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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 2.2
Erwägung 3
Erwägung 3.2
Erwägung 3.3
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
12. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Kantonales Steueramt St. Gallen (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_884/2018 vom 30. Januar 2019
 
 
Regeste
 
Art. 135 Ziff. 1 OR; Art. 120 Abs. 3 lit. b DBG; Art. 47 Abs. 1 StHG. Nur die "ausdrückliche" Anerkennung der Steuerforderung unterbricht den Lauf der direktsteuerlichen Verjährung.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 145 II 130 (131)A. (geb. 1955; nachfolgend: die Steuerpflichtige) hat steuerrechtlichen Wohnsitz in U./SG. In den Steuerperioden 2008 bis 2010 war sie unselbständig erwerbstätig. Zum einen betätigte sie sich als Leiterin einer Schule. Zum anderen wirkte sie als Geschäftsführerin (heute: Liquidatorin) der C. GmbH (heute: in Liquidation) mit Sitz in W./AR, deren Mehrheitsgesellschafterin sie ist. Am 8. September 2009 reichte sie ihre private Steuererklärung zur Steuerperiode 2008 ein. Mit E-Mail vom 29. Oktober 2010 an das Steueramt des Kantons St. Gallen (KStA/SG) beantragte sie, es sei mit der Veranlagungsverfügung 2008 zuzuwarten. Die Buchhaltung der C. GmbH befinde sich in Überarbeitung, was Auswirkungen auf ihre eigene Veranlagung haben werde. Am 20. Januar 2011 gab sie die modifizierten Einkünfte bekannt. Die Steuererklärungen zu den Steuerperioden 2009 und 2010 reichte sie am 15. März 2011 bzw. 19. Juli 2011 ein.
Am 29. Dezember 2014 teilte das KStA/SG der Steuerpflichtigen mit, mangels vollständiger Unterlagen könne die Veranlagung 2008 noch nicht vorgenommen werden. Mit dem vorliegenden Schreiben werde der Lauf der Veranlagungsverjährung unterbrochen. Am 18. Dezember 2015 erging ein gleiches Schreiben zur Steuerperiode 2009. In der Folge setzte das KStA/SG die Staats- und Gemeindesteuern des Kantons St. Gallen und die direkte Bundessteuer, Steuerperioden 2008-2010, mit Veranlagungsverfügungen vom 6. April 2016 fest. Die Steuerpflichtige focht die Verfügungen an. In den Einspracheentscheiden vom 3. Januar 2017 (2008 und 2009) bzw. 4. Januar 2017 (2010) erkannte das KStA/SG, die Einrede der Veranlagungsverjährung sei unbegründet (2008-2010). Die Verwaltungsrekurskommission bestätigte dies am 20. Juni 2017.
Die Steuerpflichtige rief das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen an, das die Beschwerden am 27. August 2018 abwies. Das Verwaltungsgericht erkannte, mit ihren E-Mails vom 29. Oktober 2010 bzw. 20. Januar 2011 (Steuerperiode 2008) und den Steuererklärungen vom 15. März 2011 bzw. 19. Juli 2011 (Steuerperioden 2009 und 2010) habe die Steuerpflichtige die laufende Veranlagungsverjährung unterbrochen. Die Veranlagungsverfügungen vom 6. April 2016 seienBGE 145 II 130 (131) BGE 145 II 130 (132)alsdann innerhalb von fünf Jahren seit der Unterbrechung der Verjährung und damit rechtzeitig ergangen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde der Steuerpflichtigen ab.
(Zusammenfassung)
 
