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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Die Beschwerdeführerin rügt eine fehlerhafte Anwendu ...
Erwägung 3.1
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
10. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
4A_496/2021 vom 3. Dezember 2021
 
 
Regeste
 
Art. 731b Abs. 1 OR; Art. 699 Abs. 2 OR; Art. 710 Abs. 1 OR; nicht durchgeführte Generalversammlung; Ende des Verwaltungsratsmandats.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 III 69 (70)A.
A.a Die B. AG (Beschwerdegegnerin) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in U. und einem Aktienkapital von Fr. 999'999.- bestehend aus 999'999 Namenaktien à Fr. 1.-. Sie vermarktet Rohrverbindungselemente, die in der Fernwärme, in der Klimatechnik, im Anlagebau sowie in der Gas- und Ölindustrie verwendet werden.
Die A. AG (Beschwerdeführerin) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in U. Ihr Aktienkapital von Fr. 100'000.- besteht aus 100'000 Namenaktien mit einem Nennwert von Fr. 1.-. Sie wurde 2017 als Joint Venture von der Beschwerdegegnerin und zwei chinesischen Geschäftsleuten gegründet und hat die Realisierung von lukrativen Geschäften in der Volksrepublik China zum Ziel.
Gemäss dem Gründungsbericht vom 28. Juni 2017 sind als Gründer und Aktionäre folgende Personen aufgeführt:
- Die Beschwerdegegnerin mit 51'000 Namenaktien zu je Fr. 1.-,
- C. mit 24'500 Namenaktien zu je Fr. 1.- und
- D. mit 24'500 Namenaktien zu je Fr. 1.-.
Als Verwaltungsräte der Beschwerdegegnerin werden im Gründungsbericht folgende Personen genannt:
- E. (Präsident)
- F. (Vizepräsident)
- C. (Mitglied)
- D. (Mitglied)
An einer ausserordentlichen Generalversammlung vom 8. November 2017 wurde der Rücktritt von F. als Vizepräsident des Verwaltungsrates bekannt gegeben. An dessen Stelle wurde G. in den Verwaltungsrat gewählt.BGE 148 III 69 (70)
BGE 148 III 69 (71)An einer weiteren ausserordentlichen Generalversammlung vom 16. April 2019 wurden E. und D. aus dem Verwaltungsrat abberufen, G. und C. bestätigt und neu H. und I. gewählt. Der Verwaltungsrat der Beschwerdeführerin setzte sich demnach ab dem 16. April 2019 wie folgt zusammen:
- H. (Präsident)
- G. (Mitglied)
- C. (Mitglied)
- I. (Mitglied)
Bereits am 16./17. September 2019 traten H. und I. wieder aus dem Verwaltungsrat zurück. Ab diesem Zeitpunkt setzt sich der Verwaltungsrat der Beschwerdeführerin wie folgt zusammen:
- G. (Präsident)
- C. (Mitglied)
A.b Mit Schreiben vom 12. April 2021 wies die Beschwerdegegnerin die Beschwerdeführerin darauf hin, dass die letzte - ausserordentliche - Generalversammlung am 16. April 2019 stattgefunden habe. Da nie eine ordentliche Generalversammlung stattgefunden habe, sei den Aktionären auch nie eine Jahresrechnung der beiden einzigen Geschäftsjahre 2018 und 2019 präsentiert worden. Aus diesem Grund verlangte die Beschwerdegegnerin die unverzügliche Einberufung der ordentlichen Generalversammlungen für die Geschäftsjahre 2018 und 2019; ferner sei eine Revisionsstelle zu bestellen (Durchführung einer ordentlichen Revision) und es sei Auskunft über die Investitionen der Gesellschaft in der Volksrepublik China zu erteilen.
Eine Einladung zu einer Generalversammlung blieb aus.
B. Am 21. Mai 2021 gelangte die Beschwerdegegnerin an das Handelsgericht des Kantons Zürich und verlangte im Wesentlichen die Einsetzung eines Sachwalters, dessen Amtsdauer zeitlich zu befristen und als beendet zu erklären sei, wenn und sobald eine ausserordentliche Generalversammlung inkl. Traktanden und Beschlussanträge (Wahl der Revisionsstelle; Auskunftserteilung über die Investitionen und Geschäftsbeziehungen der Gesellschaft in der Volksrepublik China) durchgeführt und ein Verwaltungsrat und eine Revisionsstelle ernannt und im Handelsregister eingetragen sind. Es sei für die Beschwerdeführerin eine ausserordentliche Generalversammlung mit mindestens den genannten Traktanden und Beschlussanträgen einzuberufen.BGE 148 III 69 (71)
BGE 148 III 69 (72)Mit Urteil vom 13. August 2021 hiess der Einzelrichter das Gesuch gut und setzte für die Beschwerdeführerin einen Sachwalter ein. Ziffer 3 des Dispositivs beauftragt den Sachwalter, eine Generalversammlung der Beschwerdeführerin ordnungsgemäss einzuberufen und durchzuführen und namentlich folgende Geschäfte zu traktandieren: Wahl des Verwaltungsrates, Wahl der Revisionsstelle, allfällige weitere Traktanden, die im Zusammenhang mit der Wahl des Verwaltungsrates und der Revisionsstelle stehen, bleiben vorbehalten. Das Amt des Sachwalters endet mit der Durchführung der Generalversammlung gemäss Dispositiv-Ziffer 3. Der Einzelrichter begründete die Gutheissung damit, dass ein Organisationsmangel wegen Fehlens des Verwaltungsrates vorliege, weshalb die erforderlichen Massnahmen nach Art. 731b OR zu treffen seien.
C. Die Beschwerdeführerin beantragt dem Bundesgericht mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Handelsgerichts vom 13. August 2021 aufzuheben und das Gesuch der Beschwerdegegnerin vollumfänglich abzuweisen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)
 
