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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 4
Erwägung 5
Erwägung 5.2
Erwägung 5.2.2
Erwägung 5.3
Erwägung 5.4
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
38. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. AG und vice versa (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
4A_579/2017 / 4A_581/2017 vom 7. Mai 2018
 
 
Regeste
 
Art. 160 ff., Art. 321a, Art. 321e und Art. 362 OR; Arbeitsvertrag, Konventionalstrafe.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 144 III 327 (327)A.
A.a Mit Arbeitsvertrag vom 12. April 2011 wurde Dr. A. (Beklagte) von der B. AG (Klägerin) per 1. Mai 2011 als geschäftsführende Ärztin der Arztpraxis Dr. D. an der Strasse X. in U. angestellt. InBGE 144 III 327 (327) BGE 144 III 327 (328)Ziff. 16 des Arbeitsvertrages wird unter dem Titel "Konventionalstrafe" Folgendes festgehalten:
    "Bei Zuwiderhandlungen gegen diesen Vertrag, insbesondere gegen das Konkurrenzverbot oder die Geheimhaltungspflicht schuldet die Arbeitnehmerin eine Konventionalstrafe von je CHF 50'000.- pro Verstoss.
    Die Bezahlung der Konventionalstrafe befreit die Arbeitnehmerin nicht von der weiteren Einhaltung des Vertrages, insbesondere des Konkurrenzverbots, der Geheimhaltungspflicht oder dem Verbot der Abwerbung. In jedem Fall, auch bei Bezahlung der Konventionalstrafe, kann die Arbeitgeberin die Beseitigung des vertragswidrigen Zustandes sowie den Ersatz weiteren Schadens verlangen."
A.b Mit Schreiben vom 17. November 2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis auf den 31. Dezember 2011.
B.
B.a Mit Klage vom 24. Februar 2014 beim Arbeitsgericht des Kantons Luzern beantragte die Klägerin, die Beklagte sei zu verpflichten, ihr infolge von Verletzungen des Arbeitsvertrages vom 12. April 2011 eine Konventionalstrafe von insgesamt Fr. 150'000.- nebst Zins zu 5 % seit 2. September 2013 zu bezahlen.
Mit Urteil vom 7. Oktober 2016 wies das Arbeitsgericht des Kantons Luzern die Klage ab.
B.b Dagegen erhob die Klägerin am 11. November 2016 Berufung beim Kantonsgericht des Kantons Luzern. Sie beantragte, das Urteil sei aufzuheben, und wiederholte ihren Hauptantrag.
Mit Urteil vom 25. September 2017 verurteilte das Kantonsgericht des Kantons Luzern die Beklagte in teilweiser Gutheissung der Berufung, der Klägerin Fr. 50'000.- nebst Zins zu 5 % seit 2. September 2013 zu bezahlen.
Das Kantonsgericht kam zum Schluss, die Beklagte habe zwei Vertragsverletzungen begangen. Erstens holte sie keine schriftliche Zustimmung der Klägerin zur Aufnahme einer Nebentätigkeit als Belegärztin an einer Privatklinik ein. Zweitens gab sie bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin die mit der Praxis verknüpfte Zahlstellenregisternummer (ZSR-Nummer) nicht zurück. Eine Vertragsverletzung hinsichtlich der Abwerbung von Patienten sowie rufschädigender Äusserungen über die Nachfolgerin der Beklagten verneinte das Kantonsgericht hingegen.
C. Beide Parteien haben Beschwerde in Zivilsachen eingereicht. Die Klägerin beantragt, es sei das Urteil der Vorinstanz aufzuheben undBGE 144 III 327 (328) BGE 144 III 327 (329)die Beklagte zu verpflichten, ihr eine Konventionalstrafe in der Höhe von Fr. 150'000.- zuzüglich Zins zu bezahlen. Die Beklagte beantragt, das Urteil der Vorinstanz sei aufzuheben und die Klage sei abzuweisen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Beklagten gut und hebt das Urteil der Vorinstanz auf. Die Beschwerde der Klägerin wird abgewiesen.
(Zusammenfassung)
 
