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BGE 137 III 217 - Instanzenzug in Handelsregistersachen
BGE 136 I 1 - Kampfhundeverbot


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Art. 11 Abs. 1 StHG lautet wie folgt: ...
3. Gemäss dieser kantonalen Regelung werden im Kanton St. Ga ...
Erwägung 4
5. Der heutige Satz 2 von Art. 11 Abs. 1 StHG wurde erst in der p ...
6. Gemäss Art. 72 Abs. 2 StHG findet das Bundesrecht direkt  ...
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55. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. Kantonales Steueramt St. Gallen gegen Frau A. sowie Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
 
 
2A.471/2004 vom 26. Oktober 2005
 
 
Regeste
 
Art. 191 BV, Art. 11 Abs. 1 und Art. 72 Abs. 2 und 3 StHG; tarifliche Gleichbehandlung von Eineltern- und Zweielternfamilien; Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung.
 
Die gesetzliche Regelung des Kantons St. Gallen, welche Eineltern- und Zweielternfamilien tariflich unterschiedlich behandelt (vgl. E. 2 und 3), widerspricht Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG. Das Bundesrecht findet daher direkt Anwendung. Da das Steuerharmonisierungsgesetz in der Tariffrage keine genügend bestimmte Norm enthält, muss der Regierungsrat die vorläufigen Vorschriften erlassen (E. 6).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 131 II 697 (698)Frau A. ist ledig und allein erziehende Mutter eines minderjährigen Sohnes, Jahrgang 1997. Sie wohnt in C. Für das Steuerjahr 2001 wurde sie am 27. August 2002 mit einem steuerbaren Einkommen von Fr. 58'600.- und einem steuerbaren Vermögen von Fr. 36'000.- veranlagt. Gegen die Veranlagungsverfügung erhob sie am 13. September 2002 Einsprache beim Kantonalen Steueramt. Sie machteBGE 131 II 697 (698) BGE 131 II 697 (699)geltend, die st. gallische Regelung der Besteuerung von Einelternfamilien verstosse gegen Art. 11 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden (Steuerharmonisierungsgesetz, StHG; SR 642.14). Die Bestimmung sehe vor, dass die Steuer für Alleinerziehende gleich ermässigt werden müsse, wie das für verheiratete Personen im Vergleich zu allein stehenden Steuerpflichtigen der Fall sei. Es sei die Rechtsgleichheit in der Besteuerung einer Einelternfamilie mit einem Kind gegenüber eine Zweielternfamilie mit einem Kind herzustellen. Der Einelternabzug von Fr. 3'000.- bis maximal Fr. 5'000.- gemäss Art. 48 Abs. 1 lit. c des Steuergesetzes des Kantons St. Gallen vom 9. April 1998 (StG/SG) sei ungenügend.
Das Kantonale Steueramt wies die Einsprache am 14. Mai 2003 ab.
Gegen den Einspracheentscheid führte Frau A. Rekurs bei der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen. Die Verwaltungsrekurskommission wies mit Entscheid vom 7. Januar 2004 den Rekurs ab. Sie erwog, Art. 11 StHG sei verfassungswidrig, weil er in die durch Art. 129 Abs. 2 Satz 2 BV den Kantonen vorbehaltene Tarifhoheit eingreife. Dennoch müsse Art. 11 StHG angewendet werden (Art. 191 BV). Der Verfassungswidrigkeit sei indessen insofern Rechnung zu tragen, als Art. 11 StHG unter Berücksichtigung der ratio legis möglichst verfassungsmässig auszulegen sei. Art. 11 Abs. 1 StHG lasse nach seinem Wortlaut keine unterschiedlichen Tarife zwischen Ein- und Zweielternfamilien zu. Jedoch sei der Gleichstellung nicht isoliert beim Tarif Rechnung zu tragen. Vielmehr seien alle Faktoren zu berücksichtigen, welche die Steuerlast beeinflussen würden. Der Doppeltarif des alten Rechts, welcher die Einelternfamilie dem Ehepaar mit Kind gleichgestellt habe, sei sachlich nicht begründbar gewesen, weil er der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht Rechnung getragen habe. Der neue Einheitstarif (mit Vollsplitting für gemeinsam steuerpflichtige Ehegatten), wie er im neuen Steuergesetz ab 2001 enthalten sei, trage dem verfassungsmässigen Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besser Rechnung.