II. Direkte Bundessteuer
 
Erwägung 2
 
 
Erwägung 2.2
 
    "Die Verjährung beginnt neu mit (...) jeder ausdrücklichen Anerkennung der Steuerforderung durch den Steuerpflichtigen oder den Mithaftenden."
    "Un nouveau délai de prescription commence à courir (...) lorsque le contribuable ou une personne solidairement responsable avec lui reconnaît expressément la dette d'impôt."
    "Un nuovo termine di prescrizione decorre con (...) ogni riconoscimento esplicito del debito fiscale da parte del contribuente o del corresponsabile dell'imposta."
Die direkte Gegenüberstellung zeigt auf, dass die drei Sprachfassungen im hier wesentlichen Punkt grammatikalisch übereinstimmen: Verjährungsunterbrechend ist das Verhalten der steuerpflichtigen oder der mithaftenden Person nur, aber immerhin, falls und soweit die Anerkennung der Steuerforderung (dette d'impôt, debito fiscale) "ausdrücklich", "expressément" oder "esplicito" erfolgt.
BGE 145 II 130 (132)
BGE 145 II 130 (133)2.2.2 Mit dem Erfordernis der ausdrücklichen Anerkennung nimmt das DBG eine Sonderstellung ein. In den übrigen, teils auch jüngeren bundesrechtlichen Abgabeerlassen fehlt dieses verschärfende Attribut und reicht die blosse "Anerkennung" aus (so namentlich Art. 30 Abs. 3 StG [SR 641.10]; Art. 23 Abs. 3 TStG [SR 641.31];Art. 23 Abs. 1 BStG [SR 641.411]; Art. 20 Abs. 1 AStG [SR 641.51]; Art. 25 Abs. 2 lit. a MinöStG [SR 641.61]; Art. 17 Abs.3 VStG [SR 641.21]). Eine Besonderheit besteht einzig im Mehrwertsteuerrecht. So hat der Gesetzgeber in Art. 42 Abs. 3 des Mehrwertsteuergesetzes vom 12. Juni 2009 [MWSTG; SR 641.20] davon abgesehen, dieAnerkennung der Steuerforderung als verjährungsunterbrechendes Verhalten der steuerpflichtigen Person zu würdigen. Den Materialien lässt sich indes entnehmen, dass auch eine mehrwertsteuerpflichtige Person den Fristenlauf unterbrechen kann (Botschaft vom 25. Juni 2008 zur Vereinfachung der Mehrwertsteuer, BBl 2008 6885, insb. 6985 zu Art. 42 Abs. 3 E-MWSTG). Es soll einem "allgemeinen Rechtsgrundsatz" entsprechen, dass die "Verjährung grundsätzlich durch jede Anerkennung von Seiten eines Zahlungspflichtigen unterbrochen wird" (MICHAEL BEUSCH, in: MWSTG, Kommentar, Geiger/Schluckebier [Hrsg.], 2012, N. 14 zu Art. 42 MWSTG). Entsprechend sah der Gesetzgeber keinen Anlass, die Anerkennung der Steuerforderung im MWSTG eigens als Unterbrechungsgrund zu erwähnen.
2.2.6 Der konzeptionelle Unterschied zwischen Art. 120 Abs. 3 lit. b DBG bzw. Art. 47 Abs. 1 StHG einerseits und Art. 135 Ziff. 1 ORBGE 145 II 130 (134) BGE 145 II 130 (135)anderseits besteht mithin darin, dass die Anerkennung der Forderung vertragsrechtlich auch anders als "ausdrücklich" erfolgen kann. Verjährungsunterbrechend wirkt nach Art. 135 Ziff. 1 OR jedes Verhalten des Schuldners, das vom Gläubiger nach Treu und Glauben als Bestätigung der rechtlichen Schuldverpflichtung