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BGE 139 I 16 - Ausschaffungsinitiative


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 2.3
Erwägung 3
4. Ein Grund für den Widerruf bzw. die Verweigerung einer Ni ...
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24. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. und Y. gegen Sicherheitsdirektion und Regierungsrat des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_415/2010 vom 15. April 2011
 
 
Regeste
 
Art. 62 lit. b und Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG; Zusammenrechnung von mehreren kürzeren Strafen zu einer "längerfristigen" Freiheitsstrafe; Konkretisierung des Widerrufsgrundes eines "in schwerwiegender Weise" erfolgten Verstosses gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
 
Eine Person verstösst in der Regel dann "in schwerwiegender Weise" gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wenn durch ihre Handlungen besonders hochwertige Rechtsgüter wie namentlich die körperliche, psychische und sexuelle Integrität eines Menschen verletzt oder gefährdet wurden. Vergleichsweise weniger gravierende Pflichtverletzungen können gegebenenfalls in ihrer Gesamtheit als "schwerwiegend" bezeichnet werden (E. 3).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 137 II 297 (298)A. Der am 1. September 1977 geborene algerische Staatsangehörige X. reiste Anfang 1998 unter Missachtung der Einreisevorschriften und unter falscher Identität in die Schweiz ein. Das von ihm eingereichte Asylgesuch wurde am 5. Februar 1998 rechtskräftig abgewiesen. Ein Gesuch um vorläufige Aufnahme wies das Bundesamt für Migration am 28. September 2004 ab. Sämtlichen Aufforderungen zur Ausreise kam X. nicht nach. Auch ein Rückführungsversuch nach Algerien scheiterte an seinem Widerstand. X. wurde in der Schweiz wiederholt straffällig. In der Zeit vom 2. März 1998 bis zum 14. Dezember 2007 ergingen gegen ihn total 16 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen von insgesamt rund 33 Monaten. Den Verurteilungen lagen zum grössten Teil Vermögensdelikte sowie Widerhandlungen gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen zu Grunde. Die längste einzelne Freiheitsstrafe betrug sechs Monate; sie wurde aufgrund einer Verurteilung wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Ausländergesetz, begangen durch Missachtung einer Ausgrenzungsverfügung, sowie wegen Hinderung einer Amtshandlung ausgesprochen.
B. Am 2. Juni 2008 heiratete X. die Schweizerin Y. und ersuchte danach um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei der Ehefrau. Mit Verfügung vom 31. Oktober 2008 wies das Migrationsamt des Kantons Zürich das Gesuch insbesondere unter Hinweis auf die Delinquenz von X. ab.
Hiergegen rekurrierten X. und Y. ohne Erfolg beim Regierungsrat des Kantons Zürich. Eine daraufhin beim Verwaltungsgericht desBGE 137 II 297 (298) BGE 137 II 297 (299)Kantons Zürich eingereichte Beschwerde wurde von diesem mit Urteil vom 17. März 2010 abgewiesen.
C. Mit Eingabe vom 11. Mai 2010 führen X. und Y. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht. Sie beantragen im Wesentlichen die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung für X. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Angelegenheit zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
(Auszug)
 
 
Erwägung 2
 
2.2 Das Verwaltungsgericht führt in diesem Zusammenhang aus, es sei nicht einzusehen, weshalb zwar die Bewilligung jenes Ausländers zu widerrufen sei, der zu einer Freiheitsstrafe von 13 Monaten verurteilt wurde, nicht aber jene eines ausländischen Delinquenten, welcher vier Mal mit einer Freiheitsstrafe von jeweils 11 Monaten bestraft wurde. Im zweiten Fall sei der Unrechtsgehalt deutlich höher als beim ersten. Es seien nicht nur die ausgesprochenen Strafen insgesamt länger; ein mehrfach rückfälliger Täter gebe auch zu verstehen, dass er sich von Freiheitsstrafen nichtBGE 137 II 297 (299) BGE 137 II 297 (300)beeindrucken lasse und nicht bereit sei, sich an die gesetzliche Ordnung zu halten. Aus diesem Grund müssten auch mehrere kurze Freiheitsstrafen den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG erfüllen, sofern sie in ihrer Summe als "längerfristig" zu qualifizieren seien. Hierbei seien die ausgesprochenen Freiheitsstrafen aber nicht starr zu addieren, sondern vielmehr in einem Gesamtzusammenhang zu betrachten. Dies bedeute, dass etwa lange Zeitabstände zwischen den einzelnen Verurteilungen dazu führen könnten, dass nicht alle Straftaten berücksichtigt werden dürften.
 
