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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Materielle Rechtskraft bedeutet Massgeblichkeit eines formell  ...
3. Mit der Vorinstanz ist grundsätzlich davon auszugehen, da ...
4. Die Beschwerdegegnerin hat in ihren Rechtsbegehren vor den Sol ...
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29. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
4A_571/2015 vom 29. Februar 2016
 
 
Regeste
 
Einrede der abgeurteilten Sache (res iudicata); Streitgegenstand.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 142 III 210 (210)A. Die A. AG (Klägerin, Beschwerdeführerin, Feststellungsbeklagte) betrieb die B. AG (Beklagte, Beschwerdegegnerin, Feststellungsklägerin) mit Zahlungsbefehl Nr. x des Betreibungsamts Bern-Mittelland vom 19. Dezember 2006 für einen Betrag von Fr. 999'000.-. Als Forderungsgrund gab sie an "Schadenersatz, Genugtuung. Dient zur Unterbrechung der Verjährungsfrist". Die Beklagte erhob Rechtsvorschlag und reichte in der Folge am 26. bzw. 30. Januar 2007 einBGE 142 III 210 (210) BGE 142 III 210 (211)Gesuch um Vorladung zum Aussöhnungsversuch, nach dessen Scheitern eine Klage beim Richteramt Solothurn-Lebern ein mit dem Begehren auf Feststellung, dass die von der Klägerin in Betreibung gesetzte Forderung nicht besteht. Das Richteramt hiess die negative Feststellungsklage am 16. Juni 2010 gut und stellte fest, dass die von der Feststellungsbeklagten in Betreibung gesetzte Forderung nicht besteht. Gleich entschied auf Appellation der Feststellungsbeklagten auch das Obergericht des Kantons Solothurn am 8. März 2011. Das Betreibungsamt Bern-Mittelland wurde angewiesen, die Betreibung Nr. x aus dem Betreibungsregister zu löschen.
B. Parallel zum Verfahren im Kanton Solothurn gelangte die Klägerin nach erfolglosem Aussöhnungsversuch am 14. Februar 2008 an das Handelsgericht des Kantons Bern. Sie beantragte, die Beklagte sei zu insgesamt Fr. 298'767.90 nebst Zins (u.a. für Verwaltungshonorar, Vergütung administrativer Dienstleistungen) zu verurteilen und der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. x des Betreibungsamtes Bern-Mittelland sei in diesem Umfang zu beseitigen. Das Handelsgericht des Kantons Bern sistierte mit Verfügung vom 25. Februar 2008 das Verfahren bis zum Abschluss des solothurnischen Verfahrens. Nachdem das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn unangefochten blieb, hob das Handelsgericht des Kantons Bern die Sistierung mit Verfügung vom 14. Juli 2011 auf und gab der Klägerin Gelegenheit, ihre Klage zu überarbeiten. Die Klägerin reichte darauf am 11. August 2011 ihre revidierte Klage ein; die Klagebegehren änderte sie insofern ab, als sie das Begehren auf Beseitigung des Rechtsvorschlags fallen liess und sich neu Mehrforderungen vorbehielt. Am 14. August 2014 beschloss das Handelsgericht, das Verfahren auf die Frage des Vorliegens einer bereits abgeurteilten Sache zu beschränken.
Mit Entscheid vom 8. September 2015 (ausgefertigt am 14. September 2015) wies das Handelsgericht des Kantons Bern die Klage zurück. Das Gericht gelangte zum Schluss, dass die von Amtes wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung fehle, wonach die Streitsache nicht bereits rechtskräftig beurteilt wurde. Es hielt im angefochtenen Urteil zunächst fest, mit dem Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 8. März 2011 liege ein Sachurteil vor, das der vorliegenden Klage als res iudicata im Wege stehen könne. Zur Identität des Streitgegenstandes erwog das Handelsgericht, dass sich der Streitgegenstand des früheren Verfahrens nach dem Dispositiv des Urteils bestimme, das jedoch im Lichte der Urteilserwägungen auszulegenBGE 142 III 210 (211) BGE 142 III 210 (212)sei. Dabei genüge die Konsultation der Urteilserwägungen nicht in jedem Fall, sondern allenfalls könne erforderlich sein, auf weitere Unterlagen zurückzugreifen. In Auslegung der Rechtsbegehren und Klageschrift der Beklagten im Verfahren vor den solothurnischen Gerichten gelangte das Handelsgericht zum Schluss, der Lebenssachverhalt, den die Beklagte im Verfahren um negative Feststellung vor den Gerichten des Kantons Solothurns zur Beurteilung gestellt habe, sei derselbe wie der im Verfahren vor Handelsgericht streitige.