Zu entscheiden ist mithin die Frage, ob die Verwaltungsräte auch nach Ablauf von sechs Monaten nach dem letzten Geschäftsjahr ihrer Amtszeit weiter im Amt bleiben, wenn entgegen Art. 699 Abs. 2 OR innert dieser sechs Monate keine Generalversammlung durchgeführt oder die Wahl des Verwaltungsrates nicht traktandiert wurde.
In der Doktrin sind die Meinungen geteilt:
 
Erwägung 3.1
 
3.1.1 Ein Teil der Lehre nimmt bei unterlassener oder vergessener Wahl des Verwaltungsrates an, dass das Verwaltungsratsmandat bis zur nächsten Generalversammlung, an welcher Wahlen durchgeführt werden, fortbestehe bzw. sich dieses stillschweigendBGE 148 III 69 (72) BGE 148 III 69 (73)verlängere (FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ/NOBEL, Schweizerisches Aktienrecht, 1996, § 27 Rz. 36 Satz 2; BRIGITTE TANNER, in: Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 2018, N. 11 zu Art. 705 OR; WERNLI/RIZZI, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. II, 5. Aufl. 2016, N. 3a zu Art. 710 OR; GEORG KRNETA, Praxiskommentar Verwaltungsrat, 2. Aufl. 2005, N. 404 zu Art. 710 OR; PATRICK STACH, in: OR, Kommentar, Jolanta Kren Kostkiewicz und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 8 zu Art. 710 OR; JEANNETTE WIBMER, in: Aktienrecht, Kommentar, Jeanette Wibmer [Hrsg.], 2016, N. 2 zu Art. 710 OR; PLÜSS/FACINCANI-KUNZ, in: Handkommentar zum Schweizer Privatrecht, Plüss/Trüeb [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 7 zu Art. 710 OR; DRUEY/DRUEY JUST/GLANZMANN, Gesellschafts- und Handelsrecht, 12. Aufl. 2021, § 13 Rz. 72; MÜLLER/LIPP/PLÜSS, Der Verwaltungsrat, 5. Aufl. 2021, Rz. 1.233 ff.). Mit Ausnahme der zuletzt genannten Literaturstelle (vgl. dazu E. 3.4) verweisen diese Autoren zur Begründung ihrer Ansicht im Wesentlichen aber lediglich auf entsprechende Meinungen anderer Autoren oder einen Entscheid des (früheren) Zürcher Kassationsgerichts (ZR 97/1998 Nr. 38).
BGE 148 III 69 (73) BGE 148 III 69 (74)Werde die Wahl nicht getroffen und fungiere der Verwaltungsrat trotzdem weiter, so handle er als faktisches Organ (BÖCKLI, a.a.O., § 13 N. 58 in fine; TRAUTMANN/VON DER CRONE, a.a.O., S. 465 f.; SUNARIC, a.a.O., N. 5 zu Art. 710 OR). Dies ist namentlich im Hinblick auf die (ebenfalls fortbestehende) Verantwortlichkeit des so handelnden Verwaltungsrates von Bedeutung.
In BGE 140 III 349 E. 2 hielt es fest, dass ein Organisationsmangel vorliegt, wenn eine Pattsituation im Aktionariat die Wahl eines obligatorischen Gesellschaftsorgans verhindert. Eine Statutenbestimmung, die zur Vermeidung einer allfälligen Blockadesituation im Aktionariat eine automatische Wiederwahl der Verwaltungsräte vorsieht, widerspreche dem unübertragbaren Recht der Generalversammlung, die Mitglieder des Verwaltungsrates zu wählen, und wäre demnach nichtig (vgl. Art. 706b Ziff. 3 OR). Erwähnt, aber nicht beantwortet hat das Bundesgericht in BGE 140 III 349 die hier interessierende Frage, ob das Verwaltungsratsmandat auch endet, wenn keine Generalversammlung durchgeführt oder die Wahl des Verwaltungsrats nicht traktandiert wurde (E. 2.5). Auch in einem späteren Entscheid hat das Bundesgericht die Frage unter Verweis auf BGE 140 III 349 offengelassen (Urteil 4A_141/2020 vom 4. September 2020 E. 3.1).
