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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) sind Vertragsbestim ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
8. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
4A_330/2021 vom 5. Januar 2022
 
 
Regeste
 
Art. 1 und 18 OR; Allgemeine Geschäftsbedingungen.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 III 57 (57)A.
A.a Die B. AG (Klägerin, Beschwerdegegnerin) betreibt ein Lokal mit Restaurant und Bar in U. Sie hat bei der A. AG (Beklagte, Beschwerdeführerin) die "X. Geschäftsversicherung KMU" abgeschlossen, enthaltend eine Fahrhabeversicherung sowie eine Betriebs- und Unfallversicherung. Die Fahrhabeversicherung umfasst laut Police Nr. x vom 17. August 2018 unter der Rubrik "Weitere Gefahren" auch die Versicherung für Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie bis zu einem Höchstbetrag von Fr. 2'000'000.- bei einem Selbstbehalt von Fr. 200.-.BGE 148 III 57 (57)
BGE 148 III 57 (58)A.b Am 16. März 2020 stufte der Bundesrat die Situation in der Schweiz im Zusammenhang mit der Ausbreitung des Coronavirus als ausserordentliche Lage im Sinne von Art. 7 des Bundesgesetzes vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz; SR 818.101) ein. Er ordnete mit Wirkung ab dem 17. März 2020 die Schliessung von für das Publikum öffentlich zugänglichen Einrichtungen an, insbesondere von Restaurations- und Barbetrieben (Art. 6 Abs. 2 lit. b und c Verordnung 2 vom 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus [COVID-19]; [COVID-19-Verordnung 2; SR818.101.24; Änderung vom 16. März 2020]). Restaurations- und Barbetriebe waren für das Publikum erst ab dem 11. Mai 2020 unter einschränkenden Auflagen wieder öffentlichzugänglich (Art. 6 Abs. 3 lit. bbis COVID-19-Verordnung 2 [Transitionsschritt 2: Restaurationsbetriebe; Änderung vom 8. Mai 2020]).
Die Betriebsschliessung ab 17. März 2020 führte bei der Klägerin zu einem Ertragsausfall. Am 18. März 2020 errechnete sie einen zu erwartenden Betriebsunterbrechungsschaden bis 30. April 2020 von Fr. 75'397.- und bat die Beklagte mit Schreiben vom 19. März 2020, die versicherten Leistungen zu erbringen. Mit E-Mail vom 23. März 2020 und Schreiben vom 25. März 2020 lehnte die Beklagte Entschädigungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus ab.
B. Am 21. April 2020 erhob die Klägerin Teilklage am Handelsgericht des Kantons Aargau und beantragte, die Beklagte sei zu verpflichten, ihr Fr. 40'000.- für Ertragsausfall und Mehrkosten infolge Epidemie zu bezahlen, nebst 5 % Zins seit dem Tag der Klageeinreichung. Die Geltendmachung weiterer Ansprüche behielt sie sich vor.
Mit Urteil vom 17. Mai 2021 hiess das Handelsgericht die Klage - abgesehen vom Beginn des Verzugszinslaufes - gut und verpflichtete die Beklagte, der Klägerin Fr. 40'000.- zuzüglich Zins zu 5 % seit dem 24. April 2020 zu bezahlen.
C. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht. Sie begehrt, das Urteil des Handelsgerichts sei aufzuheben und die Klage der Beschwerdegegnerin sei abzuweisen. Eventualiter sei das Urteil des Handelsgerichts aufzuheben und die Streitsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)BGE 148 III 57 (58)
BGE 148 III 57 (59)Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
(Auszug)
 
2.1.3.1 Die Ungewöhnlichkeitsregel ist ein Instrument der Konsenslehre (Urteil 4A_499/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 3.3.2). Sie konkretisiert das Vertrauensprinzip (BGE 138 III 411 E. 3.1; BGE 135 III 1 E. 2.1 S. 7). Dieses bezweckt den Schutz von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr und zielt nicht primär darauf ab, die schwächere oder unerfahrene Partei vor der stärkeren oder erfahreneren zu schützen. Für die Anwendung der Ungewöhnlichkeitsregel braucht es sich daher beim Zustimmenden nicht zwingend um eine schwächere oder unerfahrene Partei zu handeln. Auch eine stärkere, geschäfts- oder branchenerfahrene Vertragspartei kann von einer global übernommenen Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen überrascht werden und die Ungewöhnlichkeitsregel anrufen (Urteil 4A_499/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 3.3.2 mit weiteren Hinweisen). Die Stellung und Erfahrung des Zustimmenden ist dennoch nicht irrelevant, sondern spielt bei der subjektiven Ungewöhnlichkeit eine Rolle.