Eine Beschwerde von Frau A. hiess das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 6. Juli 2004 gut und hob den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission vom 7. Januar 2004 sowie den Einspracheentscheid und die Veranlagungsverfügung auf (vgl. StE 2004 B 29.3 Nr. 24).BGE 131 II 697 (699)
BGE 131 II 697 (700)Im Sinne eines Zwischenergebnisses stellte das Verwaltungsgericht fest, dass auf der Grundlage der allgemein anwendbaren Auslegungsmethoden und -kriterien Art. 11 Abs. 1 StHG so zu verstehen sei, dass die Kantone allein erziehenden Personen exakt die gleiche steuerliche Ermässigung zu gewähren hätten wie verheirateten Steuerpflichtigen. Insofern erweise sich die st. gallische Regelung, welche den gemeinsam steuerpflichtigen Ehegatten und nur diesen das Vollsplitting gewähre (Art. 50 Abs. 3 StG/SG), als harmonisierungswidrig. Zu prüfen bleibe das Argument der Verwaltungsrekurskommission und des Kantonalen Steueramtes, wonach Art. 11 Abs. 1 StHG verfassungskonform auszulegen sei.
Die in Art. 11 Abs. 1 StHG vorgeschriebene tarifliche Gleichbehandlung von Einelternfamilien und Zweielternfamilien sei mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgleichheit und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht zu vereinbaren. Die Vorschrift erweise sich als verfassungswidrig. Indessen gebiete Art. 191 BV auch die Anwendung von verfassungswidrigen Bundesgesetzen. Angesichts des klaren Wortlauts und des vom (historischen) Gesetzgeber gewollten Sinns von Art. 11 Abs. 1 StHG bleibe kein Raum für eine verfassungskonforme Auslegung.
Da somit die st. gallische Regelung im Widerspruch zu Art. 11 Abs. 1 StHG stehe, sei sie nicht anwendbar. Das Steuerharmonisierungsgesetz enthalte in Tariffragen keine genügend bestimmte, direkt anwendbare Vorschrift (Art. 72 Abs. 2 StHG). Der Regierungsrat müsse daher die erforderlichen vorläufigen Vorschriften erlassen.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Kantonale Steueramt St. Gallen, der Entscheid des Verwaltungsgerichts vom 6. Juli 2004 sei aufzuheben und die Veranlagung gemäss Veranlagungsverfügung vom 27. August 2002 und Einspracheentscheid vom 14. Mai 2003 sei wiederherzustellen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
 
    Art. 11
    1 Für verheiratete Personen, die in rechtlich und tatsächlich ungetrennter Ehe leben, muss die Steuer im Vergleich zu alleinstehendenBGE 131 II 697 (700) BGE 131 II 697 (701)Steuerpflichtigen angemessen ermässigt werden. Die gleiche Ermässigung gilt auch für verwitwete, getrennt lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige, die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten. Das kantonale Recht bestimmt, ob die Ermässigung in Form eines frankenmässig begrenzten Prozentabzuges vom Steuerbetrag oder durch besondere Tarife für alleinstehende und verheiratete Personen vorgenommen wird.
    2-3 (...)
Der Gesetzgeber des Kantons St. Gallen hat im Steuergesetz vom 9. April 1998 (in der gemäss Nachtragsgesetz vom 26. Mai 2000 ab 1. Januar 2001 anwendbaren Fassung) diese Vorgaben wie folgt umgesetzt:
    Art. 48
    1 Vom Reineinkommen werden für die Steuerberechnung abgezogen:
    a) als Kinderabzug Fr. 5'500.- für jedes minderjährige, unter der elterlichen Sorge oder Obhut des Steuerpflichtigen stehende Kind und für jedes volljährige, in der beruflichen Ausbildung stehende Kind, wenn der Steuerpflichtige für dessen Unterhalt zur Hauptsache aufkommt und keinen Abzug gemäss Art. 45 Abs. 1 lit. c dieses Gesetzes beansprucht. Stehen Kinder unter gemeinsamer elterlicher Sorge nicht gemeinsam besteuerter Eltern, kommt der Kinderabzug jenem Elternteil zu, der für das Kind Unterhaltsbeiträge gemäss Art. 45 Abs. 1 lit. c dieses Gesetzes erhält. Werden keine Unterhaltsbeiträge geleistet, kommt der Kinderabzug jenem Elternteil zu, der für den Unterhalt des Kindes zur Hauptsache aufkommt.
    b) als Kinderbetreuungsabzug höchstens Fr. 2'000.- für jedes Kind unter 15 Jahren (...).
    c) als Einelternabzug 10 Prozent des Reineinkommens, jedoch wenigstens Fr. 3'000.- und höchstens Fr. 5'000.-, für ledige, getrennt lebende, geschiedene oder verwitwete Steuerpflichtige, die zusammen mit Kindern, für die sie einen Abzug gemäss lit. a dieser Bestimmung geltend machen können, einen Haushalt führen.
