Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 65 SchKG erfolgt die Zustellung von Betreibungsurkun ...
2. Der einzige Vertreter der Schuldnerin hatte seine Freiheitsstr ...
3. Art. 60 SchKG gilt indessen nur mit einer gewissen Einschr&aum ...
4. Es ist durchaus möglich, dass X., dem einzigen Verwaltung ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
2. Entscheid vom 4. April 1970 i.S. Sch.
 
 
Regeste
 
Zustellung einer Betreibungsurkunde an eine betriebene Aktiengesellschaft. Art. 65 SchKG. Zunächst muss die Zustellung an ein Mitglied der Verwaltung oder einen Prokuristen versucht werden. Nur wenn ein solcher Vertreter der Gesellschaft in dem Lokal, wo er seine Tätigkeit für diese auszuüben pflegt, nicht angetroffen wird, darf die Zustellung an einen andern Angestellten erfolgen. Sie ist auch gültig, wenn der Angestellte nicht im Dienste der betriebenen, sondern einer andern, im gleichen Lokal tätigen Gesellschaft steht (Erw. 1).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 96 III 4 (4)A.- Sch. führt gegen die Firma X. AG eine Betreibung für eine Forderung von Fr. 175 000.-- nebst 5% Zins seit demBGE 96 III 4 (4) BGE 96 III 4 (5)1. Januar 1967. Das Betreibungsamt erliess den Zahlungsbefehl am 29. Dezember 1969. Dieser wurde am 6. Januar 1970 durch die Post zugestellt, wobei der Postbote in der Zustellungsbescheinigung vermerkte: "Büro-Fräulein M. hat Annahme verweigert. ZB im Büro hinterlassen".
Die Firma X. AG erhob am 11. Februar 1970 Beschwerde bei der Aufsichtsbehörde mit dem Begehren, die am 6. Januar 1970 erfolgte Zustellung des Zahlungsbefehls in der fraglichen Betreibung sei aufzuheben.
B.- Die kantonale Aufsichtsbehörde hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 24. Februar 1970 gut und hob die Zustellung des Zahlungsbefehls vom 6. Januar 1970 auf. Sie führte im wesentlichen aus, es sei fraglich, ob die Zustellung des Zahlungsbefehls an die Büroangestellte M. ungesetzlich sei, weil diese nicht für die Firma X. AG, sondern für die Y. AG tätig war. Die bundesgerichtliche Praxis spreche eher für die Wirksamkeit der Zustellung. Wie es sich damit verhalte, könne jedoch offen bleiben, weil die Zustellung des Zahlungsbefehls vom 6. Januar 1970 aus einem anderen Grunde aufgehoben werden müsse. X., der einzige Verwaltungsrat der Firma X. AG, habe vom 6. Januar bis zum 5. Februar 1970 eine Gefängnisstrafe verbüsst. Die betriebene Firma sei daher vom 6. Januar 1970 an in den Genuss des Rechtsstillstandes gemäss Art. 60 SchKG gekommen. Da das Betreibungsamt es unterlassen habe, eine Frist für die Bestellung eines Vertreters anzusetzen, habe der Rechtsstillstand jedenfalls bis zur Entlassung von X. am 5. Februar 1970 gedauert. Dieser habe am 9. Februar 1970 vom Zahlungsbefehl Kenntnis erhalten und am 11. Februar 1970 rechtzeitig Beschwerde erhoben. Die Zustellung des Zahlungsbefehls sei somit aufzuheben und das Betreibungsamt anzuweisen, sie nochmals ordnungsgemäss vorzunehmen.
C.- Gegen den Entscheid der kantonalen Aufsichtsbehörde vom 24. Februar 1970 erhebt der Gläubiger Sch. Rekurs an die Schuldbetreibungs-und Konkurskammer des Bundesgerichts. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Beschwerde der Schuldnerin sei abzuweisen.
