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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Das Bundesgesetz vom 30. September 2016 über die Aufarbei ...
4. Gerügt wird eine rechtsfehlerhafte Anwendung von Art. 2 A ...
Bearbeitung, zuletzt am 10.02.2024, durch: DFR-Server (automatisch)
 
26. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Justiz gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_393/2022 vom 5. Mai 2023
 
 
Regeste
 
Art. 2 AFZFG; Begriff der Fremdplatzierung; Auswirkung der Adoption durch die Pflegeeltern, bei denen das Kind ursprünglich fremdplatziert wurde.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 149 II 281 (281)A. A. wurde nach der Geburt im Februar 1967 seiner Mutter weggenommen und zunächst in einem Diakoniewerk sowie alsdann im Dezember 1967 bei einer Pflegefamilie behördlich fremdplatziert. Die Pflegeeltern dieser Familie adoptierten A. am 19. Juli 1969 im Alter von knapp zweieinhalb Jahren. In der Folge musste A. im Vorschulalter und im schulpflichtigen Alter bei seinen Adoptiveltern körperliche Gewalt durch schwere Schläge sowie wirtschaftlicheBGE 149 II 281 (281) BGE 149 II 281 (282)Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung seiner Arbeitskraft in der schulfreien Zeit erleiden.
B. Mit Gesuch vom 12. Januar 2018 beantragte A. beim Bundesamt für Justiz (nachfolgend auch: Bundesamt) die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981. Mit Verfügung vom 16. Juli 2019 wies das Bundesamt das Gesuch auf Empfehlung der beratenden Kommission ab.
B.a Mit Einsprache vom 16. September 2019 ersuchte der nunmehr anwaltlich vertretene A. neben der Aufhebung der Verfügung vom 16. Juli 2019 auch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. (...)
Das Bundesamt wies die Einsprache und das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung mit Entscheid vom 4. November 2020 ab und wies darauf hin, dass das Einspracheverfahren kostenlos sei. In der Sache erwog es, dass in der Zeit vor der Adoption im Diakoniewerk und bei den Pflegeeltern keine Anhaltspunkte für eine Opfereigenschaft von A. vorliegen würden. Nach der Adoption sei nicht mehr von einer Fremdplatzierung im Sinne des Gesetzes auszugehen, weshalb er die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfülle.
B.b Gegen den Einspracheentscheid des Bundesamts vom 4. November 2020 erhob A. am 7. Dezember 2020 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Er beantragte die Aufhebung des angefochtenen Einspracheentscheids und die Gutheissung seines Gesuchs um Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags. Zudem ersuchte er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. (...)
Mit Verfügung vom 28. Januar 2021 gewährte das Bundesverwaltungsgericht A. die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Mit Urteil vom 30. März 2022 hiess das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 4. November 2020 auf und wies die Angelegenheit zur Abklärung der Opfereigenschaft im Sinne der Erwägungen an das Bundesamt zurück. Im Weiteren wies es in Gutheissung des Gesuchs um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung das Bundesamt an, A. für das Einspracheverfahren eine Entschädigung in der Höhe von Fr. 2'219.- auszurichten.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 20. Mai 2022 gelangt das Bundesamt für Justiz an dasBGE 149 II 281 (282) BGE 149 II 281 (283)Bundesgericht. Es beantragt die Aufhebung des Urteils vom 30. März 2022, soweit es nicht die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung im Einspracheverfahren betreffe. Das Gesuch von A. vom 12. Januar 2018 sei abzuweisen.
(Auszug)
 