    2-3 (...)
Art. 50 StG/SG mit dem Randtitel Steuersatz enthält sodann in seinem Absatz 1 einen progressiven Tarif, nach dem sich die Steuer vom Einkommen berechnet. Abs. 3 bestimmt das Folgende:
    3 Für gemeinsam steuerpflichtige Ehegatten wird der Steuersatz des halben steuerbaren Einkommens angewendet.
3. Gemäss dieser kantonalen Regelung werden im Kanton St. Gallen Einelternfamilien und Zweielternfamilien nicht exakt gleichBGE 131 II 697 (701) BGE 131 II 697 (702)besteuert. Das Vollsplitting, bei dem das gemeinsame Einkommen zum Satz des halben Gesamteinkommens besteuert wird, gelangt nur bei gemeinsam steuerpflichtigen Ehegatten (mit und ohne Kinder) zur Anwendung (Art. 50 Abs. 3 StG/SG). Allein erziehende Steuerpflichtige werden zum einfachen Tarif besteuert; sie erhalten dafür den besonderen Sozialabzug (Einelternabzug) gemäss Art. 48 Abs. 1 lit. c StG/SG. Fraglich ist, ob diese Regelung vor Art. 11 Abs. 1 StHG standhält.
Das Verwaltungsgericht kam zum Schluss, auf der Grundlage der allgemein anwendbaren Auslegungsmethoden und -kriterien sei Art. 11 Abs. 1 StHG so zu verstehen, dass die Kantone den allein erziehenden Eltern die exakt gleiche steuerliche Ermässigung zu gewähren hätten wie den verheirateten Steuerpflichtigen. Insofern erweise sich die st. gallische Regelung, wonach allein erziehende Personen wie allein stehende Personen zu besteuern seien, als harmonisierungswidrig. Allerdings sei Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG seinerseits verfassungswidrig. Denn die vorgeschriebene tarifliche Gleichbehandlung von Ein- und Zweielternfamilien sei mit dem Rechtsgleichheitsgebot bzw. dem Prinzip der leistungskonformen Besteuerung nicht zu vereinbaren, da bei gleichem Einkommen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Einelternfamilien grösser sei als diejenige von Zweielternfamilien. Dieser Konflikt von harmonisierungswidrigem kantonalem und verfassungswidrigem Bundes(gesetzes)recht sei hier zugunsten von Art. 11 StHG zu entscheiden. Denn Art. 191 BV gebiete auch die Anwendung von verfassungswidrigen Bundesgesetzen. Ausserdem seien einer verfassungsmässigen Auslegung relativ enge Grenzen gesetzt, sofern - wie im Falle von Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG - Wortlaut und (historisch) gewollter Sinn der Norm klar seien.
Diese Auffassung ist im Folgenden zu prüfen. Es stellen sich die Fragen, welcher Sinn dem Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG durch Auslegung beizumessen ist, ob die Vorschrift verfassungsmässig ist und ob ein allenfalls als verfassungswidrig erkanntes Auslegungsergebnis durch eine verfassungskonforme Auslegung korrigiert werden darf.
 
Erwägung 4
 
4.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren TragweiteBGE 131 II 697 (702) BGE 131 II 697 (703)gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und ihren Zweck sowie auf die Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 130 II 202 E. 5.1 S. 211 f.; BGE 129 II 114 E. 3.1 S. 118; BGE 125 II 192 E. 3a S. 196 mit Hinweisen). Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahe legen (BGE 128 I 288 E. 2.4 S. 292; BGE 124 II 372 E. 6a S. 377). Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur dann allein auf das grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 124 II 372 E. 5 S. 376 mit Hinweisen).
Sind mehrere Lösungen denkbar, ist jene zu wählen, die der Verfassung entspricht (BGE 130 II 65 E. 4.2 S. 71). Allerdings findet die verfassungskonforme Auslegung - auch bei festgestellter Verfassungswidrigkeit - im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung ihre Schranke (BGE 129 II 249 E. 5.4 S. 263; BGE 128 V 20 E. 3a S. 24; BGE 123 II 9 E. 2 S. 11).