Erwägung 2.3
 
2.3.4 Entscheidend ist im vorliegenden Fall jedoch vor allem, dass sich das Bundesgericht bei seiner Definition des Begriffs "längerfristig" i.S. von Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG massgeblich am Sanktionensystem des Strafgesetzbuches orientierte: Es führte aus, dass eine Freiheitsstrafe kaum als "längerfristig" bezeichnet werden könne, wenn sie sich in einem Rahmen bewege, der auch die Verurteilung zu einer Geldstrafe zulassen würde. Anders sei dagegen dort zu entscheiden, wo aufgrund des hohenBGE 137 II 297 (300) BGE 137 II 297 (301)Strafbedürfnisses zwingend eine Freiheitsstrafe als Sanktion ausgesprochen werden muss (BGE 135 II 377 E. 4.2 S. 380). Wie im genannten Urteil aufgezeigt wird, ist dies der Fall, wenn die Dauer der auszusprechenden Strafe ein Jahr bzw. 360 Tage überschreitet (Art. 34 Abs. 1 StGB). Unterhalb dieses Schwellenwertes, für Strafen von sechs Monaten bis zu einem Jahr, hat der Richter dagegen die Wahl, ob er eine Freiheitsstrafe oder aber eine Geldstrafe verhängt. Bis zu einer Strafdauer von sechs Monaten bzw. 180 Tagen steht als zusätzliche Sanktionsart auch die gemeinnützige Arbeit zur Verfügung, dafür sind kurze Freiheitsstrafen bis zu einer Dauer von sechs Monaten nur unter sehr einschränkenden Voraussetzungen möglich (vgl. Art. 37 Abs. 1 sowie Art. 41 Abs. 1 und Art. 42 Abs. 1 StGB).
Massgebliche Kriterien für die Wahl der Sanktionsart bilden ihre Zweckmässigkeit, ihre Auswirkungen auf den Täter und sein soziales Umfeld sowie ihre präventive Effizienz (BGE 134 IV 97 E. 4.2 S. 100, BGE 134 IV 82 E. 4.1 S. 84). Nicht massgeblich ist dagegen namentlich das Verschulden des Delinquenten; dieses schlägt sich ausschliesslich im Strafmass nieder. Die drei Hauptstrafarten (Freiheitsstrafe, Geldstrafe, gemeinnützige Arbeit) sind somit, was das Verschulden anbelangt, austauschbar (ANDREAS ZÜND, Strafrecht: Ein Wegweiser zu den neuen Sanktionen, Plädoyer 2008 6 S. 40).
Konsequenterweise müssten daher - wollte man der Argumentation des Verwaltungsgerichts folgen - auch allfällige Geldstrafen und Verurteilungen zu gemeinnütziger Arbeit bzw. die auf sie entfallende Anzahl Tagessätze resp. Arbeitsstunden zusammengerechnet und im Rahmen von Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG berücksichtigt werden. Dies schliesst der klare Gesetzeswortlaut, welcher eindeutig von einer "Freiheitsstrafe" spricht, jedoch aus. Vor diesem Hintergrund erschiene es sachwidrig und unter dem Gesichtspunkt des Rechtsgleichheitsgebotes problematisch, die hinsichtlich des Verschuldens äquivalenten Freiheitsstrafen von einem Jahr oder weniger zu kumulieren.
2.3.5 Zu beachten ist sodann, dass das Bundesgericht seine Präzisierung des Begriffes "längerfristig" namentlich auch mit dem Interesse an Rechtssicherheit und einer einheitlichen Auslegung des Bundesrechts begründete (BGE 135 II 377 E. 4.2 S. 380). Diesem Bestreben würde durch die vom Verwaltungsgericht befürwortete grundsätzliche Möglichkeit einer Zusammenrechnung kürzerer Freiheitsstrafen entgegengewirkt: Wie die Vorinstanz richtig erkanntBGE 137 II 297 (301) BGE 137 II 297 (302)hat, müsste diesfalls unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls geklärt werden, bei welchen Straferkenntnissen eine Kumulation in Frage kommt. Namentlich wäre zu prüfen, ob es hierfür eines inhaltlichen Zusammenhangs oder einer zeitlichen Nähe verschiedener Urteile bedarf; gänzlich ausgeschlossen wäre ein Zusammenrechnen jedenfalls insoweit, als eine Verurteilung aus dem Strafregister entfernt wurde (vgl. Art. 369 Abs. 7 StGB; BGE 135 I 71 E. 2.10 S. 75 f. mit Hinweisen). Auch unter diesem Gesichtswinkel erscheint die von der Vorinstanz vertretene Auslegung von Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG nicht als sinnvoll. Vielmehr ist bei der Rechtsanwendung ein Auslegungsergebnis anzustreben, welches praktikabel ist; im Zweifelsfall ist eine Lösung zu bevorzugen, welche den Anforderungen der Praxis gerecht wird (BGE 136 II 113 E. 3.3.4 S. 119 mit weiteren Hinweisen).
 
