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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
Bearbeitung, zuletzt am 04.02.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
32. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
1C_650/2020 vom 12. Juli 2022
 
 
Regeste
 
Art. 15 Abs. 1 und 2, Art. 21 Abs. 2 und Art. 27 RPG; vorfrageweise Überprüfung des Zonenplans im Baubewilligungsverfahren; kommunale Planungszone.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 II 417 (418)A. B. stellte am 25. Oktober 2018 bei der Gemeinde Klosters-Serneus ein Gesuch um Erstellung eines Einfamilienhauses auf der Parzelle Nr. 2055. E.D. und D.D. stellten ebenfalls am 25. Oktober 2018 bei der Gemeinde ein Gesuch um Erstellung eines Mehrfamilienhauses auf der Parzelle Nr. 4355. C. stellte am 20. Dezember 2018 bei der Gemeinde ein Gesuch um Erstellung eines Einfamilienhauses ebenfalls auf der Parzelle 4355.
A. erhob gegen die drei Baugesuche je eine Einsprache. Am 19. März 2019 wies die Gemeinde die Einsprachen ab und erteilte den Baugesuchstellern je die ersuchte Baubewilligung unter Bedingungen und Auflagen. (...)
B. Gegen die drei Baubewilligungen erhob A. je Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Das Verwaltungsgericht vereinigte die drei Beschwerden und wies sie am 29. September 2020 ab, soweit es darauf eintrat. (...)
C. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. September 2020 hat A. am 25. Februar 2021 Beschwerde inBGE 148 II 417 (418) BGE 148 II 417 (419)öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht erhoben. Er beantragt, das angefochtene Urteil und die drei Baubewilligungen vom 19. März 2019 seien aufzuheben. Eventualiter sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es hebt das angefochtene Urteil und die Baubewilligungen der Gemeinde Klosters-Serneus vom 19. März 2019 auf.
(Auszug)
 
 
Erwägung 3
 
BGE 148 II 417 (420)Art. 21 Abs. 2 RPG unterscheidet zwei Stufen: In einem ersten Schritt wird geprüft, ob sich die Verhältnisse so erheblich geändert haben, dass die Nutzungsplanung überprüft werden muss; in einem zweiten Schritt erfolgt nötigenfalls die Plananpassung. Ob eine Plananpassung (zweite Stufe) aufgrund veränderter Verhältnisse gerechtfertigt ist, beurteilt sich aufgrund einer Interessenabwägung. Dabei ist auf der einen Seite die Notwendigkeit einer gewissen Stabilität nutzungsplanerischer Festlegungen zu beachten, auf der anderen Seite das Interesse, die Pläne an eingetretene Veränderungen anzupassen. Zu berücksichtigen sind insbesondere die bisherige Geltungsdauer des Nutzungsplans, das Ausmass seiner Realisierung und Konkretisierung, das Gewicht des Änderungsgrunds, der Umfang der beabsichtigten Planänderung und das öffentliche Interesse daran (BGE 140 II 25 E. 3.1 mit Hinweisen; vgl. Urteile 1C_619/2019 vom 6. August 2020 E. 7.1 und 1C_40/2016 vom 5. Oktober 2016 E. 3.2.1). Im Rahmen der ersten Stufe sind geringere Anforderungen zu stellen: Eine Überprüfung der Grundordnung ist bereits geboten, wenn sich die Verhältnisse seit der Planfestsetzung geändert haben, diese Veränderung die für die Planung massgebenden Gesichtspunkte betrifft und erheblich ist. Die Erheblichkeit ist auf dieser Stufe bereits zu bejahen, wenn eine Anpassung der Zonenplanung im fraglichen Gebiet in Betracht fällt und die entgegenstehenden Interessen der Rechtssicherheit und des Vertrauens in die Planbeständigkeit nicht so gewichtig sind, dass eine Plananpassung von vornherein ausscheidet. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so ist es Aufgabe der Gemeinde, die gebotene Interessenabwägung vorzunehmen und zu entscheiden, ob und inwiefern eine Anpassung der Zonenplanung nötig ist (BGE 140 II 25 E. 3.2; vgl. Urteile 1C_619/2019 vom 6. August 2020 E. 7.1 und 1C_40/2016 vom 5. Oktober 2016 E. 3.2.2).
