht um einen Krankheitszustand handeln könnte (vgl. BGE 44 II 102).
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3. Für Ganzinvalidität sieht Ziff. III 8 a der Beilage zum Antrag als Entschädigung den "sechsfachen Jahreslohn ![]() ![]() | |
Es ist jedoch dem Bezirksgericht zuzustimmen. Unter dem "sechsfachen Jahreslohn" muss der effektiv im massgebenden Jahre bezogene Lohnbetrag, nicht ein bei Annahme ganzjähriger Arbeit durch Verzwölffachung des Monatslohnes sich ergebender, hypothetischer Jahresverdienst verstanden werden. Die Versicherung bezieht ihre Prozentprämie ja auch nur von der effektiven Lohnsumme, nicht von jener supponierten. So wird, nach dem von der Beklagten vor der Vorinstanz eingelegten Berichte der SUVAL, bei dieser als Jahreslohn bei Saisonanstellung grundsätzlich der in der Arbeitszeit effektiv verdiente Nettolohn als massgebend angenommen. Wenn demgegenüber die Vorinstanz "den mutmasslichen Willen der Parteien bei der Wahl dieser Regelung" zu ergründen sucht, so handelt es sich dabei um blosse Vermutungen, nicht Feststellungen, die zudem wenig plausibel erscheinen. Insbesondere leuchtet die Überlegung, die vorbildliche Art, wie die Firma Grieder & Cie. für die Versicherung ihres Personals gegen Unfälle sorgte, verbiete die Annahme, sie habe die nicht ganzjährig, aber während der Saison voll beschäftigten Angestellten hinsichtlich der Höhe des Versicherungsschutzes zurücksetzen wollen, nicht ein. Von einer Zurücksetzung kann nicht die Rede sein, wenn der Angestellte, der nur einen Teil des Jahres bei der Firma zu arbeiten pflegt, für Unfallinvalidität nicht so viel erhält ![]() ![]() | |
Die Bezifferung des Invaliditätsgrades auf 45% (gemäss Nachtragsgutachten Prof. Francillon) durch die Vorinstanz ist eine für das Bundesgericht verbindliche tatsächliche Feststellung.
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Somit beträgt die der Klägerin zukommende Invaliditätsentschädigung Fr. 7254.10.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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