C. Mit Beschwerde in Zivilsachen stellt die Klägerin das Rechtsbegehren, der Entscheid des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 8. September 2015 sei aufzuheben und auf die Klage vom 14. Februar 2008/11. August 2011 sei einzutreten.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den Entscheid des Handelsgerichts des Kantons Bern vom 8. September 2015 auf und weist die Sache an die Vorinstanz zur weiteren Beurteilung zurück.
(Zusammenfassung)
 
2.1 In negativer Hinsicht verbietet die materielle Rechtskraft jedem späteren Gericht, auf eine Klage einzutreten, deren Streitgegenstand mit dem rechtskräftig beurteilten (res iudicata, d.h. abgeurteilte Sache) identisch ist, sofern der Kläger nicht ein schutzwürdiges Interesse an der Wiederholung des früheren Entscheids geltend machen kann (BGE 139 III 126 E. 3.1 S. 128; BGE 121 III 474 E. 2 S. 477). Die materielle Rechtskraft eines Urteils erstreckt sich nach dem Grundsatz der Präklusion auf den individualisierten prozessualen Anspruch schlechthin und schliesst Angriffe auf sämtliche Tatsachen aus, die im Zeitpunkt des Urteils bereits bestanden hatten, unabhängig davon, ob sie den Parteien bekannt waren, von diesen vorgebracht oder vom Richter beweismässig als erstellt BGE 142 III 210 (212) BGE 142 III 210 (213)erachtet wurden (grundlegend BGE 115 II 187 E. 3b S. 190; BGE 139 III 126 E. 3.1 S. 129). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beurteilt sich die Identität von Streitgegenständen im Hinblick auf die negative Wirkung der materiellen Rechtskraft nach den prozessualen Ansprüchen in den Klageanträgen und dem behaupteten Lebenssachverhalt, d.h. dem Tatsachenfundament, auf das sich die Klagebegehren stützen (BGE 139 III 126 E. 3.2.3 S. 131; BGE 136 III 123 E. 4.3.1 S. 126). Dabei ist der Begriff der Anspruchsidentität nicht grammatikalisch, sondern inhaltlich zu verstehen. Der neue prozessuale Anspruch ist deshalb trotz abweichender Umschreibung vom beurteilten nicht verschieden, wenn er in diesem bereits enthalten war oder wenn im neuen Verfahren das kontradiktorische Gegenteil zur Beurteilung gestellt wird (BGE 139 III 126 E. 3.2.3 S. 131).
2.3 Für einen weitergehenden Beizug der Verfahrensakten des Vorentscheids besteht entgegen der Ansicht der Vorinstanz keine Grundlage. Dass sich die Identität des Streitgegenstands nach den prozessualen Ansprüchen in den Klageanträgen und dem behaupteten Lebenssachverhalt beurteilt, ist entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht so zu verstehen, dass die Akten des früheren Verfahrens beizuziehen sind, um den Streitgegenstand dieses früheren Prozesses unabhängig von den Urteilserwägungen zu bestimmen. Die BegründungBGE 142 III 210 (213) BGE 142 III 210 (214)des früheren Urteils ist vielmehr verbindlich zur Bestimmung der Tragweite der Rechtskraftwirkung dieses Urteils. Nach dessen Feststellungen beurteilt sich, welche Rechtsbegehren gestellt und welcher Sachverhalt behauptet wurde. An der Rechtskraftwirkung des Urteilsdispositivs können dagegen allfällige Sachvorbringen nicht teilhaben, welche - unter Umständen zu Unrecht - weder beurteilt noch in der Begründung erwähnt wurden. Es geht auch unter dem Titel der Bestimmung des Streitgegenstands nicht an, das Vorurteil einer materiellen Prüfung zu unterziehen. Darauf liefe es aber hinaus, wenn aufgrund der früheren Akten zu prüfen wäre, ob allenfalls die Tragweite des materiell rechtskräftigen Dispositivs weiter gefasst werden müsse, weil das früher zuständige Gericht gewisse Ansprüche zu Unrecht nicht berücksichtigt habe.