3.3 Nutzungspläne werden prozessual wie Verfügungen behandelt. Sie müssen bei ihrem Erlass angefochten werden, ansonsten sie grundsätzlich bestandskräftig werden und im Baubewilligungsverfahren nicht mehr vorfrageweise überprüft werden können. Ausnahmsweise ist die vorfrageweise Überprüfung eines Nutzungsplans zulässig, so wenn sich der Betroffene bei Planerlass noch nicht über die ihm auferlegten Beschränkungen Rechenschaft geben konnte, er im damaligen Zeitpunkt keine Möglichkeit hatte, seine Interessen zu verteidigen (BGE 123 II 337 E. 3a S. 342 mit Hinweisen; Urteile 1C_283/2016 vom 11. Januar 2017 E. 4.3 sowie 1C_507/2015 vomBGE 148 II 417 (420) BGE 148 II 417 (421)18. Mai 2016 E. 3.2), oder wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse oder die gesetzlichen Voraussetzungen seit Planerlass so erheblich geändert haben, dass die Planung rechtswidrig geworden sein könnte, und das Interesse an ihrer Überprüfung bzw. Anpassung die entgegenstehenden Interessen der Rechtssicherheit und der Planbeständigkeit (vgl. Art. 21 Abs. 2 RPG) überwiegt (vgl. BGE 145 II 83 E. 5.1; BGE 144 II 41 E. 5.1 S. 44 f. mit Hinweisen).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist das Inkrafttreten der Änderung des RPG vom 15. Juni 2012 - insbesondere die Verpflichtung, überdimensionierte Bauzonen zu reduzieren (Art. 15 Abs. 2 RPG) - für sich alleine noch nicht als erhebliche Veränderung der Verhältnisse einzustufen, welche eine vorgezogene Überprüfung der Nutzungsplanung oder eine vorfrageweise Überprüfung der Nutzungsplanung im Baubewilligungsverfahren rechtfertigen würde. Es müssen andere Umstände dazukommen, wie etwa die Lage der Parzelle in der bestehenden Bauzone, der Grad der Erschliessung oder das Alter des Plans (BGE 144 II 41 E. 5.2; Urteile 1C_190/2020 vom 9. Februar 2021 E. 2.2.2, 1C_619/2019 vom 6. August 2020 E. 7.1 und 1C_308/2017 vom 4. Juli 2018 E. 3.2; je mit Hinweisen). Bei Gemeinden, welche wie die Gemeinde Klosters-Serneus einen erheblichen Anteil an Zweitwohnungen aufweisen, kann auch das Inkrafttreten von Art. 75b BV am 11. März 2012 bzw. das Inkrafttreten des Zweitwohnungsgesetzes vom 20. März 2015 (ZWG; SR 702) sowie der Zweitwohnungsverordnung vom 4. Dezember 2015 (ZWV; SR 702.1) am 1. Januar 2016 für eine vorgezogene bzw. vorfrageweise Überprüfung einer älteren Nutzungsplanung sprechen, wenn anzunehmen ist, dass damit die Nachfrage nach Wohnbauten in einer Gemeinde gesunken ist (vgl. BGE 140 II 25 E. 4 sowie Urteil 1C_40/2016 vom 5. Oktober 2016 E. 3.5).