Als Opfer gelten gemäss Art. 2 lit. d AFZFG in Verbindung mit Art. 2 lit. c AFZFG die von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen betroffenen Personen, deren körperliche, psychische oder sexuelle Unversehrtheit oder deren geistige Entwicklung unmittelbar und schwer beeinträchtigt worden ist, insbesondere durch körperliche oder psychische Gewalt (Ziff. 1), sexuellen Missbrauch (Ziff. 2), unter Druck erfolgte Kindswegnahme und Freigabe zur Adoption (Ziff. 3), unter Druck oder in Unkenntnis der Betroffenen erfolgte Medikation oder Medikamentenversuche (Ziff. 4), unter Druck oder in Unkenntnis der Betroffenen erfolgte Sterilisierung oder Abtreibung (Ziff. 5), wirtschaftliche Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung der Arbeitskraft oder Fehlen einer angemessenen Entlöhnung (Ziff. 6), gezielte Behinderung der persönlichen Entwicklung und Entfaltung (Ziff. 7) oder durch sozialeBGE 149 II 281 (283) BGE 149 II 281 (284)Stigmatisierung (Ziff. 8). Unter den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen versteht das Gesetz die vor 1981 in der Schweiz von Behörden veranlassten und von diesen oder in deren Auftrag und unter deren Aufsicht vollzogenen Massnahmen zum Schutz oder zur Erziehung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen (vgl. Art. 2 lit. a AFZFG). Als Fremdplatzierung bezeichnet der Gesetzgeber die vor 1981 in der Schweiz von Behörden oder Privaten veranlasste Unterbringung von Kindern und Jugendlichen ausserhalb ihrer Familie in Heimen oder Anstalten, bei Kost- oder Pflegefamilien oder in gewerblichen oder landwirtschaftlichen Betrieben (vgl. Art. 2 lit. b AFZFG).
4.3 Der Beschwerdegegner bringt vor, er sei unmittelbar betroffen und ersuche um einen Beitrag als Anerkennung undBGE 149 II 281 (284) BGE 149 II 281 (285)Wiedergutmachung für sein eigenes Leiden, an dessen Ursprung die behördlich veranlasste Kindswegnahme und Fremdplatzierung sowie "Zwangsadoption" stehe. Die Pflegeeltern, bei welchen er auf behördliche Anordnung hin zunächst fremdplatziert worden sei, hätten ihn alsdann im Alter von rund zweieinhalb Jahren adoptiert. Es handle sich nach wie vor um die gleiche Familie. Es dürfe für die Beurteilung seiner Integritätsverletzungen keinen Unterschied machen, ob er bei einer Pflegefamilie fremdplatziert oder später als Adoptivkind bei der gleichen Familie weitergelebt habe. Sowohl die ursprüngliche Fremdplatzierung als auch die spätere "Zwangsadoption" seien in der behördlichen Verantwortung gestanden.
Unter den Verfahrensbeteiligten ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner nach seiner Adoption durch seine vormaligen Pflegeeltern im Vorschulalter und im schulpflichtigen Alter Integritätsverletzungen in Form von körperlicher Gewalt durch schwere Schläge und in Form von wirtschaftlicher Ausbeutung durch übermässige Beanspruchung seiner Arbeitskraft in der schulfreien Zeit erlitt. Weiter sind sich die Verfahrensbeteiligten zu Recht einig, dass vor der Adoption des Beschwerdegegners durch die Pflegeeltern eine behördlich angeordnete Fremdplatzierung bei der Pflegefamilie vorlag. Umstritten ist allerdings, ob der Beschwerdegegner nach der Adoption weiterhin als fremdplatziert zu betrachten ist. Es ist daher zu prüfen, ob der Beschwerdegegner auch nach der Adoption noch von einer Fremdplatzierung im Sinne von Art. 2 lit. b AFZFG betroffen war, sodass er in Verbindung mit den erstellten Integritätsverletzungen die Opfereigenschaft erfüllen kann.
4.5 Wie der Beschwerdegegner zutreffend vorbringt, zeichnet sich die vorliegende Angelegenheit durch einen besonderen Umstand aus: Die Pflegefamilie, bei welcher er behördlich fremdplatziert wurde, ist die gleiche Familie, deren Eltern ihn später im Alter von rundBGE 149 II 281 (285) BGE 149 II 281 (286)zweieinhalb Jahren adoptierten. Ob der Beschwerdegegner trotz Adoption durch seine Pflegeeltern weiterhin als eine von einer Fremd platzierung betroffene Person im Sinne von Art. 2 lit. b AFZFG zu betrachten ist, bedarf der Auslegung des Gesetzes.
4.5.3 Das Gesetz bezweckt gemäss Art. 1 Abs. 1 AFZFG die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden ist. "Es ist das Ziel der Vorlage, das den Opfern zugefügte Leid und die damit verbundenenBGE 149 II 281 (286) BGE 149 II 281 (287)belastenden Auswirkungen auf ihr ganzes Leben anzuerkennen", wobei der Beitrag gestützt auf Art. 4 Abs. 1 AFZFG als "Zeichen der Wiedergutmachung und Solidarität" zu verstehen ist (BBl 2016 118). Vor diesem Hintergrund widerspricht es dem Sinn und Zweck des Gesetzes, den Anspruch auf die Ausrichtung eines Solidaritätsbeitrags im Grundsatz restriktiv zu handhaben und die Frage, ob eine Person von einer Fremdplatzierung im Sinne von Art. 2 lit. b AFZFG betroffen ist, gestützt auf rein formal-juristische Überlegungen zu beantworten. Auch die teleologische Auslegung deutet somit an, dass das Kind nach einer Adoption durch die Pflegeeltern, bei denen es ursprünglich auf Verantwortung der Behörde hin platziert wurde, weiterhin als fremdplatziert im Sinne von Art. 2 lit. b AFZFG zu betrachten ist.
BGE 149 II 281 (288)4.6.2 Die Behörden platzierten den Beschwerdegegner nach der Wegnahme bei seiner Mutter bei einer Pflegefamilie. Danach erfolgte die Adoption des Beschwerdegegners durch die Pflegeeltern der gleichen Familie. Daraufhin übten die Adoptiveltern im Vorschulalter und im schulpflichtigen Alter des Beschwerdegegners an ihm körperliche Gewalt aus und beuteten ihn wirtschaftlich aus, indem sie seine Arbeitskraft in der schulfreien Zeit übermässig beanspruchten. Die behördliche Platzierung bei der Pflegefamilie, die unbestrittenermassen als Fremdplatzierung im Sinne von Art. 2 lit. b AFZFG gilt, stand folglich am Ursprung der vom Beschwerdegegner erlittenen Integritätsverletzungen. Die Behörden hatten zwar, wie das Bundesamt zutreffend vorbringt, nach der Adoption die vormalige Pflegefamilie nicht mehr zu beaufsichtigten. Allerdings trugen sie im Rahmen der (ursprünglichen) Platzierung die Verantwortung für die Auswahl der Pflege- und späteren Adoptivfamilie.