Der Wortlaut der Norm in allen drei Sprachen ist klar: den verwitweten, getrennt lebenden, geschiedenen und ledigen Steuerpflichtigen, die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten, ist die gleiche Ermässigung einzuräumen wie den gemeinsam steuerpflichtigen Ehegatten. Was den Satz 2 betrifft, wird auch in der Lehre überwiegend die Auffassung vertreten, der Wortlaut sei eindeutig und lasse keinen Interpretationsspielraum offen; Halbfamilien bzw. Einelternfamilien seien klar und deutlich gleich zu belasten wie gemeinsam steuerpflichtige Ehepaare. Auch mit Blick auf die Entstehungsgeschichte stehe fest, dass der Gesetzgeber nicht nur eine "gleichwertige", sondern exakt die gleiche ErmässigungBGE 131 II 697 (703) BGE 131 II 697 (704)wie für Zweielternfamilien habe vorschreiben wollen (REICH, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht I/1, 2. Aufl. 2002, N. 26 f. zu Art. 11 StHG; ferner HEUSCHER, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, 2. Aufl. 2004, N. 6 zu § 43 StG/AG; RICHNER/FREI/KAUFMANN, Kommentar zum harmonisierten Zürcher Steuergesetz, N. 3 zu § 35 StG/ZH). Angesprochen ist der Steuertarif (vgl. Bericht der Expertengruppe Cagianut zur Steuerharmonisierung, Schriftenreihe der Treuhand-Kammer Nr. 128, Zürich 1994, S. 20).
4.3 In der vorherrschenden Doktrin wird die steuerliche (tarifliche) Gleichbehandlung von verheirateten Personen und allein erziehenden Personen gemäss Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG allerdings auch kritisiert. Begründet wird die Kritik am Gesetz damit, dass eine allein erziehende Person a priori leistungsfähiger sei als ein Ehepaar mit dem gleichem Einkommen und der gleichen Anzahl Kinder, weil das Einkommen für zwei erwachsene Personen ausreichen müsse. Es sei deshalb sachfremd und nicht zielgerichtet, Eineltern- oder Halbfamilien exakt gleich zu besteuern wie Ehepaare (so bereits der Bericht der Expertengruppe Cagianut, a.a.O., S. 20; ferner BOSSHARD/BOSSHARD/LÜDIN, Sozialabzüge und Steuertarife im schweizerischen Steuerrecht, Zürich 2000, S. 208; REICH, a.a.O., N. 28 zu Art. 11 StHG; RICHNER/FREI/KAUFMANN, a.a.O., N. 3 zu § 35 StG/ZH; DANIELLE YERSIN, L'impôt sur le revenu. Etendue et limites de l'harmonisation, in: ASA 61 S. 301; für die direkte Bundessteuer, vgl. BAUMGARTNER, in: Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht I/2a, N. 32 zu Art. 36 DBG, und PETER LOCHER, Kommentar zum DBG, Therwil/Basel 2001, N. 10 zu Art. 36 DBG). Als besonders stossend wird die Gleichstellung mit den Ehepaaren empfunden, wenn zwei unverheiratete Personen je mit Kindern im Konkubinat zusammenleben, weil in diesem Fall beide Partner vom Familientarif und den Kinderabzügen profitieren, ohne dass jedoch ihre Einkommen wie bei einem Ehepaar addiert werden (REICH, a.a.O., N. 30 zu Art. 11 StHG).