2.1.3.2 Die AGB-Klausel hat nämlich für die zustimmende Partei zunächst subjektiv ungewöhnlich zu sein. Zu berücksichtigen ist unter anderem, ob der Zustimmende geschäfts- und branchenkundig ist: Je weniger geschäfts- oder branchenerfahren er ist, umso eher wird eine Klausel für ihn ungewöhnlich sein (Urteil 4A_499/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 3.3.3). So können branchenübliche Klauseln für einen Branchenfremden ungewöhnlich sein, für einen Branchenkenner demgegenüber nicht (BGE 138 III 411 E. 3.1; BGE 119 II 443 E. 1a). Branchenkenntnis oder Geschäftserfahrung schliesst aber die Ungewöhnlichkeit nicht zwingend aus. Auch für einen Branchenkundigen oder Geschäftserfahrenen kann eine AGB-Klausel unterBGE 148 III 57 (60) BGE 148 III 57 (61)Umständen ungewöhnlich sein (Urteil 4A_499/2018 vom 10. Dezember 2018 E. 3.3.3).
2.1.3.3 Neben der subjektiven Ungewöhnlichkeit hat die fragliche Klausel objektiv beurteilt einen geschäftsfremden Inhalt aufzuweisen, damit die Ungewöhnlichkeitsregel zur Anwendung gelangt. Sie hat mithin objektiv ungewöhnlich zu sein. Dies ist dann zu bejahen, wenn sie zu einer wesentlichen Änderung des Vertragscharakters führt oder in erheblichem Masse aus dem gesetzlichen Rahmen des Vertragstypus fällt. Je stärker eine Klausel die Rechtsstellung des Vertragspartners beeinträchtigt, desto eher ist sie als ungewöhnlich zu qualifizieren (BGE 138 III 411 E. 3.1; BGE 135 III 1 E. 2.1, BGE 135 III 225 E. 1.3).
Bei Versicherungsverträgen sind auch die berechtigten Deckungserwartungen zu berücksichtigen (BGE 138 III 411 E. 3.1; Urteile 4A_232/2019 vom 18. November 2019 E. 2.2; 4A_48/2015 vom 29. April 2015 E. 2.1). Entsprechend kann eine in allgemeinen Versicherungsbedingungen vorgesehene Haftungsbeschränkung als ungewöhnlich qualifiziert werden, wenn der durch die Bezeichnung und Werbung beschriebene Deckungsumfang erheblich reduziert wird, so dass gerade die häufigsten Risiken nicht mehr gedeckt sind (BGE 138 III 411 E. 3.1; Urteile 4A_176/2018 vom 6. August 2018 E. 4.2; 4A_152/2017 vom 2. November 2017 E. 4.3; 4A_187/2007 vom 9. Mai 2008 E. 5.4.2; 5C.134/2004 vom 1. Oktober 2004 E. 4.2; 5C.53/2002 vom 6. Juni 2002 E. 3.1).
2.1.3.4 Das Bundesgericht prüft die Anwendung der Ungewöhnlichkeitsregel als Rechtsfrage frei (Art. 106 Abs. 1 BGG; BGE 142 V 466 E. 6.2; BGE 140 V 50 E. 2.3). Es ist dabei an die Feststellungen der kantonalen Gerichte über die äusseren Umstände sowie das Wisen und Wollen der Beteiligten grundsätzlich gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 138 III 411 E. 3.4).
