Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
Erwägung 4
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
39. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
1C_653/2021 vom 24. August 2022
 
 
Regeste
 
Art. 16c Abs. 2 lit. a und Art. 16cbis Abs. 2 SVG; Dauer eines ausländischen Fahrverbots als Obergrenze für die Dauer des schweizerischen Führerausweisentzugs.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 II 511 (512)A.
A.a Die 1988 geborene A. überschritt am 30. Juni 2018 in Österreich auf der Autobahn A1 die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h nach Abzug der Toleranz um 62 km/h. Mit Strafverfügung der Bezirkshauptmannschaft Salzburg-Umgebung vom 17. September 2018 wurde sie wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ausserhalb des Ortsgebiets um mehr als 50 km/h zu einer Geldstrafe von EUR 400.00 verurteilt. Mit Mandatsentscheid vom 26. März 2019 aberkannte die Bezirkshauptmannschaft A. das Recht zum Gebrauch des ausländischen Führerausweises in Österreich für die Dauer von zwei Wochen ab Zustellung des Entscheids.
A.b Im daran anschliessenden Administrativverfahren vor dem Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau ergab sich, dass im Informationssystem Verkehrszulassung (IVZ) ein gegen A. am 26. Juni 2009 ausgesprochener Entzug des Führerausweises für einen Monat mit Verlängerung der Probezeit wegen einer mittelschweren Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz eingetragen war, der auf einen Unfall infolge eines Fahrfehlers zurückging. Mit Verfügung vom 27. August 2019 entzog das Strassenverkehrsamt A. den Führerausweis für drei Monate, unter Anrechnung eines Teilvollzugs vom 3. April 2019 bis und mit 17. April 2019. Am 2. Dezember 2020 wiesBGE 148 II 511 (512) BGE 148 II 511 (513)das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau eine dagegen von A. erhobene Beschwerde ab.
B. Mit Urteil vom 28. September 2021 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau eine dagegen von A. eingereichte Beschwerde ebenfalls ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, umstritten sei einzig, ob aufgrund der gesetzlichen Regelung für die Dauer des schweizerischen Ausweisentzugs von der Entzugsdauer des ausländischen Fahrverbots abgewichen bzw. eine längere Dauer verfügt werden dürfe. Letzteres sei jedoch zulässig, weil die Abweichung von der im Ausland angeordneten Entzugsdauer entgegen der Auffassung von A. nicht vom Vorliegen einer früheren kaskadenrelevanten Administrativmassnahme abhänge, weshalb es sich bei ihr um eine massgebliche Wiederholungstäterin handle.
C. Dagegen führt A. beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Hauptantrag, ihr sei der Führerausweis statt für drei Monate lediglich für die Dauer von zwei Wochen zu entziehen, unter Anrechnung des bereits erfolgten Entzugs vom 3. bis 17. April 2019. (...) Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, eine Abweichung von der ausländischen Entzugsdauer sei aufgrund der geltenden gesetzlichen Regelung in der Schweiz nur zulässig, wenn gegen die gleiche Person vorweg eine Administrativmassnahme ergriffen worden sei, die dem Kaskadensystem unterliege. Da dies in ihrem Fall nicht zutreffe, sei die verfügte Entzugsdauer bundesrechtswidrig.
Das Departement Volkswirtschaft und Inneres schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Strassenverkehrsamt reichte keine separate Stellungnahme ein. Das Verwaltungsgericht verzichtete unter Verweis auf sein Urteil auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für Strassen ASTRA teilte dem Bundesgericht ohne Stellung eines Antrags mit, es sei bisher davon ausgegangen, dass die kantonalen Behörden bei der Festlegung der Entzugsdauer des Führerausweises nach einer Widerhandlung im Ausland die dort verfügte Dauer des Fahrverbotes nur überschreiten dürften, wenn im IVZ kaskadenrelevante Administrativmassnahmen eingetragen seien; aufgrund unterschiedlicher, sich widersprechender kantonaler Urteile begrüsse das ASTRA eine Klärung der Rechtslage durch das Bundesgericht.
(...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
 
BGE 148 II 511 (513) BGE 148 II 511 (514)Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 3
 