gewürdigt werden darf (BGE 134 III 591 E. 5.2.1 S. 594; BGE 119 II 368 E. 7b S. 378 f.; BGE 110 II 176 E. 3 S. 180 f.). Massgebend ist die Optik des Gläubigers, wobei die Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen sind (Urteil 4A_109/2014 vom 21. Mai 2014 E. 4.1). Von der direktsteuerlichen "Ausdrücklichkeit" der Willenserklärung ist dagegen zu verlangen, dass nicht nur die Veranlagungsbehörde (als Vertreterin des Gläubigers), sondern auch die steuerpflichtige Person der Ansicht ist, durch das Verhalten würden Bestand und Höhe der Steuerforderung anerkannt. Die Anerkennung der Steuerforderung soll, wie dargelegt, nicht unvermittelt und unbeabsichtigt geschehen können.
2.2.8 Gleich verhält es sich mit einer vorbehaltlos beglichenen Ratenzahlung (auch dazu BGE 90 I 18 E. 2b S. 25; MARKUS BINDER, Die Verjährung im schweizerischen Steuerrecht, 1985, S. 281). Im Bereich der Mehrwertsteuer ist an die Quartals- oder Semesterabrechnungen zu denken, auch an später nachgereichteBGE 145 II 130 (135) BGE 145 II 130 (136)Korrekturabrechnungen. Alle Erscheinungsformen der Abrechnung dienen letztlich der Festsetzung oder Korrektur einer Steuerforderung, weshalb ihnen verjährungsunterbrechende Wirkung zukommt (BAUMGARTNER/CLAVADETSCHER/KOCHER, Vom alten zum neuen Mehrwertsteuergesetz, 2010, § 8 N. 45).
2.2.9 Bei aller gebotenen Ausdrücklichkeit ist nicht erforderlich, dass die "ausdrückliche" Anerkennung der Steuerforderung in diesem Sinne verbalisiert wird (Beispiel: "Mit der vorliegenden Eingabe anerkenne ich die sich aus dem von mir deklarierten Einkommen ergebende Steuerforderung"). Solcherlei verlangt das Gesetz nicht. Anders als nach Art. 135 Ziff. 1 OR ist die Willenserklärung aber eben ausdrücklich abzugeben, was in aller Regel bedeuten dürfte, dass die steuerpflichtige oder mithaftende Person ihren Unterbrechungswillen nur im Rahmen einer mitwirkungsbezogenen Tathandlung äussern kann (PETER LOCHER, Kommentar zum DBG, 3. Teil 2015, N. 36 zu Art. 120 DBG; DIETER EGLOFF, in: Kommentar zum Aargauer Steuergesetz, Klöti-Weber/Siegrist/Weber [Hrsg.], 4. Aufl. 2015, N. 38 zu § 177 StG/AG;THOMAS MEIER, Verjährung und Verwirkung öffentlich-rechtlicher Forderungen, 2013, S. 229). Soweit die Praxis einen weniger hohen Massstab ansetzt (RICHNER/FREI/KAUFMANN/MEUTER, Handkommentar zum DBG, 3. Aufl. 2016, N. 12 zu Art. 120 DBG; dies., Kommentar zum Zürcher Steuergesetz, 3. Aufl. 2013, N. 13 zu § 130 StG/ZH; BEUSCH, namentlich in: Komm. DBG, a.a.O., N. 43 zu Art. 120 DBG) oder unentschieden zu sein scheint (MASMEJEAN-FEY/VIANIN, in: Commentaire romand, Impôt fédéral direct, 2. Aufl. 2017, N. 14 zu Art. 120 DBG), ist dies mit dem klaren Wortlaut von Art. 120 Abs. 3 lit. b DBG und dem diesem innewohnenden Selbstschutzgedanken nicht vereinbar. Ein bloss konkludent geäussertes Verhalten kann nicht als "ausdrücklich" gelten.
 