BGE 148 III 57 (61) BGE 148 III 57 (62)Dabei ist vom Wortlaut der Erklärungen auszugehen, welche jedoch nicht isoliert, sondern aus ihrem konkreten Sinngefüge heraus zu beurteilen sind (BGE 146 V 28 E. 3.2; BGE 142 III 671 E. 3.3; BGE 140 III 391 E. 2.3). Auch wenn der Wortlaut auf den ersten Blick klar erscheint, darf es also nicht bei einer reinen Wortauslegung sein Bewenden haben (BGE 131 III 606 E. 4.2; BGE 130 III 417 E. 3.2; BGE 129 III 702 E. 2.4.1; BGE 127 III 444 E. 1b). Vielmehr sind die Erklärungen der Parteien so auszulegen, wie sie nach ihrem Wortlaut und Zusammenhang sowie den gesamten Umständen verstanden werden durften und mussten (BGE 146 V 28 E. 3.2; BGE 145 III 365 E. 3.2.1; BGE 144 III 327 E. 5.2.2.1).
Das Gericht hat auch den vom Erklärenden verfolgten Regelungszweck zu beachten, wie ihn der Erklärungsempfänger in guten Treuen verstehen durfte und musste (BGE 146 V 28 E. 3.2; BGE 142 III 671 E. 3.3; BGE 140 III 391 E. 2.3). Für die Auslegung einer von der einen Vertragspartei aufgesetzten Vertragsbestimmung ist demnach entscheidend, welches Regelungsziel die andere Vertragspartei darin als redliche Geschäftspartnerin vernünftigerweise erkennen durfte und musste (Urteile 4A_203/2019 vom 11. Mai 2020 E. 3.3.2.2., nicht publ. in: BGE 146 III 254; 4A_652/2017 vom 24. August 2018 E. 5.1.2; 4C.443/1996 vom 26. März 1997 E. 2a). Dabei ist für den Regelfall anzunehmen, dass der Erklärungsempfänger davon ausgehen durfte, der Erklärende strebe eine vernünftige, sachgerechte Regelung an (Urteile 4A_652/2017 vom 24. August 2018 E. 5.1.2; 4C.443/ 1996 vom 26. März 1997 E. 2a).
Das Bundesgericht überprüft diese objektivierte Auslegung von Wilenserklärungen als Rechtsfrage, wobei es an Feststellungen des kantonalen Gerichts über die äusseren Umstände sowie das Wissen und Wollen der Beteiligten grundsätzlich gebunden ist (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 146 V 28 E. 3.2; BGE 144 III 93 E. 5.2.3; BGE 142 III 671 E. 3.3).
Die Unklarheitsregel kommt jedoch nur subsidiär zur Anwendung, wenn sämtliche übrigen Auslegungsmittel versagen (BGE 133 III 61 E. 2.2.2.3; BGE 122 III 118 E. 2a und E. 2d; Urteile 4A_279/2020 vom 23. Februar 2021 E. 6.2; 4A_81/2020 vom 2. April 2020 E. 3.1). Es genügt mithin nicht, dass die Parteien über die Bedeutung einer Erklärung streiten, sondern es ist vorausgesetzt, dass die Erklärung nach Treu und Glauben auf verschiedene Weise verstanden werden kann (BGE 118 II 342 E. 1a) und es nicht möglich ist, den Zweifel mit den übrigen Auslegungsmitteln zu beseitigen (Urteile 4A_92/ 2020 vom 5. August 2020 E. 3.2.2; 4A_186/2018 vom 4. Juli 2019 E. 4.1; 4A_152/2017 vom 2. November 2017 E. 4.2).
Wie die Anwendung der Ungewöhnlichkeitsregel prüft das Bundesgericht die Anwendung der Unklarheitsregel als Rechtsfrage frei (dazu E. 2.1.3.4).BGE 148 III 57 (63)