 
Erwägung 4
 
4.2 Das Verwaltungsgericht nahm im angefochtenen Entscheid eine umfassende Auslegung von Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG vor. EsBGE 148 II 511 (515) BGE 148 II 511 (516)hielt zusammengefasst fest, der Wortlaut der Bestimmung sei eindeutig, wonach die Entzugsdauer lediglich bei jenen Personen auf die im Ausland verfügte Dauer beschränkt sei, über die keine Daten zu Administrativmassnahmen im IVZ vorhanden seien. Aufgrund einer ausführlichen Analyse der Materialien kam die Vorinstanz zum Schluss, entstehungsgeschichtlich ergebe sich, dass der Gesetzgeber eine unterschiedliche Behandlung von Erst- und Wiederholungstätern bzw. -täterinnen beabsichtigt habe. Zwar möge sich die parlamentarische Debatte auf die Personen fokussiert haben, bei denen eine verschärfte Mindestentzugsdauer gemäss der Kaskadenregelung Anwendung finde. Der Umkehrschluss, jene Wiederholungstäter mit Registereintrag, die nicht den verschärften Mindestentzugsdauern gemäss dem Kaskadensystem unterstünden, zählten zu den privilegierten Ersttätern, sei aber nicht zulässig. Zweck der Bestimmung sei es vielmehr, Personen ohne Eintrag im Administrativmassnahmenregister milder zu bestrafen, um zu verhindern, dass solche mit ungetrübtem Leumund denjenigen mit einer einschlägigen Vorgeschichte gleichgestellt würden. Schliesslich passe sich eine solche Auslegung in systematischer Hinsicht stimmig ins gesetzliche Gesamtgefüge ein.
4.4 Mit dem Verwaltungsgericht ist festzuhalten, dass der Wortlaut von Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG eindeutig erscheint. Danach genügt ein Eintrag im IVZ, damit die ausländische Entzugsdauer überschritten werden darf, ohne dass dieser Eintrag eine besonders ausgestaltete Massnahme betreffen muss. Es kann hier offenbleiben, ob sich der Eintrag auf eine Massnahme im Zusammenhang mit einer Widerhandlung gegen die Strassenverkehrsvorschriften zu beziehen hat oder ob auch andere mögliche Einträge gemeint sind. Im vorliegenden Fall betrifft der Eintrag jedenfalls einen früheren Ausweisentzug wegen einer Verkehrsregelverletzung. Dem Verwaltungsgericht ist ebenfalls bei der entstehungsgeschichtlichen AuslegungBGE 148 II 511 (516) BGE 148 II 511 (517)zu folgen. Die in der Bundesversammlung diskutierte Auffassung, auf die sich die Beschwerdeführerin beruft, hat zwar zu gewissen Anpassungen beim Gesetzestext geführt, sich in der parlamentarischen Debatte im Wesentlichen aber nicht durchgesetzt. Aus den von der Vorinstanz eingehend wiedergegebenen Materialien ergibt sich nicht, dass die Abweichung von der ausländischen Entzugsdauer nur bei kaskadenrelevanten Administrativmassnahmen zulässig sein sollte, obwohl es einzelne Minderheitsvoten in diesem Sinne gegeben haben mag (siehe dazu AB 2008 N 168 ff., 283 ff. und 415 ff.sowie AB2008 S 127 ff.und 181). Auch die Beschwerdeführerin vermag solches nicht zu belegen. Eine wichtige Rolle spielte in der politischen Diskussion hingegen der Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit. Die Bundesversammlung war sich bewusst, mit der Privilegierung bei ausländischen Verkehrsregelverstössen gewisse Ungleichheiten zu schaffen, und gleichzeitig darauf bedacht, diese möglichst gering zu halten.
4.5 Das alles schliesst einen Rückgriff auf das Kaskadensystem bei der Anwendung von Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG in sinnvoller Weise nicht aus. Der Gesetzgeber differenzierte bewusst zwischen Erst- und Wiederholungstätern und sah die gesetzliche Privilegierung nur für die ersten vor. Die günstigere Regelung für Verkehrsregelverstösse im Ausland, wenn ein dortiges Fahrverbot kürzer ausfällt als in der Schweiz, ist mithin bei Ersttätern vom Gesetzgeber gewollt (vgl. RÜTSCHE/WEBER, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 18 zu Art. 16cbis SVG) und zu beachten (vgl. BGE 141 II 256). Sodann ist es angebracht, auf die von dieser Sonderregelung betroffenen Personen, die innert den Fristen der Kaskadenregelung wegen eines neuen massgeblichen Gesetzesverstosses eine einschlägige Administrativmassnahme aufweisen, die entsprechenden Bestimmungen des Kaskadensystems anzuwenden (vgl. das Urteil des Bundesgerichts 1C_47/2012 vom 17. April 2012 E. 4.1). Insofern bleibt das Kaskadensystem auch bei ausländischen Fahrverboten für die Festlegung einer ergänzenden schweizerischen Administrativmassnahme massgeblich. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festhält, ist aber der Umkehrschluss, dass alle anderen Wiederholungstäter als Ersttäter zu gelten haben, die bei einer milderen ausländischen Entzugsdauer von der bevorzugten Behandlung gemäss Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG profitieren, nicht zulässig. Liegt keine kaskadenrelevante Widerhandlung vor, ist gegenüber den betroffenen Wiederholungstätern vielmehr ein BGE 148 II 511 (517) BGE 148 II 511 (518)Entzug ausserhalb des Kaskadensystems ohne die Bevorteilung gemäss Art. 16cbis Abs. 2 Satz 3 SVG auszusprechen, namentlich, je nach Schwere des Falles, in Anwendung von Art. 16a Abs. 3 oder 4 SVG, Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG oder Art. 16c Abs. 2 lit. a oder allenfalls abis SVG. Nur schon mit Blick auf in der Schweiz erfolgte vergleichbare Verkehrsregelverstösse rechtfertigt es sich aus Gründen der Rechtsgleichheit, die bevorzugte Behandlung auf eigentliche Ersttäter zu beschränken. Dass der Gesetzgeber insofern weiter gehen und bei ausländischen Regelverstössen auch Wiederholungstäter im Vergleich mit solchen mit inländischen Widerhandlungen bevorteilen wollte, die nicht unter die Kaskadenregelung fallen, ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil wurde im Parlament ausdrücklich argumentiert, es gehe darum, zu verhindern, dass Wiederholungs- wie Ersttäter behandelt bzw. wie letztere privilegiert würden (Votum Bieri, AS 2008 S 181). Dem entsprechenden Antrag des Ständerats zum geltenden Gesetzestext schloss sich der Nationalrat in der Differenzbereinigung an (AB 2008 N 415 ff.).