Diese Kritik ist begründet. In der Tat ist nicht ersichtlich, wie der Gesetzgeber eine gerechte Verteilung der Steuerlast auf alle Gruppen von Steuerpflichtigen - Verheiratete, Alleinstehende und unverheiratete Paare, mit und ohne Kinder - soll herbeiführen können, wenn er verpflichtet ist, eine allein stehende Person mit Kind exakt gleich zu besteuern wie ein Ehepaar (mit Kind) bei gleichem Einkommen.BGE 131 II 697 (704)
BGE 131 II 697 (705)In allgemeiner Weise lässt sich sagen, dass eine allein stehende Person mit Kind höhere Ausgaben hat als eine allein stehende Person ohne Kind, aber geringere Ausgaben als ein Ehepaar mit Kind. Es trifft auch statistisch zu, dass im Falle einer allein erziehenden Person das Kind höhere Kosten verursacht, als wenn das Kind in einer Zweielternfamilie aufwächst. Das erklärt sich mit den Kosten für Betreuung und Erziehung des Kindes, aber auch damit, dass die Einsparungsmöglichkeiten (Synergien) beim Kind weniger ausgeprägt sind als bei der zweiten erwachsenen Person (JOSEPH DEISS, Budgets familiaux et compensation des charges, in: Familien in der Schweiz, Freiburg 1991, S. 271; vgl. auch BGE 120 Ia 329 E. 4a S. 334). Nach DEISS erhöhen sich die Kosten der Einelternfamilie für das Kind um rund 39 % (von 0, BGE 120 Ia 73 auf 1,02) gegenüber 24 % bei einer Zweielternfamilie (vgl. die Tabelle bei DEISS, a.a.O., S. 273, mit Erklärung der Abkürzungen S. 266). Die zusätzlichen Kosten für eine erwachsene Person bewegen sich mindestens in der gleichen Grössenordnung (ebenda).
Das hat der Gesetzgeber nunmehr auch im vom Volk am 16. Mai 2004 abgelehnten Bundesgesetz über die Änderung von Erlassen im Bereich der Ehe- und Familienbesteuerung, der Wohneigentumsbesteuerung und der Stempelabgaben vom 20. Juni 2003 erkannt, wenn er in Art. 11 Abs. 1 StHG statt der gleichen Ermässigung nur noch eine gleichwertige Ermässigung vorsah (sog. Steuerpaket 2001, BBl 2001 S. 2983, 3142).
Die festgestellten Verfassungswidrigkeiten ändern aber nichts daran, dass der Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG in allenBGE 131 II 697 (705) BGE 131 II 697 (706)drei Sprachen klar ist: Verwitweten, getrennt lebenden, geschiedenen und ledigen Steuerpflichtigen mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen, mit denen sie zusammenleben und deren Unterhalt sie zur Hauptsache bestreiten, ist die gleiche Ermässigung einzuräumen wie den gemeinsam steuerpflichtigen Ehegatten. Vom scheinbar klaren Wortlaut kann nur abgewichen werden, wenn anzunehmen ist, dass er den wahren Sinn der Norm nicht richtig wiedergibt. Im klaren Wortlaut und Sinn der Vorschrift findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Schranken (vgl. vorstehende E. 4.1). Wie es sich damit verhält, ist im Folgenden zu prüfen.
Bei der Beratung des Gesetzes über die direkte Bundessteuer am 29. Februar 1988 im Nationalrat wurde indessen der Antrag eingebracht, den Abzug gemäss Art. 35 Abs. 1 lit. c E-DBG zu streichen und stattdessen "verwitwete, getrennt lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige, die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten", dem günstigeren Ehegattentarif gemäss Art. 36 Abs. 2 E-DBG zu unterstellen (Antrag Nationalrat Fischer-Sursee, AB 1988 N 17 f., 20). Begründet wurde das damit, dass Einelternfamilien steuerlich entlastet werden müssen. Bedenken wurden laut,BGE 131 II 697 (706) BGE 131 II 697 (707)dass auf diese Weise Konkubinatspaare mit Kindern gegenüber Ehepaaren begünstigt würden, weil sie vom günstigen Ehegattentarif profitieren, obschon ihre Einkommen nicht zusammengerechnet werden (vgl. Art. 9 Abs. 1 DBG). Dennoch wurde der Antrag deutlich mit 107 zu 15 Stimmen angenommen (vgl. AB 1988 N 17 ff.).
Der Ständerat liess sich von der neuen Fassung nicht völlig überzeugen und stimmte am 6. Dezember 1988 knapp (mit Stichentscheid des Präsidenten) für die vom Bundesrat vorgeschlagene Lösung (AB 1988 S 824).
