Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
5. Im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
5. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Departement des Innern des Kantons Solothurn, Migrationsamt (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_468/2019 vom 18. November 2019
 
 
Regeste
 
Art. 62 Abs. 2 AIG: Widerruf/Nichtverlängerung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf ein Delikt, für das ein Strafgericht von einer Landesverweisung abgesehen hat.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 146 II 49 (50)A. Der 1975 geborene A. ist polnischer Staatsangehöriger und seit 1997 mit einer Landsfrau verheiratet, mit welcher er vier volljährige Kinder hat. Am 15. Dezember 2010 reiste er in die Schweiz ein, worauf ihm eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA erteilt wurde.
Nach seiner Einreise in die Schweiz hat sich A. wiederholt strafbar gemacht; insbesondere wurde er mit Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 22. April 2016 verurteilt zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten, davon 15 Monate bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von zwei Jahren und einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je Fr. 10.- und zu einer Busse von Fr. 200.- wegen Vergewaltigung, Nötigung, übler Nachrede, Fahrens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand (qualifiziert begangen), Führens eines nicht vorschriftsgemäss ausgerüsteten Personenwagens und Nichteinholens eines neuen Fahrzeugausweises nach Halterwechsel.
Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau widerrief daraufhin die Aufenthaltsbewilligung mit Verfügung vom 31. August 2016 und wies ihn aus der Schweiz weg. Dagegen erhob A. Einsprache. Am 1. September 2016 verlegte er seinen Wohnsitz in den Kanton Solothurn; im Gesuch um Kantonswechsel vermerkte er, dass er nicht strafrechtlich verurteilt worden sei, keine Schulden habe und keine Sozialhilfe bezogen habe. Daraufhin erteilte ihm das Migrationsamt des Kantons Solothurn am 10. Oktober 2016 eine Aufenthaltsbewilligung. Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau schrieb in der Folge die Einsprache als gegenstandslos geworden ab.
Weiter wurde A. mit Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden vom 17. Oktober 2018 zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 150.- und zu einer Busse von Fr. 100.- verurteilt wegen Führens eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem FührerausweisBGE 146 II 49 (50) BGE 146 II 49 (51)und Verwendung eines Telefons ohne Freisprecheinrichtung während der Fahrt.
Am 5. Dezember 2018 verfügte das Migrationsamt des Kantons Solothurn unter Hinweis auf die strafrechtlichen Verurteilungen die Nichtverlängerung bzw. den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung und wies A. per 28. Februar 2019 aus der Schweiz weg. Zudem wurde er mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 4. Januar 2019 verurteilt zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 100.-, bedingt aufgeschoben bei einer Probezeit von drei Jahren, wegen Täuschung der Behörden im Zusammenhang mit seinem Kantonswechsel.
B. Die von A. gegen die Verfügung vom 5. Dezember 2018 erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 28. März 2019 ab.
C. Mit Beschwerde an das Bundesgericht beantragt A., das Migrationsamt sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides anzuweisen, ihm eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
 