Art. 27 RPG sieht die Möglichkeit zum Erlass von Planungszonen zur Sicherung einer bevorstehenden Anpassung der Nutzungsplanung ausdrücklich vor. Innerhalb einer Planungszone darf nichts unternommen werden, was die Nutzungsplanung erschweren könnte (Art. 27 Abs. 1 Satz 2 RPG). Gemäss Art. 21 Abs. 2 des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 6. Dezember 2004 (KRG/GR; BR 801.100) darf in der Planungszone nichts unternommen werden, was die neue Planung erschweren oder dieser entgegenstehen könnte (Satz 1). Insbesondere dürfen Bauvorhaben nur bewilligt werden, wenn sie weder den rechtskräftigen noch den vorgesehenen neuen Planungen und Vorschriften widersprechen (Satz 2).
Die Gemeinde Klosters-Serneus beschloss am 3. Juli 2018 eine Planungszone mit folgendem Planungsziel:
    "Prüfung einer Reduktion von Bauzonen (Wohn-, Misch- und Zentrumszonen; WMZ) ausserhalb und am Rand des weitgehend überbauten Gebiets entsprechend den Vorgaben in Art. 15 Abs. 2 RPG sowie im kantonalen Richtplan (KRIP-S) vom 20. März 2018."
Die Planungszone wurde zeitlich gestaffelt in Kraft gesetzt. Bis zum 19. März 2019 wurden Bauvorhaben, welche dem Planungsziel entgegenstehen könnten, noch bewilligt, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen erfüllt waren:
    "Die auf der Bauparzelle zur Verfügung stehende Ausnützung wird zu mindestens 80 % genutzt.
    Bildet das Baugrundstück allein oder zusammen mit weiteren (auch Dritten gehörenden) Grundstücken gemäss Planungsziel Teil einer zusammenhängenden potenziellen Auszonungsfläche, so darf das Bauvorhaben die 'Auszonungseignung' der verbleibenden Restfläche in keiner Art und Weise negativ beeinflussen (keine Schaffung neuer Baulücken, keine Zerstückelung potenzieller Auszonungsflächen, kein ganzes oder teilweises Trennen potenzieller Auszonungsflächen vom angrenzenden Nichtbaugebiet etc.).BGE 148 II 417 (422)
    BGE 148 II 417 (423)Der Bauherr verpflichtet sich und allfällige Rechtsnachfolger mittels schriftlicher Erklärung, nach allfälliger Baubewilligungserteilung (a) auf die Einreichung eines Gesuchs um Verlängerung der Baufristen und (b) während 10 Jahren auf die Einreichung eines Sistierungsgesuchs nach Art. 14 Abs. 1 lit. b ZWG zu verzichten."
Ab dem 20. März 2019 wurden alle Bauvorhaben, welche dem Planungsziel entgegenstehen könnten, der Planungszone unterstellt. Ausgenommen sind nur Bauten, für welche ein qualifiziertes öffentliches Interesse besteht.
Der Beschluss der Gemeinde sah somit vor, dass Bauvorhaben - sofern die genannten Voraussetzungen erfüllt waren - bis zum 19. März 2019 selbst dann noch zu bewilligen waren, wenn sie dem aus Art. 15 RPG und dem kantonalen Richtplan abgeleiteten Planungsziel widersprachen. Namentlich war gemäss dem Beschluss der Planungszone für die Erteilung einer Baubewilligung für die Zeit bis zum 19. März 2019 nicht vorausgesetzt, dass das Baugrundstück sich mit Blick auf seine Lage und die weiteren Umstände nicht für eine Auszonung eignet.