 
1. Nach Art. 65 SchKG erfolgt die Zustellung von Betreibungsurkunden bei Betreibung einer juristischen Person oderBGE 96 III 4 (5) BGE 96 III 4 (6)einer Gesellschaft an den Vertreter derselben. Als Vertreter einer Aktiengesellschaft gilt jedes Mitglied der Verwaltung sowie jeder Prokurist. Werden diese Personen in ihrem Geschäftslokal aber nicht angetroffen, so kann die Zustellung auch an einen anderen Angestellten erfolgen. Wie das Bundesgericht in BGE 88 III 18 Erw. 2 ausgeführt hat, kommt für die Ersatzzustellung nur ein Angestellter in Betracht, der in den gleichen Räumlichkeiten wie der Vertreter der Gesellschaft arbeitet und deshalb ohne weiteres in der Lage ist und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht versäumen wird, die Betreibungsurkunde unverzüglich an den Vertreter weiterzuleiten, so dass dieser bei seiner Rückkehr ins Geschäftslokal davon Kenntnis erhält. Kein Hindernis für die Gültigkeit der Zustellung der Betreibungsurkunde wäre nach Auffassung des Bundesgerichts die Tatsache, dass der Angestellte nicht im Dienste der betriebenen, sondern einer anderen, im gleichen Lokal tätigen Gesellschaft steht (BGE 88 III 18 Erw. 3).
Im vorliegenden Fall war die Sekretärin M., welcher der Postbote den Zahlungsbefehl aushändigte, lediglich Angestellte der Firma Y. AG. Diese Gesellschaft und die betriebene Firma benützen aber ein gemeinsames Geschäftslokal. Zudem ist der Verwaltungsratspräsident der Y. AG, X., zugleich einziger Verwaltungsrat der X. AG. Die Büroangestellte M. war daher in den gleichen Räumlichkeiten tätig wie der Vertreter der betriebenen Firma und stand zu diesem in einem Unterordnungsverhältnis, wenn auch lediglich in seiner Eigenschaft als Verwaltungsratspräsident der Y. AG. Es war unter diesen Umständen zu vermuten, dass Frl. M. ohne weiteres in der Lage sein werde, den Zahlungsbefehl unverzüglich an X. weiterzuleiten. Damit ist aber der ratio legis von Art. 65 SchKG Genüge getan. Der Postbote brauchte nicht zu wissen, dass der einzige Verwaltungsrat der betriebenen Firma gegenwärtig im Gefängnis sass. Er war daher nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts berechtigt, den Zahlungsbefehl der Büroangestellten M. zu übergeben. Dass diese die Annahme der Urkunde verweigerte, schliesst die Rechtswirkungen des Zustellungsaktes nicht aus (BGE 90 III 8).
Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Firma X. AG sich auch auf Art. 60 SchKG berufen und für sich den Rechtsstillstand in Anspruch nehmen könne. Nach dem Wortlaut von Art. 60 SchKG kommt diese Rechtswohltat nämlich nur einer natürlichen Person, die während ihrer Verhaftung betrieben wird und keinen Vertreter hat, zu. Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf BGE 65 III 122 angenommen, dass Art. 60 SchKG auch auf Aktiengesellschaften Anwendung finde, sofern deren Verwaltung einem einzigen Mann obliegt, der verhaftet worden ist. Im angeführten Urteil aus dem Jahre 1939 hat das Bundesgericht dargelegt, dass der damalige Art. 57 SchKG, welcher nur von Personen sprach, auch für Gesellschaften, deren sämtliche Vertreter sich im Militärdienste befinden, Geltung haben solle. Hiegegen wendet der Rekurrent ein, Art. 57 sei anlässlich der Teilrevision des SchKG vom 28. September 1949 geändert und mit den Art. 57 a-e ergänzt worden. In Art. 57 e SchKG habe die in BGE 65 III 122 enthaltene Auffassung Eingang gefunden. Indem der Gesetzgeber Art. 60 SchKG unverändert gelassen habe, habe er eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass der Rechtsstillstand den Gesellschaften nur zukommen solle, wenn ihre Organe sich im Militärdienste befinden, nicht aber, wenn sie verhaftet worden sind.