 
Erwägung 4
 
Da diese beiden Verletzungen nicht die eigentlichen Sorgfalts- und Treuepflichten von Art. 321a OR beträfen, sei nicht zu untersuchen, ob die vereinbarte Konventionalstrafe lediglich Straf- oder auch Ersatzcharakter habe. Im Hinblick auf die Vereinbarkeit der Konventionalstrafe mit Art. 321e OR sei der Charakter der Konventionalstrafe nur bei solchen Vertragsverletzungen zu prüfen, die Verletzungen gegen die Sorgfalts- und Treuepflicht des Arbeitnehmers darstellten. Bei sonstigen Verletzungen sei eine solche Prüfung nicht erforderlich.
Die Beklagte rügt dagegen, die zwischen den Parteien vereinbarte Konventionalstrafe sei nichtig. Der Konventionalstrafe komme ausschliesslich Ersatzcharakter zu, weshalb die Vereinbarung einer solchen Strafe gegen den teilzwingenden Art. 321e i.V.m. Art. 362 Abs. 1 OR verstosse. Die von der Vorinstanz vorgenommene Unterscheidung zwischen Verletzungen der Sorgfalts- und Treuepflicht und sonstigen Vertragsverletzungen sei bundesrechtswidrig; sämtliche Vertragsverletzungen seien vom Anwendungsbereich von Art. 321e OR erfasst.
4.2 Nach Art. 321e Abs. 1 OR ist der Arbeitnehmer für den Schaden verantwortlich, den er absichtlich oder fahrlässig dem Arbeitgeber zufügt. Das Mass der Sorgfalt, für die der Arbeitnehmer einzustehen BGE 144 III 327 (329) BGE 144 III 327 (330)hat, bestimmt sich nach dem einzelnen Arbeitsverhältnis, unter Berücksichtigung des Berufsrisikos, des Bildungsgrades oder der Fachkenntnisse, die zu der Arbeit verlangt werden, sowie der Fähigkeiten und Eigenschaften des Arbeitnehmers, die der Arbeitgeber gekannt hat oder hätte kennen sollen (Art. 321e Abs. 2 OR).
 
Erwägung 5
 
Von Art. 321e OR nicht ausgeschlossen sind sog. Disziplinarmassnahmen. Diese können unter gewissen Voraussetzungen gültig arbeitsvertraglich vereinbart und insofern als Vertragsstrafen aufgefasst werden (BGE 119 II 162 E. 2; REHBINDER/STÖCKLI, a.a.O., N. 44 zu Art. 321d OR; MANFRED REHBINDER, Ordnungsstrafen im schweizerischen Arbeitsrecht [im Folgenden: Ordnungsstrafen], in: Gedächtnisschrift für Peter Noll, 1984, S. 261; ROLAND MÜLLER, Betriebliches Disziplinarwesen, 1983, S. 55 ff., 89 und 95 ff.; WYLER/HEINZER, a.a.O., S. 130; FRANK VISCHER, in: Arbeitsgesetz, Geiser/von Kaenel/Wyler [Hrsg.], 2005, N. 32 zu Art. 38 ArG; ROLAND A. MÜLLER, in: ArG Kommentar, 8. Aufl. 2017, N. 4 zu Art. 38 ArG).
 
Erwägung 5.2
 
In der Lehre wird in Bezug auf die Vereinbarkeit von Konventionalstrafen mit Art. 321e OR teilweise danach differenziert, ob der Konventionalstrafe Straf- und/oder Ersatzcharakter zukommt (SANTORO, a.a.O., S. 46; STREIFF/VON KAENEL/RUDOLPH, a.a.O., N. 15 zu Art. 321e OR). Ersatzcharakter habe eine Konventionalstrafe dann, wenn sie auf den Ausgleich vermögensrechtlicher Nachteile gerichtet sei und somit das wirtschaftliche Interesse an der mangelfreien Pflichterfüllung betreffe. Diesem Interesse entspreche auch die Haftungsnorm von Art. 321e OR, weshalb eine Strafabrede mitBGE 144 III 327 (332) BGE 144 III 327 (333)Ersatzcharakter insofern in den Regelungsbereich dieser Norm falle (SANTORO, a.a.O., S. 47).
 