Erwägung 3
 
 
Erwägung 3.2
 
3.2.1 Zunächst ist die Steuerperiode 2008 zu prüfen. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen trat das KStA/SG mit Schreiben vom 29. Dezember 2014 an die Steuerpflichtige heran. Zu Ratenrechnungen, früheren Korrespondenzen und dergleichen hat dieBGE 145 II 130 (136) BGE 145 II 130 (137)Vorinstanz keine Feststellungen getroffen. Es ist daher anzunehmen, dass der erste von der Steuerpflichtigen wahrnehmbare Verwaltungsakt im Schreiben von Ende Dezember 2014 bestand. Zu diesem Zeitpunkt war die ordentliche fünfjährige Verjährungsfrist, die am 31. Dezember 2013 endete, bereits verstrichen. Es ist zu prüfen, ob die Steuerpflichtige die Steuerforderung vor dem 31. Dezember 2013 anerkannt und dadurch die relative Frist unterbrochen habe.
3.2.4 Die in Gang gesetzte neue Frist endete zuletzt am 20. Januar 2016. Die Veranlagungsverfügung 2008 erging freilich erst am 6. April 2016. Das KStA/SG war allerdings mit Schreiben vom 29. Dezember 2014 an die Steuerpflichtige gelangt, unter anderem in derBGE 145 II 130 (137) BGE 145 II 130 (138)ausdrücklichen Absicht, die Frist zu unterbrechen. Diese Mitteilung qualifizierte klarerweise als Vorgang im Sinne von Art. 120 Abs. 3 lit. a DBG (Urteil 2C_1098/2014 / 2C_1099/2014 vom 1. Dezember 2015 E. 5.1, in: StE 2016 B 92.9 Nr. 11). Dadurch erstreckte sich die Frist bis zum 29. Dezember 2019. Die Veranlagungsverfügung vom 6. April 2016 zur Steuerperiode 2008 erfolgte damit rechtzeitig.
 
Erwägung 3.3
 
3.3.2 Die Steuerpflichtige macht geltend, die Vorinstanz habe den Rechtsbegriff der "ausdrücklichen Anerkennung der Steuerforderung" geradezu "widerrechtlich extensiv" ausgelegt. Dem ist nicht zu folgen. Eine vollständig ausgefüllte, eigenhändig unterzeichnete und vorbehaltlos eingereichte Steuererklärung stellt eine ausdrückliche Anerkennung der Steuerpflicht dar (vorne E. 2.2.7). Wollte man der Steuerpflichtigen folgen, wäre anzunehmen, dass der Steuererklärung gewissermassen ein genereller Vorbehalt innewohnt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Veranlagungsbehörde hätte sonst in jedem einzelnen Fall abzuklären, ob die Mitwirkungspflicht (Art. 124 und 125 DBG) mit oder ohne Vorbehalt wahrgenommen worden sei. Das Verfahren der gemischten Veranlagung, wie es die direkte Bundessteuer beherrscht (Art. 123 Abs. 1 DBG; BGE 142 II 69 E. 5.1 S. 76), würde dadurch geradezu ad absurdum geführt. Denn demBGE 145 II 130 (138) BGE 145 II 130 (139)klaren Gesetzestext zufolge hat die steuerpflichtige Person alles zu tun, was dazu dient, eine vollständige und richtige Veranlagung zu ermöglichen (Art. 126 Abs. 1 DBG; BGE 142 II 69 E. 5.1.1 S. 76; Urteile 2C_1018/2015 / 2C_1019/2015 vom 2. November 2017 E. 6.1, in: ASA 86 S. 407, RDAF 2017 II S. 630, StR 73/2018 S. 255; 2C_16/2015 vom 6. August 2015 E. 2.5.1, in: ASA 84 S. 254, RDAF 2016 II S. 110, StE 2015 A 21.12 Nr. 16). Die gesetzliche Konzeption von Art. 123 Abs. 1 und Art. 126 Abs. 1 DBG hat freilich nicht zwangsläufig zur Folge, dass die steuerpflichtige Person die Steuerforderung anerkennt, sobald sie in irgendeiner Form mitwirkt. Wirkt sie aber massgeblich mit (namentlich durch Einreichen einer ausgefüllten Steuererklärung [vorne E. 2.2.7]), darf von ihr verlangt werden, ihre etwaigen Vorbehalte in einer Art und Weise auszudrücken, dass die Bestreitung bzw. Nichtanerkennung der Steuerforderung nicht zu übersehen ist.