3.6.2 Die einer Anpassung der Nutzungsplanung im fraglichen Gebiet entgegenstehenden Interessen der Rechtssicherheit und des Vertrauens in die Planbeständigkeit sind gering, zumal die massgebendeBGE 148 II 417 (423) BGE 148 II 417 (424)Nutzungsplanung im Zeitpunkt der Bewilligungserteilung beinahe 18 Jahre alt war, womit die in Art. 15 RPG angesprochene Dauer von 15 Jahren bereits überschritten war. Sodann führt die Vorinstanz im angefochtenen Urteil zwar aus, bei den fraglichen Parzellen dürfte eine Zuweisung zur Nichtbauzone angesichts ihrer Lage und der Erschliessungssituation bzw. der in jeder Hinsicht vorliegenden Baureife mit grosser Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen sein. Dies überzeugt allerdings nicht. Wie aus den Akten ersichtlich ist, liegen die fraglichen Parzellen ausserhalb des weitgehend überbauten Gebiets, nämlich am südlichen Rand einer kleinen Siedlung zwischen den Ortsteilen Klosters Platz und Monbiel. Die an dieser Stelle ausgewiesene Wohnzone ist klein und von den weiteren Bauzonen der Gemeinde isoliert. Die überbauten Grundstücke in der näheren Umgebung liegen mehrheitlich unmittelbar an der Monbielstrasse, während das weiter von der Strasse entfernte Gebiet von einzelnen Ausnahmen abgesehen nicht überbaut ist. Weitgehend unüberbaut ist hier namentlich die Fläche zwischen den Gebäuden an der Monbielstrasse und dem südlich parallel zur Monbielstrasse verlaufenden Fluss Landquart, wo die vorliegend umstrittenen Bauten zu liegen kämen. Auch die auf der gegenüberliegenden Seite der Landquart liegende Fläche ist nicht überbaut. Die Zuweisung der Parzellen Nrn. 2055 und 4355 zu einer Nichtbauzone kommt aus planerischer Sicht somit durchaus in Frage bzw. erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen. Mit der Erteilung der umstrittenen Baubewilligungen würden die Parzellen in der Bauzone verbleiben und das aus Art. 15 RPG und dem kantonalen Richtplan fliessende Planungsziel der Reduktion der Bauzonen negativ präjudiziert. Dass die genannten Grundstücke - wie die Vorinstanz ausführt - erschlossen, ganzjährig zugänglich und mit dem Privatauto bzw. dem öffentlichen Verkehr gut erreichbar sind, ändert daran unter den gegebenen Umständen nichts.
Soweit die Gemeinde und die Vorinstanz auf die am 3. Juli 2018 beschlossene Planungszone hinweisen, bzw. darauf, dass die Erteilung der Baubewilligungen diesem Beschluss nicht zuwiderlaufe, ändert dieser Hinweis nichts daran, dass die umstrittenen Baubewilligungen nicht hätten erteilt werden dürfen. Sinn und Zweck der erlassenen Planungszone ist nach Art. 27 RPG bzw. Art. 21 KRG/GR die Sicherung der bereits in die Wege geleiteten Anpassung der Nutzungsplanung, nämlich der Reduktion der Bauzonen (vgl. E. 3.4 hiervor). Die Verpflichtung zur Reduktion ihrer Bauzonen bzw. zur Anpassung der Nutzungsplanung bestand für die Gemeinde indessen schon seit längerem und nicht erst mit der Revision des kantonalen Richtplans am 20. März 2018 oder mit dem Datum vom 20. März 2019, bis zu welchem sie spätestens eine Planungszone zu erlassen hatte. Der Erlass der Planungszone darf nicht dazu führen, dass die Gemeinde im Widerspruch zu Art. 15 RPG und zur kantonalen Richtplanung noch Baubewilligungen erteilt, welche dem auch im Beschluss über die Planungszone ausdrücklich genannten Ziel der bereits in die Wege geleiteten Reduktion der Bauzonen klar zuwiderlaufen und die Erreichung dieses Ziels erschweren (vgl. Urteil 1C_518/2019 vom 8. Juli 2020 E. 4.3). Die Erteilung der umstrittenen Baubewilligungen steht im Widerspruch zu Art. 15 RPG, ohne dass im vorliegenden Verfahren geprüft werden müsste, ob die schrittweise Inkraftsetzung der Planungszone generell bundesrechtswidrig war.BGE 148 II 417 (425)