Erwägung 5.2.2
 
5.2.2.1 Wie eine Konventionalstrafe auszulegen ist, entscheidet sich primär nach dem Parteiwillen. Die Willenserklärungen der Parteien sind, da ein übereinstimmender wirklicher Wille nicht ermittelt werden konnte (Art. 18 Abs. 1 OR), aufgrund des Vertrauensprinzips so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden durften und mussten (BGE 144 III 93 E. 5.2.3 S. 98 f.; BGE 143 III 157 E. 1.2.2; BGE 138 III 659 E. 4.2.1 S. 666). Dabei hat der Richter zu berücksichtigen, was sachgerecht ist, weil nicht anzunehmen ist, dass die Parteien eine unangemessene Lösung gewollt haben (BGE 126 III 119 E. 2c S. 121; BGE 122 III 420 E. 3a S. 424; vgl. auch BGE 140 III 134 E. 2 S. 139).
5.2.2.2 Nach dem Wortlaut von Ziff. 16 des Arbeitsvertrages darf die Klägerin bei einer Vertragsverletzung in jedem Fall, auch bei Bezahlung der Konventionalstrafe, die Beseitigung des vertragswidrigen Zustandes sowie den "Ersatz weiteren Schadens" verlangen. Dies kann nicht anders verstanden werden denn als Hinweis darauf, dass mit der Vertragsstrafe (auch) der infolge einer durch den Arbeitnehmer begangenen Vertragsverletzung entstandene Schaden ersetzt werden soll, was dem Wesen der Konventionalstrafe entspricht (vgl. E. 5.2.1 hiervor). Dass sich die Klägerin darüber hinaus vorbehielt, die Beseitigung des vertragswidrigen Zustandes zu verlangen, ändert nichts daran.
 
Erwägung 5.3
 
5.3.1.1 Unzulässig ist die Vereinbarung einer verschuldensunabhängigen Haftung des Arbeitnehmers. Gemäss Art. 321e OR haftet derBGE 144 III 327 (333) BGE 144 III 327 (334)Arbeitnehmer nur, wenn er den Schaden dem Arbeitgeber absichtlich oder fahrlässig zufügt; ein Verschulden des Arbeitnehmers ist zwingend vorausgesetzt. Eine verschuldensunabhängige Konventionalstrafe mit Ersatzcharakter ist somit unzulässig (WYLER/HEINZER, a.a.O., S. 118; SANTORO, a.a.O., S. 47; MANFRED REHBINDER, Schweizerisches Arbeitsrecht, 15. Aufl. 2002, S. 79; WOLFGANG PORTMANN, Individualarbeitsrecht, 2000, S. 77).
5.3.1.2 Unzulässig sind zudem Abreden, welche eine Beweislastumkehr zuungunsten des Arbeitnehmers bewirken. Dabei ist vordergründig an Abreden zu denken, welche die Exkulpationspflicht des Arbeitnehmers ausdehnen bzw. die Exkulpation erschweren oder verunmöglichen (THOMAS GEISER, Die Treuepflicht des Arbeitnehmers und ihre Schranken, 1983, S. 122; RICHARD ALTHERR, Die Mankohaftung im Arbeitsverhältnis, 1980, S. 80 f.).
5.3.1.3 Weil die Arbeitnehmerhaftung gemäss Art. 321e OR zwingend den Eintritt eines ersatzpflichtigen Schadens voraussetzt, verstösst eine vertragliche Abrede gegen diese Haftungsnorm, wenn sie zu einer schadensunabhängigen Haftung des Arbeitnehmers führt. Da der Arbeitnehmer höchstens für den verursachten Schaden haftbar gemacht werden kann, ist die Verpflichtung des Arbeitnehmers zur Zahlung einer den tatsächlich eingetretenen Schaden übersteigenden Vertragsstrafe unzulässig (SANTORO, a.a.O., S. 47; DUNAND, a.a.O., N. 18-21 zu Art. 321e OR; AUBERT, a.a.O., N. 7 zu Art. 321e OR).
 