Das Dispositiv dieses Urteils vom 8. März 2011 lautet wie folgt:
    "1. Die negative Feststellungsklage wird gutgeheissen und es wird festgestellt, dass die von der Beklagten mit Zahlungsbefehl Nr. x des Betreibungsamtes Bern-Mittelland, Dienststelle Bern, in Betreibung gesetzte Forderung von CHF 999'000.00 gegen die Klägerin nicht besteht.
    2. Das Betreibungsamt Bern-Mittelland, Dienststelle Bern, wird angewiesen, die Betreibung Nr. x aus dem Betreibungsregister zu löschen.
    (3. Kosten)."
BGE 142 III 210 (214)
BGE 142 III 210 (215)3. Mit der Vorinstanz ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Obergericht des Kantons Solothurn mit der Gutheissung der negativen Feststellungsklage der Beklagten materiell erkannt hat, dass die in Betreibung gesetzte Forderung der Klägerin von Fr. 999'000.- nicht besteht. Da unbestritten ist, dass sich der massgebende Lebenssachverhalt nicht verändert hat, ist der neue prozessuale Anspruch der Beschwerdeführerin gegen die Beschwerdegegnerin trotz abweichender Umschreibung vom beurteilten inhaltlich nicht verschieden, wenn die Klägerin im vorliegenden Verfahren vor dem Handelsgericht diejenigen Forderungen gegen die Beklagte erhebt, deren Nichtbestand das Obergericht des Kantons Solothurn im Urteil vom 8. März 2011 rechtskräftig festgestellt hat.
BGE 142 III 210 (216)3.2.1 Nach den Feststellungen des Obergerichts forderte der erstinstanzliche Gerichtspräsident - nach einem Zwischenverfahren betreffend das Feststellungsinteresse der damaligen Klägerin - die Beschwerdeführerin auf, ihre einlässliche Klageantwort einzureichen. Darauf stellte die Beschwerdeführerin als Beklagte im damaligen negativen Feststellungsprozess den Antrag, "die Klage sei abzuweisen, soweit darin die Feststellung des Nichtbestandes von Forderungen im Gesamtbetrag von Fr. 343'467.10 (recte Fr. 343'866.60) aus Werkvertrag, Liegenschaftsverwaltungshonorar, Honorar für Buchhaltung und Administration und Darlehen verlangt werde". Das Amtsgericht Solothurn-Lebern hiess darauf am 16. Juni 2010 die negative Feststellungsklage der Beschwerdegegnerin vollumfänglich gut.
4. Die Beschwerdegegnerin hat in ihren Rechtsbegehren vor den Solothurner Gerichten namentlich die Feststellung verlangt, dass die von der Beklagten mit Zahlungsbefehl Nr. x des Betreibungsamtes Bern-Mittelland, Dienststelle Bern, in Betreibung gesetzte Forderung von Fr. 999'000.- gegen sie nicht besteht. Sie hat mit dieser Begründung die Löschung der Betreibung aus dem Register begehrt (Klageantrag 2 der damaligen Klage). Das Obergericht des Kantons Solothurn hat in der Begründung seines Urteils vom 8. März 2011 angenommen, die in Betreibung gesetzte Geldforderung sei mit derBGE 142 III 210 (217) BGE 142 III 210 (218)Angabe des Zahlungsgrundes im Betreibungsbegehren tituliert; es hat in den Erwägungen des Urteils vom 8. März 2011 daher ausdrücklich festgehalten, die negative Feststellung im Urteil beziehe sich - wie schon die Betreibung - nur auf Forderungen der Beschwerdeführerin aus Schadenersatz oder Genugtuung. Die Vorinstanz hat indes die Rechtsbegehren und Sachverhaltsvorbringen beider Parteien im negativen Feststellungsprozess herangezogen und geschlossen, die von der Beschwerdeführerin als Beklagte im damaligen Prozess zur Begründung der teilweisen Abweisung angeführten Forderungen hätten Streitgegenstand gebildet und seien - da sie mit den hier eingeklagten Forderungen übereinstimmten - daher im Solothurner Urteil vom 8. März 2011 rechtskräftig beurteilt worden.