5.4 Vorliegend stützen die Vorinstanzen die Nichtverlängerung hauptsächlich auf die mit dem Urteil vom 22. April 2016 beurteilte Vergewaltigung. BGE 146 II 49 (52) BGE 146 II 49 (53)Auf diese Tat konnten somit aus intertemporalrechtlichen Gründen die Art. 66a ff. StGB und Art. 62 Abs. 2 AIG nicht anwendbar sein. Gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen wurde der Beschwerdeführer zusätzlich mit Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden vom 17. Oktober 2018 zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 150.-und zu einer Busse von Fr. 100.-verurteilt wegen Führens eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis und Verwendung eines Telefons ohne Freisprecheinrichtung während der Fahrt. Aus dem in den Akten befindlichen Strafurteil (Art. 105 Abs. 2 BGG) ergibt sich, dass die Tat am 24. Januar 2018 begangen wurde, somit nach Inkrafttreten der neuen Bestimmungen über die Landesverweisung. Führen eines Motorfahrzeugs trotz entzogenem Führerausweis (Art. 95 Abs. 1 lit. b SVG) wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, ist mithin ein Vergehen (Art. 10 Abs. 3 StGB) und kann zu einer nicht obligatorischen Landesverweisung (Art. 66a bis StGB) führen. Das Urteil des Bezirksgerichts Rheinfelden äussert sich weder im Dispositiv noch in den Erwägungen zu einer allfälligen Landesverweisung. Das Bezirkgsgericht hat dabei aber ausschliesslich über die Autofahrt vom 24. Januar 2018 geurteilt, nicht über die früheren Straftaten. In Bezug auf das Delikt, auf welches sich der Widerruf stützt, hat das Strafgericht nicht von einer Landesverweisung abgesehen; vielmehr kam eine solche aus übergangsrechtlichen Gründen gar nicht in Frage. Wenn bereits mit Blick auf dieses vor dem 1. Oktober 2016 begangene Delikt die Voraussetzungen für den Widerruf erfüllt sind, steht Art. 62 Abs. 2 AlG dem ausländerrechtlichen Widerruf nicht entgegen (BUSSLINGER/UEBERSAX, Härtefallklausel und migrationsrechtliche Auswirkungen der Landesverweisung, Plädoyer 2016 5 S. 106). Denn der Widerruf erfolgt in dieser Konstellation nicht "nur" ("uniquement", "per il solo motivo") wegen eines Deliktes, für welche das Strafgericht eine Strafe verhängt, aber von einer Landesverweisung abgesehen hat, wie dies der klare Wortlaut von Art 62 Abs. 2 AIG verlangt, sondern im Gegenteil in erster Linie wegen eines Deliktes, für welches die Art. 66a ff. StGB nicht anwendbar sind.
5.5 Das Bundesgericht hat allerdings in BGE 146 II 1 vom 18. November 2019 Art. 63 Abs. 3 AIG angewendet in einer Konstellation, in welcher einerseits eine Verurteilung zu drei Jahren Freiheitsstrafe erfolgt war wegen Delikten, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen worden waren, und andererseits eine Verurteilung zu zwei Jahren Freiheitsstrafe (unter Absehen von der Landesverweisung BGE 146 II 49 (53) BGE 146 II 49 (54)gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB) unter anderem für Delikte, die nach diesem Datum begangen worden waren. Das Bundesgericht erwog, das Strafgericht habe bei seiner Annahme eines Härtefalls das gesamte deliktische Verhalten in Betracht gezogen mit Einschluss der vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Delikte. Würden die Migrationsbehörden gestützt auf diejenigen Tatsachen, welche das Strafgericht bei der Annahme eines Härtefalls gewürdigt hatte, die Bewilligung widerrufen, würde damit der Dualismus wieder eingeführt, den der Gesetzgeber vermeiden wollte.
Im vorliegenden Fall besteht eine klare Trennung zwischen dem Urteil vom 22. April 2016 und demjenigen vom 17. Oktober 2018, welch letzteres ausschliesslich wegen Delikten erging, welche nach dem 1. Oktober 2016 begangen wurden. Diesem Urteil lässt sich - anders als dem Strafurteil im Falle von BGE 146 II 1 - nicht entnehmen, dass das Strafgericht eine Landesverweisung in Betracht gezogen, unter Berücksichtigung der früheren Delikte jedoch davon abgesehen hätte. Das Urteil erging im abgekürzten Verfahren (Art. 358 ff. StPO) und äussert sich weder im Dispositiv noch in den Erwägungen zu einer allfälligen Landesverweisung. Es ist davon auszugehen, dass angesichts des (im Verhältnis zur maximalen Strafdrohung von drei Jahren Freiheitsstrafe) relativ geringfügigen Strafmasses (Geldstrafe von 90 Tagessätzen) eine Landesverweisung wegen der Autofahrt vom 24. Januar 2018 von vornherein nicht in Betracht gezogen wurde. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht den Widerruf nicht auf die Verurteilung vom 17. Oktober 2018 gestützt, sondern auf diejenige vom 22. April 2016. Wenn bereits diese - noch nicht unterBGE 146 II 49 (54) BGE 146 II 49 (55)Art. 66a ff. fallende - Verurteilung für den Widerruf ausreicht, kommt Art. 62 Abs. 2 AIG nicht zum Tragen (vorne E. 5.4). Schliesslich hat das Verwaltungsgericht - anders als das Kantonsgericht im Falle von BGE 146 II 1 - nicht darauf abgestellt, das Strafgericht habe zu Unrecht von der Landesverweisung abgesehen. Es verhält sich also nicht so, dass verschiedene Behörden (Strafgericht und Migrationsbehörden) den gleichen Sachverhalt unterschiedlich beurteilt hätten: Das Strafgericht hat bei seinem Entscheid gegen eine strafrechtliche Landesverweisung die früheren Delikte nicht in seine Beurteilung miteinbezogen, während die am 24. Januar 2018 begangene Tat nicht Anlass für den Widerruf der Aufenthaltsbewilligung durch die Migrationsbehörden gab. In der vorliegenden Konstellation kommt daher Art. 62 Abs. 2 AIG nicht zur Anwendung. Anders zu entscheiden würde bedeuten, dass der Widerruf der Bewilligung wegen Vergewaltigung bloss deshalb ausgeschlossen wäre, weil der Beschwerdeführer nach dem 1. Oktober 2016 ein weiteres relativ geringfügiges Delikt begangen hat, für welches eine Landesverweisung von vornherein nicht in Betracht fiel, während dem Widerruf nichts entgegen stünde, wenn der Beschwerdeführer nach der Vergewaltigung nicht mehr delinquiert hätte. Eine solche Konsequenz wäre ein krasser Wertungswiderspruch, der sich dem Gesetz nicht entnehmen lässt.