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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Die Beklagten werfen dem Obergericht vor, Bundesrecht verletzt ...
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20. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A.X. und B.X. gegen Y. (Berufung)
 
 
4C.372/2006 vom 27. Februar 2007
 
 
Regeste
 
Mieterausweisung; offensichtlich rechtsmissbräuchliche Kündigung; Verhältnis von Art. 271 OR und Art. 2 Abs. 2 ZGB.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 133 III 175 (175)A. A.X. (Beklagte 1 und Berufungsklägerin) ist seit 1. April 1976 Mieterin einer Wohnung sowie einer Garage in C. Sie bewohnt die Wohnung zusammen mit ihrem Sohn B.X. (Beklagter 2 und Berufungskläger).
Vermieterin ist die Firma Y. (Klägerin und Berufungsbeklagte), die die Verträge mit amtlichem Formular vom 5. September 2005 aufBGE 133 III 175 (175) BGE 133 III 175 (176)den 31. März 2006 kündigte. Die Beklagten fochten die Kündigung nicht an.
B. Mit Eingabe vom 4. April 2006 beantragte die Klägerin beim Bezirksgericht Baden die Ausweisung der Beklagten. Die Präsidentin 4 des Bezirkgerichts Baden hiess das Begehren am 16. Juni 2006 gut und verpflichtete die Beklagten, die genannten Mietobjekte spätestens innert zehn Tagen seit Rechtskraft des Entscheids zu räumen.
C. Die Beklagten erhoben am 31. Juli 2006 Beschwerde und beantragten dem Obergericht des Kantons Aargau, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und das Begehren der Klägerin sei abzuweisen. Mit Entscheid vom 7. September 2006 wies das Obergericht die Beschwerde ab. Es kam zum Schluss, die Kündigung sei gültig erfolgt. Ein Mieter, der einen offenbaren Rechtsmissbrauch geltend machen wolle, müsse die Kündigung innert der in Art. 273 Abs. 1 OR vorgesehenen Verwirkungsfrist anfechten, da Art. 271 OR eine lex specialis zu Art. 2 Abs. 2 ZGB darstelle. Eine Minderheit des Obergerichts hätte die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 ZGB unabhängig vom Verstreichen der Verwirkungsfrist von Art. 273 Abs. 1 OR geprüft und den offenbaren Missbrauch eines Rechts bejaht.
D. Mit Berufung vom 17. Oktober 2006 beantragen die Beklagten dem Bundesgericht, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und das Begehren der Klägerin betreffend Mieterausweisung sei abzuweisen. Das Bundesgericht weist die Berufung ab.
 