4.1 Mit dem Betreibungsbegehren über Fr. 999'000.- und der Angabe des Zahlungsgrundes "Schadenersatz; Genugtuung; Dient zur Unterbrechung der Verjährungsfrist" hat zwar die Beschwerdeführerin die Beschwerdegegnerin einstweilen nur zur Zahlung oder zur Stellungnahme zu ihrer behaupteten Forderung aufgefordert. Denn nach Art. 67 Abs. 1 Ziff. 4 SchKG dient die Angabe des Forderungsgrunds nur der Orientierung des Betriebenen und macht auch das Fehlen jeglichen Hinweises den Zahlungsbefehl noch nicht nichtig (BGE 121 III 18 E. 2a u. b S. 19 f. mit Hinweisen). Es erscheint daher nicht ausgeschlossen, dass die Parteien den Grund der Forderung anders verstehen konnten. Das Obergericht des Kantons Solothurn hat jedoch im Urteil vom 8. März 2011 erwogen, dass mit der Angabe des Zahlungsgrundes im Betreibungsbegehren die Forderung objektiv auf Schadenersatz und Genugtuung beschränkt worden sei. Ob dies zu Recht oder zu Unrecht angenommen wurde, sei dahingestellt. Da auch falsche Urteile - soweit sie nicht geradezu nichtig sind - in materielle Rechtskraft erwachsen, definiert das Vorurteil verbindlich, welche Anträge in diesem Verfahren aus welchem Lebenssachverhalt gestellt wurden. Das Obergericht des Kantons Solothurn hat im Urteil vom 8. März 2011 ausdrücklich die von der damaligen Beklagten und heutigen Beschwerdeführerin ins Verfahren eingebrachten Erfüllungsansprüche deswegen nicht berücksichtigt, weil sich die Anträge der Beschwerdegegnerin darauf nicht bezogen hätten. Den dadurch definierten Streitgegenstand der negativen Feststellungsklage konnte die Beschwerdeführerin als damalige Beklagte nicht erweitern; handelt es sich doch dabei, wie die Vorinstanz unter Hinweis auf Urteil 4A_568/2013 vom 16. April 2014 E. 2.2 zutreffend bemerkt, nicht um Verrechnungsforderungen.BGE 142 III 210 (218)
BGE 142 III 210 (219)4.2 Das Obergericht des Kantons Solothurn hat im Urteil vom 8. März 2011 verbindlich erklärt, wie das Feststellungsbegehren der Beschwerdegegnerin als damalige Klägerin zu verstehen sei. Danach hat die Beschwerdegegnerin die Feststellung verlangt, dass Forderungen aus Schadenersatz oder Genugtuung der Beschwerdeführerin gegen sie nicht bestehen. Das Obergericht hat daher die Klage auf Feststellung des Nichtbestehens der in Betreibung gesetzten Forderung gutgeheissen und die Löschung der Betreibung angeordnet, ausdrücklich ohne die von der damaligen Beklagten behaupteten Erfüllungsansprüche aus Werkvertrag, Auftrag und Darlehen zu beurteilen. Die rechtskräftig beurteilten Forderungen betreffen ausschliesslich solche aus Schadenersatz und Genugtuung. Die Vorinstanz hat im angefochtenen Urteil zwar erkannt, dass das Obergericht des Kantons Solothurn der Ansicht war, einzig zu beurteilen zu haben, ob eine Forderung aus "Schadenersatz" oder "Genugtuung" in der Höhe von Fr. 999'000.- bestehe. Sie hat sich jedoch bei der Prüfung der res iudicata zu Unrecht nicht darauf beschränkt, die Tragweite des Dispositivs des Urteils des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 8. März 2011 im Lichte der Erwägungen dieses Urteils zu verstehen. Sie hat vielmehr den Streitgegenstand des damaligen Verfahrens abweichend vom Erstgericht definiert und mit der Erweiterung des Streitgegenstands nicht nur unzulässigerweise überprüft, wie das Obergericht des Kantons Solothurn die damaligen Rechtsbegehren der Beschwerdegegnerin hätte auslegen müssen, sondern im Ergebnis den Streitgegenstand dieses ersten Urteils und die Rechtskraftwirkung des Dispositivs unzulässigerweise erweitert. Mit dem Schluss, das Obergericht des Kantons Solothurn hätte in seinem Urteil vom 8. März 2011 bei richtigem Verständnis der Klagebegehren auch die im Verfahren vor der Vorinstanz (Handelsgericht des Kantons Bern) eingeklagten Ansprüche beurteilen müssen, weshalb sie als beurteilt zu gelten hätten, hat die Vorinstanz den Grundsatz der res iudicata verkannt. (...)BGE 142 III 210 (219)