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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Der Anfechtungsprozess ist am 3. Januar 2011 eingeleitet worde ...
3. Die materiell-rechtliche Ausgangslage zeigt sich wie folgt: ...
4. Seine abweichende Meinung begründet das Obergericht mit d ...
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111. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abtei- lung i.S. X. gegen Y. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
5A_702/2012 vom 19. November 2012
 
 
Regeste
 
Art. 256 ZGB und Art. 70 ZPO; Vaterschaftsanfechtung; notwendige Streitgenossenschaft.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 138 III 737 (737)X. und Y. heirateten am 28. September 2000. Am 24. Oktober 2006 wurde die Tochter Z. geboren. Gegen Mutter und Kind erhob Y. eine Klage auf Anfechtung seiner Vaterschaft. Das Kind erhielt für die Führung des Prozesses einen Beistand und schloss auf Abweisung wegen Verwirkung der Klagefrist. X. verlangte ebenfalls dieBGE 138 III 737 (737) BGE 138 III 737 (738)Abweisung der Klage. Gemäss dem gerichtlich eingeholten DNA-Gutachten kann Y. als Vater des Kindes Z. mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Das Bezirksgericht stellte fest, dass Y. nicht der Vater von Z. ist. X. legte eine Berufung gegen Y. und Z. ein und begehrte, die Anfechtungsklage abzuweisen. Das Obergericht trat auf die Berufung nicht ein mit der Begründung, Mutter und Kind seien im Anfechtungsprozess notwendige Streitgenossen, weshalb die Mutter allein keine Berufung erheben könne. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde von X. (Beschwerdeführerin) gut und weist die Sache an das Obergericht zur Beurteilung der Berufung der Beschwerdeführerin zurück.
(Zusammenfassung)
 