Erwägung 5.4
 
5.4.1 Soweit die vereinbarte Konventionalstrafe mit Art. 321e OR unvereinbar ist, ist diese nichtig (Art. 362 Abs. 2 OR). Nach dem ausdrücklichen Wortlaut von Art. 362 Abs. 2 OR ist nicht der ganzeBGE 144 III 327 (334) BGE 144 III 327 (335)Vertrag, sondern sind ausschliesslich die von den teilzwingenden Vorschriften zugunsten des Arbeitnehmers abweichenden Abreden nichtig. An Stelle der nichtigen Abrede tritt die zwingende Norm, und zwar ohne Rücksicht auf den hypothetischen Parteiwillen. Der Arbeitsvertrag bleibt im Übrigen bestehen (BOHNET/DIETSCHY, in: Commentaire du contrat de travail, Dunand/Mahon [Hrsg.], 2013, N. 18-21 zu Art. 321e OR; STREIFF/VON KAENEL/RUDOLPH, a.a.O., N. 6 zu Art. 361 OR; REHBINDER/STÖCKLI, a.a.O., N. 8 zu Art. 361 OR).
Eine Konventionalstrafe, der Ersatzcharakter zukommt, ist folglich nicht im entsprechenden Umfang herabzusetzen, sondern nichtig (STAEHELIN, a.a.O., N. 41 zu Art. 321e OR; SANTORO, a.a.O., S. 48; vgl. auch COUCHEPIN, a.a.O., N. 546 ff.; BENTELE, a.a.O., S. 61 ff.; anders: Urteil 4A_595/2012 vom 21. Dezember 2012 E. 4.4; vgl. die berechtigte Kritik von MARTIN FARNER, Die Sicherung der Treuepflicht mit Konventionalstrafe, Anwaltsrevue 5/2013 S. 223). Nur übermässig hohe Konventionalstrafen werden im Sinne von Art. 163 Abs. 3 OR nach dem Ermessen des Richters herabgesetzt; auf wegen eines Verstosses gegen eine (teil-)zwingende arbeitsrechtliche Bestimmung nichtige Konventionalstrafen ist diese Vorschrift hingegen nicht anwendbar (vgl. COUCHEPIN, a.a.O., N. 546 ff.).
5.5.1 Unter dem geltenden Recht wird die Frage der Zulässigkeit und der Ausgestaltung von Disziplinarmassnahmen vor allem im Zusammenhang mit Art. 38 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 13. März 1964 über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz, ArG; SR 822.11) diskutiert (vgl. etwa VISCHER, a.a.O., N. 1 ff. zu Art. 38 ArG; REHBINDER, Ordnungsstrafen, a.a.O., S. 262 ff.; MÜLLER, a.a.O., N. 1 ff. zu Art. 38 ArG). Nach dieser Vorschrift sind Ordnungsstrafen nur zulässig, wenn sie in der Betriebsordnung angemessen geregelt sind. Vorliegend ist zu beachten, dass dieBGE 144 III 327 (335) BGE 144 III 327 (336)Beklagte als Geschäftsführerin der Arztpraxis nach Art. 3 lit. d ArG vom persönlichen Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes ausgenommen ist. Ob die vertraglich vereinbarte Konventionalstrafe den Anforderungen von Art. 38 Abs. 1 ArG genügt, ist somit unerheblich. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Disziplinarmassnahmen auch im Verhältnis zwischen Arbeitgebern und leitenden Angestellten Grenzen gesetzt sind. Im Arbeitsvertragsrecht verfügt der Arbeitgeber grundsätzlich über keine Disziplinargewalt gegenüber dem Arbeitnehmer; Disziplinarmassnahmen dürfen auf keinen Fall nach Belieben verhängt werden (BGE 119 II 162 E. 2).
Somit steht fest, dass die Parteien keine gültige Disziplinarmassnahme vereinbart haben. Die Frage der Verhältnismässigkeit der vereinbarten Strafe kann folglich offengelassen werden.BGE 144 III 327 (337)