3.1 In der Lehre wird überwiegend die Meinung vertreten, Art. 271 OR schliesse die selbständige Anwendung von Art. 2 Abs. 2 ZGB aus (PETER HIGI, Zürcher Kommentar, N. 162 f. der Vorbem. zu Art. 266-266o OR, N. 63 ff. der Vorbem. zu Art. 271-273c OR und N. 13 zu Art. 271 OR; derselbe, Mietvertragskündigung - nichtig, ungültig oder gültig und anfechtbar?, in: SJZ 91/1995 S. 225/ 231; BERNARD CORBOZ, La nullité du congé dans le nouveau droit du bail, in: CdB 1994 S. 33/54 f.; derselbe, Les congés affectés d'un vice, in: 9e Séminaire sur le droit du bail 1996, S. 25; PIERRE TERCIER,BGE 133 III 175 (176) BGE 133 III 175 (177)Les contrats spéciaux, 3. Aufl. 2003, Rz. 2437; RICHARD BARBEY, Commentaire du droit du bail, Protection contre les congés concernant les baux d'habitation et de locaux commerciaux, N. 30 zu Art. 271-271a OR; GIACOMO RONCORONI, La protection contre les congés, in: 6e Séminaire sur le droit du bail 1990, S. 11 f.; STEFAN ZWICKER, Die Anfechtung der Kündigung nach dem neuen Schweizerischen Mietrecht, in: Der Schweizer Treuhänder 1990 S. 267/272; ARTHUR TRACHSEL, Leitfaden zum Mietrecht, S. 217; wohl auch PIERRE ENGEL, Contrats de droit suisse, 2. Aufl. 2000, S. 202 und 204). Zur Begründung wird in erster Linie auf die Entstehungsgeschichte verwiesen. Das neue Recht habe den sachlichen Anwendungsbereich in Art. 271 OR im Vergleich zu Art. 2 Abs. 2 ZGB erheblich erweitert und gleichzeitig die Rechtsfolge abgeschwächt (HIGI, Zürcher Kommentar, N. 162 f. der Vorbem. zu Art. 266-266o OR, N. 63 und 66 der Vorbem. zu Art. 271-273c OR; CORBOZ, a.a.O., CdB 1994 S. 54; derselbe, Séminaire, a.a.O., S. 25). Damit sei die bestehende Rechtslage nicht bloss ergänzt, sondern vielmehr durch eine neue Regelung ersetzt worden (CORBOZ, a.a.O.). Darüber hinaus wird angeführt, in Art. 266l OR sei die Formularpflicht eingeführt worden, so dass der Mieter auf die Möglichkeit der Anfechtbarkeit und die zur Entgegennahme der Anfechtung zuständige Behörde hingewiesen werde. Die Anfechtung einer offenbar rechtsmissbräuchlichen Kündigung, also einer Kündigung, deren Fehlerhaftigkeit gewissermassen jedem ins Auge springe, erscheine daher als zumutbar (HIGI, Zürcher Kommentar, N. 68 der Vorbem. zu Art. 271-273c OR).
3.3.2 Der historische Wille des Gesetzgebers ergibt sich für die vorliegende Fragestellung klar aus den Gesetzesmaterialien: Der Vorschlag des Bundesrates sah in Art. 271 OR die Unwirksamkeit einer Kündigung vor, die gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstösst. Die Botschaft führt dazu aus, es rechtfertige sich, den Tatbestand des Verstosses gegen Treu und Glauben für die Kündigung der Miete von Wohn- und Geschäftsräumen eigens zu nennen. Das sei namentlich auch deshalb notwendig, weil Rechtsprechung und Lehre das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs bei der Kündigung des Mietverhältnisses bisher äusserst zurückhaltend ausgelegt hätten. Die Generalklausel von Art. 271 OR sei eine Sonderbestimmung zu Art. 2 ZGB, die nicht mehr "Offensichtlichkeit" als Voraussetzung für den Rechtsmissbrauch fordere. Dafür werde gegenüber dem allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot die Rechtsfolge insofern abgeschwächt, als keine absolute NichtigkeitBGE 133 III 175 (178) BGE 133 III 175 (179)der Kündigung, sondern deren Unwirksamkeit vorgesehen sei, die innerhalb der Verwirkungsfrist von 30 Tagen geltend gemacht werden müsse (BBl 1985 I 1458). In den parlamentarischen Beratungen wurde die vorgesehene Unwirksamkeit - entsprechend der damaligen verfassungsrechtlichen Grundlage von Art. 34septies aBV - durch die Anfechtbarkeit ersetzt (AB 1988 S S. 173 ff.). Die aus der Abschwächung der Rechtsfolge hinsichtlich der offensichtlich rechtsmissbräuchlichen Kündigungen resultierende Verschlechterung der Stellung des Mieters im Vergleich zum damals geltenden Recht wurde namentlich aus Gründen der Rechtssicherheit hingenommen (AB 1989 N S. 536, insbesondere Voten Jeanprêtre und Koller). Nach dem Willen des Gesetzgebers stellt Art. 271 OR also sowohl für den Tatbestand als auch für die Rechtsfolge eine lex specialis zu Art. 2 Abs. 2 ZGB dar.