In der Folge wurde Absatz 2 Satz 2 von den Nationalrätinnen Uchtenhagen und Haller jedoch als Angleichung an die bei der direkten Bundessteuer getroffene Lösung interpretiert (d.h. Anwendung des Familientarifs auch auf allein erziehende Väter und Mütter). Nationalrätin Spoerry machte geltend, in Satz 2 gehe es nicht um einen Eingriff in die Tarifhoheit, sondern lediglich um eine definitorische Festlegung: Es werde den Kantonen vorgeschrieben, dass der Begriff Familie auch die Einelternfamilie umfasse (AB 1989 N 44, 45). Die Berichterstatter Reichling und Salvioni wiesen in der Folge darauf hin, dass der Wortlaut des Antrages ("gleiche Ermässigung") zu einem falschen Schluss führen könne. Es müsseBGE 131 II 697 (707) BGE 131 II 697 (708)heissen, eine entsprechende Reduktion sei auch für Halbfamilien vorzusehen ("une réduction doit aussi être prevue pour ..."). Es handle sich um eine redaktionelle Frage, die noch vom Ständerat bereinigt werden könne (AB 1989 N 45). In der Folge wurde Art. 12 Abs. 2 in der von der nationalrätlichen Kommission vorgeschlagenen Fassung praktisch einstimmig (mit 132 zu 2 Stimmen) angenommen.
Im Ständerat setzten sich die Ratsmitglieder Piller und Simmen für die Lösung des Nationalrates ein. Sie begründeten das damit, dass Alleinerziehende wesentlich zur so genannten Neuen Armut in der Schweiz beitragen würden und diese Personengruppe steuerlich entlastet werden müsse. Am 4. Oktober 1989 stimmte auch der Ständerat der neuen Fassung von Art. 12 Abs. 2 E-StHG und am 5. Oktober 1989 der ergänzten Fassung von Art. 36 Abs. 2 E-DBG zu (AB 1989 S 573 f., 593).
Die Frage der Gleichstellung der Einelternfamilien (bzw. von allein stehenden Personen, die mit unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und für deren Unterhalt zur Hauptsache aufkommen) mit den Zweielternfamilien wurde erstmals im Nationalrat bei der Beratung des Bundesgesetzes über die direkte Bundesteuer erörtert. Dort - bei der direkten Bundessteuer - ging es eindeutig um eine tarifliche Gleichstellung und nicht bloss um eine "vergleichbare Ermässigung" für Einelternfamilien (Art. 36 Abs. 2 E-DBG).
Bei der Beratung des Steuerharmonisierungsgesetzes waren die Meinungen geteilt, ob die "gleiche Ermässigung" für Einelternfamilien bzw. Halbfamilien Tarifgleichheit oder lediglich eine vergleichbare Ermässigung ("allégement analogue") bedeute. Die Fassung mit dem massgebenden Wortlaut wurde vom Nationalrat praktisch einstimmig angenommen. Und auch der Ständerat sprach sich mit einem schwachem Mehr für die Vorschrift aus.
Unter diesen Umständen muss davon ausgegangen werden, dass eine Mehrheit des Parlaments auch für Art. 11 Abs. 1 StHG eine exakt gleiche tarifliche Behandlung der Eineltern- undBGE 131 II 697 (708) BGE 131 II 697 (709)Zweielternfamilien befürwortete. Die Kommissionsreferenten Salvioli und Reichling appellierten zwar an den Ständerat, die Norm redaktionell anzupassen, doch wurde dieser Gesichtspunkt im Ständerat nicht weiter verfolgt. Unter dem Eindruck des engagierten Votums von Ständerat Piller, der die exakt gleiche Ermässigung bei der Steuer für Alleinerziehende und Ehepaare mit Kindern verfocht, schloss sich vielmehr eine (wenn auch knappe) Ratsmehrheit dem Beschluss des Nationalrates an. Sowohl im National- wie auch im Ständerat war den Ratsmitgliedern zudem hinreichend bewusst, dass die Befürworterseite eine tarifliche, nicht bloss eine "entsprechende" oder "gleichwertige" Ermässigung für Einelternfamilien postulierte.
In den Räten war insbesondere auch klar, dass Art. 11 Abs. 1 Satz 2 StHG in die Tarifautonomie der Kantone eingreift. Dieses Resultat ist indessen von der Parlamentsmehrheit gewollt.
Nach dem Gesagten ist Art. 11 Abs. 1 Satz 2 daher in dem Sinn zu interpretieren, dass die exakt gleiche (tarifliche) Ermässigung, die den in rechtlich und tatsächlich ungetrennter Ehe lebenden Personen zukommt, auch für "verwitwete, getrennt lebende, geschiedene und ledige Steuerpflichtige, die mit Kindern oder unterstützungsbedürftigen Personen zusammenleben und deren Unterhalt zur Hauptsache bestreiten", gilt. Eine bloss vergleichbare Ermässigung ist nicht genügend. Dieses Ergebnis kann auch durch eine verfassungskonforme Interpretation der Norm nicht beiseite geschoben werden.