Dieser Argumentation kann indessen nicht beigepflichtet werden. Die Teilrevision des SchKG von 1949 hatte lediglich den Zweck, dem Abbau der ausserordentlichen Vollmachten des Bundesrates zu dienen und das Notrecht auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung in das ordentliche Recht überzuführen (vgl. die Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über eine Teilrevision des SchKG, BBl 1948 I S. 1220). Da Art. 57 SchKG durch Art. 16 der Verordnung des Bundesrates über vorübergehende Milderungen der Zwangsvollstreckung vom 17. Oktober 1939 abgeändert worden war, drängte sich seine Revision und Ergänzung bei dieser Gelegenheit auf. Es bestehen aber gar keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber anlässlich dieser Teilrevision Art. 60 SchKG absichtlich unverändert gelassen und damit habe zum Ausdruck bringen wollen, der Rechtsstillstand komme nur solchen Gesellschaften zugute, deren Organe sich im Militärdienst befinden. Es magBGE 96 III 4 (7) BGE 96 III 4 (8)sein, dass dem Rechtsstillstand wegen Militärdienstes auch wehrpolitische Erwägungen zugrunde liegen (vgl. BGE 95 III 7 und BGE 66 III 50 Erw. 1). Trotzdem lassen sich auch genügend Gründe für die Ausdehnung der Schutzbestimmung von Art. 60 SchKG auf Gesellschaften, deren sämtliche Organe verhaftet sind, anführen; denn auch eine Gesellschaft ist in dieser Situation zur angemessenen Wahrung ihrer Rechte im Vollstreckungsverfahren nicht oder nur unter sehr erschwerten Umständen in der Lage (KILLER, Betreibungsferien und Rechtsstillstand, Blätter für Schuldbetreibung und Konkurs, 1966 S. 2). Es soll daher nicht nur eine natürliche Person, die verhaftet worden ist, in den Genuss dieser Rechtswohltat gelangen, sondern auch eine Gesellschaft, deren sämtliche Organe verhaftet worden sind, insbesondere wenn es sich dabei um den einzigen Verwaltungsrat einer Einmannaktiengesellschaft handelt (solange dieses Gebilde von der Rechtsordnung geduldet wird). Eine unterschiedliche Behandlung der beiden Fälle würde sich nicht rechtfertigen, da der Grund, welcher den betriebenen Schuldner am Handeln hindert, in beiden der gleiche ist. Überdies kommt der Vorschrift von Art. 60 SchKG keine praktische Bedeutung zu, wenn die Freiheitsstrafe mindestens ein Jahr dauert; denn in diesem Fall muss die Vormundschaftsbehörde gemäss Art. 371 ZGB einen Vormund bestellen, und bis dahin werden die Betreibungsurkunden der Vormundschaftsbehörde zugestellt (KILLER, a.a. O., S. 7).
Die gleichen Überlegungen besitzen aber auch ihre Gültigkeit für Gesellschaften, deren Organe eine Freiheitsstrafe zu verbüssen haben. Wenn das Datum des Strafantritts den betreffenden Organen schon längere Zeit zum voraus bekannt ist, so ist ihnen zuzumuten, für die Vertretung der Gesellschaft während ihrer Abwesenheit rechtzeitig die notwendigen Anordnungen zu treffen. Eine Gesellschaft soll sich daher - in Analogie zur Regelung in Art. 57 e SchKG - nur dann auf Art. 60 SchKG berufen können, wenn ihre Organe nicht in der Lage sind, rechtzeitig einen anderen Vertreter zu bestellen. Der Grundgedanke von Art. 60 SchKG, nämlich der Schutz des Schuldners, würde sonst zu fremden Zwecken missbraucht.
Demnach erkennt die Schuldbetr.- und Konkurskammer:
Der Rekurs wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid aufgehoben und die Sache zur Ergänzung des Tatbestandes im Sinne der Erwägungen und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.BGE 96 III 4 (9)