2. Der Anfechtungsprozess ist am 3. Januar 2011 eingeleitet worden. Das kantonale Verfahren hat deshalb insgesamt der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO; SR 272) unterstanden. Die "Notwendige Streitgenossenschaft" (Marginalie) wird in Art. 70 ZPO geregelt. Sind danach mehrere Personen an einem Rechtsverhältnis beteiligt, über das nur mit Wirkung für alle entschieden werden kann, so müssen sie gemeinsam klagen oder beklagt werden (Abs. 1). Rechtzeitige Prozesshandlungen eines Streitgenossen wirken auch für säumige Streitgenossen; ausgenommen ist das Ergreifen von Rechtsmitteln (Abs. 2). Laut Botschaft bestimmt das materielle Recht, in welchen Fällen eine gemeinsame Prozessführung notwendig ist. Wird die Klage in Fällen notwendiger Streitgenossenschaft nicht von allen Berechtigten erhoben oder nicht gegen alle Verpflichteten gerichtet, so fehlt die Aktiv- bzw. Passivlegitimation und die Klage wird als unbegründet abgewiesen. Für das Ergreifen von Rechtsmitteln gilt wie bei der Klageeinreichung, dass die gesamte Streitgenossenschaft handeln muss (vgl. Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7221, 7280 Ziff. 5.53 zu Art. 68 des Entwurfs). Die Botschaft ist dem Vorentwurf der Expertenkommission gefolgt (vgl. Schweizerische Zivilprozessordnung ZPO, Vorentwurf der Expertenkommission, Juni 2003, Art. 62 S. 14, und Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission, Juni 2003, S. 37), obgleich im Vernehmlassungsverfahren unter anderem das gemeinsame Ergreifen von Rechtsmitteln durch notwendige Streitgenossen bei kurzen Fristen als problematisch bezeichnet wurde (vgl. Zusammenstellung der Vernehmlassungen, Vorentwurf für ein Bundesgesetz über die SchweizerischeBGE 138 III 737 (738) BGE 138 III 737 (739)Zivilprozessordnung [ZPO], 2004, S. 199 ff.). Die Eidgenössischen Räte haben dem bundesrätlichen Entwurf diskussionslos zugestimmt (AB 2007 S 508 und AB 2008 N 649).
3.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu aArt. 253 Abs. 2 ZGB besteht zwischen Mutter und Kind im Anfechtungsprozess eine notwendige (passive) Streitgenossenschaft, doch hindert dieser Umstand nicht daran, dass ein im Verfahren gegen Mutter und Kind ergangener Entscheid von der Mutter oder vom Kind allein weitergezogen werden kann. Begründet wurde die Rechtsprechung zunächst mit den Bestimmungen über den Bundeszivilprozess und den im Anfechtungsverfahren geltenden Prozessmaximen. In den Vordergrund rückte später die Begründung, es liesse sich nicht rechtfertigen, dass in der vorliegenden Prozesssituation dem Kinde, zufolge der entgegengesetzten Stellungnahme seiner mitbeklagten Mutter zur Klage, die Anrufung der obersten Instanz verunmöglicht sein sollte. Auf die Berufung des Kindes ist daher einzutreten, ohne dass die Mutter im Berufungsverfahren als dessen Streitgenossin oder gar als Berufungsbeklagte zu behandeln wäre. Davon, dass es zufolge des Ausscheidens der Mutter aus dem Verfahren zu sich widersprechenden Urteilen käme, wenn in Gutheissung der Berufung des Kindes allein die Klage gegen dieses abgewiesen würde, kann selbstverständlichBGE 138 III 737 (739) BGE 138 III 737 (740)keine Rede sein. Der eheliche oder uneheliche Status einer Person ist ein einheitliches Rechtsverhältnis; das letztinstanzliche rechtsgestaltende Urteil darüber wirkt gegenüber allen am Rechtsverhältnis, nicht nur den am Prozesse in seiner letzten Phase, Beteiligten in gleicher Weise, also gegenüber Ehemann, Mutter und Kind gleich (vgl. BGE 82 II 1 S. 3 f.; BGE 87 II 281 E. 1 S. 284; BGE 95 II 291 E. 1 S. 294). Dass Mutter und Kind als notwendige Streitgenossen nicht gemeinsam, sondern je für sich allein ein Rechtsmittel gegen das die Anfechtungsklage gutheissende Urteil einlegen können, wurde in der späteren Rechtsprechung als eine Ausnahme von allgemeinen Grundsätzen für den Sonderfall von Statusklagen bezeichnet (vgl. BGE 130 III 550 E. 2.1.2 S. 552 f.) und auch nach Inkrafttreten von Art. 256 Abs. 2 ZGB diskussionslos anerkannt (vgl. Urteil 5A_240/2011 vom 6. Juli 2011 E. 3).
4.1 Nach der zitierten Lehrmeinung bleibt für die Praxis, wonach Rechtsmittel betreffend Gestaltungsklagen, namentlich in Bezug auf die Anfechtung der Vaterschaft, von jedem Streitgenossen allein mit Wirkung für alle erhoben werden könnten, gemäss Art. 70 Abs. 2BGE 138 III 737 (740) BGE 138 III 737 (741)ZPO kein Raum mehr (vgl. ANNE-CATHERINE HAHN, in: Schweizerische Zivilprozessordnung, Baker & McKenzie [Hrsg.], 2010, N. 15 zu Art. 70 ZPO). Davon gibt es wiederum abweichende Meinungen, die von der gemeinsamen Einlegung eines Rechtsmittels durch die notwendigen Streitgenossen Ausnahmen zur Verwirklichung des materiellen Rechts und zwecks Abwendung drohender Nachteile (z.B. Interessenkollisionen) zulassen wollen (vgl. RUGGLE, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 44 zu Art. 70 ZPO) oder eine Weitergeltung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im vorliegenden Bereich anerkennen (vgl. DOMEJ, in: ZPO, Oberhammer [Hrsg.], 2010, N. 24 zu Art. 70 ZPO, S. 303). Entscheidend ist, dass nicht das Prozessrecht, sondern das materielle Recht bestimmt, in welchen Fällen mehrere Personen zur gemeinsamen Prozessführung verpflichtet sind (vgl. E. 2 hiervor). In Auslegung von aArt. 253 Abs. 2 ZGB und dem hier inhaltlich gleichlautenden Art. 256 Abs. 2 ZGB ist das Bundesgericht zum Ergebnis gelangt, dass wegen der Gefahr einer Kollision der Interessen von Mutter und Kind und mit Rücksicht auf die Gestaltungswirkung des eine Anfechtungsklage gutheissenden Urteils Mutter oder Kind allein ein Rechtsmittel einlegen dürfen (E. 3 hiervor). Daran ist festzuhalten und hat das Inkrafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung nichts geändert. Fallbezogen kommt hinzu, dass die Beschwerdeführerin ihre kantonale Berufung ausdrücklich auch gegen die Tochter gerichtet hat und in ihrer heutigen Beschwerde die Tochter als Verfahrensbeteiligte aufführt, womit in formeller Hinsicht der Einbezug des Kindes in das Rechtsmittelverfahren gewährleistet ist.