Erwägung 3
 
3.2 Gemäss Art. 80 der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201) liegt ein Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung unter anderem vor bei einer Missachtung von gesetzlichen Vorschriften und behördlichen Verfügungen (Abs. 1 lit. a) sowie bei mutwilliger Nichterfüllung der öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichenBGE 137 II 297 (302) BGE 137 II 297 (303)Verpflichtungen (Abs. 1 lit. b). Anders als der Widerruf einer Aufenthaltsbewilligung (Art. 62 lit. c AuG), welcher voraussetzt, dass der Ausländer "erheblich oder wiederholt" gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstossen hat, bedingt ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung i.S. von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG - und damit ein Erlöschen des Anspruchs auf Familiennachzug gemäss Art. 51 Abs. 1 lit. b AuG -, dass ein solcher Verstoss "in schwerwiegender Weise" erfolgt ist. Dass damit vergleichsweise erhöhte Anforderungen an einen Bewilligungswiderruf gestellt werden, ergibt sich eindeutig aus dem französischen Wortlaut der genannten Bestimmungen: Während Art. 62 lit. c AuG von einem Verstoss "de manière grave ou répétée" spricht, wird in Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG die qualifizierte Formulierung "de manière très grave" verwendet. Diese Unterscheidung überzeugt, vermittelt die Niederlassungsbewilligung doch das gefestigtere Anwesenheitsrecht als eine blosse Aufenthaltsbewilligung und besteht bei niedergelassenen Ausländern oftmals eine vergleichsweise engere Verbindung zur Schweiz (vgl. die Botschaft des Bundesrates vom 8. März 2002 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, welche auf den "längeren Voraufenthalt der niedergelassenen Ausländerinnen und Ausländer" verweist [BBl 2002 3709, 3810 zu Art. 62]). Indes führt der unterschiedliche Wortlaut der Widerrufsgründe von Art. 62 lit. c AuG einerseits und Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG andererseits zu erheblichen Abgrenzungsproblemen: Es erhellt nicht ohne Weiteres, wann ein Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht nur als "erheblich oder wiederholt" erscheint, sondern überdies auch noch in einer Weise erfolgt ist, die als "schwerwiegend" bezeichnet werden muss. Diese unbestimmten Rechtsbegriffe erscheinen vielmehr in besonderem Masse als auslegungsbedürftig und sind nachfolgend näher zu umschreiben.
Ob der Ausländer willens und in der Lage ist, sich in die hier geltende Ordnung einzufügen, kann nur anhand einer Gesamtbetrachtung seines Verhaltens beurteilt werden. Hieraus folgerte das Bundesgericht in früheren Entscheiden, dass auch eine Summierung von Verstössen, die für sich genommen für einen Widerruf nicht ausreichen würden, einen Bewilligungsentzug rechtfertigen könne; sogar das Bestehen von privatrechtlichen Schulden könne gegebenenfalls einen schwerwiegenden Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, wenn die Verschuldung mutwillig erfolgt ist (Urteil 2C_273/2010 vom 6. Oktober 2010 E. 3.2 und E. 3.3 mit Hinweisen). Dies muss umso mehr bei einer wiederholten Begehung von gewichtigen Vermögensdelikten gelten.
Demgegenüber ist aber auch festzustellen, dass die verübten Vermögensdelikte schon eine gewisse Zeit zurückliegen; die letzte einschlägige Verurteilung datiert vom 23. Dezember 2004. Ebenso fällt auf, dass die vom Beschwerdeführer 1 begangenen Vermögensdelikte vergleichsweise tiefe Strafen von maximal drei Monaten nach sich gezogen haben. Die neueren Verurteilungen und die höheren Strafen betreffen vorwiegend - wenn auch nicht ausschliesslich - Widerhandlungen gegen das Ausländerrecht. Betreffend die Letzteren gilt es zudem zu berücksichtigen, dass die Erteilung der hier streitigen Bewilligung eo ipso zum Wegfall der Rechtswidrigkeit des Aufenthalts des Beschwerdeführers 1 führt und einer diesbezüglichen Delinquenz die Grundlage entzieht.
Aus diesen Gründen und in Anbetracht der aufgezeigten Abgrenzung zu Art. 62 lit. c AuG können die vom Beschwerdeführer 1 zu verantwortenden Verstösse gegen die öffentliche Sicherheit undBGE 137 II 297 (304) BGE 137 II 297 (305)Ordnung insgesamt nicht als "schwerwiegend" i.S. von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG bezeichnet werden. Auch dieser Widerrufsgrund ist somit nicht erfüllt und darf daher nicht zur Begründung der Nichterteilung einer Aufenthaltsbewilligung herangezogen werden (Art. 51 Abs. 1 lit. b AuG e contrario; vgl. E. 2.1 und 2.4 hiervor.)