Einige Entscheide, in denen das Bundesgericht diese Frage zwar ebenfalls nicht explizit behandelte, sprechen gegen eine stillschweigende Verlängerung: So hat das Bundesgericht im Urteil 4A_507/2014 vom 15. April 2015 E. 5.1 ausgeschlossen, eine stillschweigende Verlängerung des Verwaltungsratsmandats anzunehmen, wenn der Verwaltungsrat die Einberufung der Generalversammlung verhindert, um dadurch sein Mandat zu bewahren. Im Urteil 4A_279/2018BGE 148 III 69 (74) BGE 148 III 69 (75)vom 2. November 2018 E. 5 ging das Bundesgericht implizit davon aus, dass das Verwaltungsratsmandat bei unterbliebener Wahl sechs Monate nach Ablauf des Geschäftsjahres ende. Im Urteil 4A_380/2020 vom 25. August 2020 E. 5 bestätigte es die vorinstanzliche Annahme eines Organisationsmangels infolge unterlassener Durchführung einer Generalversammlung und Wahl des Verwaltungsrates.
3.3 Im Anschluss an die zitierten Urteile ist die hier zu entscheidende Frage im Sinne desjenigen Teils der Lehre zu beantworten, der bei unterlassener Generalversammlung oder unterbliebener Wahl des Verwaltungsrates die Fortdauer bzw. eine stillschweigende Verlängerung des Verwaltungsratsmandats ausschliesst. Genauso wie eine Statutenbestimmung, die zur Vermeidung einer allfälligen Blockadesituation im Aktionariat eine automatische Wiederwahl der Verwaltungsräte vorsieht, dem unübertragbaren Recht der Generalversammlung, die Mitglieder des Verwaltungsrates zu wählen (Art. 698 Abs. 2 Ziff. 2 OR), widerspricht, genauso würde diese unentziehbare Kompetenz der Generalversammlung unterlaufen, wenn der Verwaltungsrat sein Mandat durch Nichteinberufung der Generalversammlung verlängern könnte. Dies wäre umso stossender, wenn die Wahl nicht bloss vergessen, sondern mit dem Ziel, das Amt zu behalten, verhindert wird. In BGE 140 III 349 hat das Bundesgericht grossen Wert darauf gelegt, dass der Willenskundgebung der Generalversammlung Rechnung getragen wird, indem das Amt endet, wenn die Wahl wegen einer Pattsituation nicht zustande kommt (E. 2.6). Im gleichen Sinne muss gefordert werden, dass die Generalversammlung ihr Wahlrecht durch explizite Willenskundgebung wahrnehmen kann, und somit eine Fortsetzung des Verwaltungsratsmandats nur bei positiver Willensäusserung greift. Wie der vorliegende Fall aufzeigt, können andernfalls die Aktionäre ihr Wahlrecht nicht ausüben, wenn der Verwaltungsrat sich weigert, eine Generalversammlung einzuberufen, bzw. sie müssen den Gang zum Gericht nehmen, sofern sie die erforderliche Beteiligung aufweisen (Art. 699 Abs. 4 OR).
So ist der gute Glaube Dritter in den Handelsregistereintrag nicht gefährdet. Sie dürfen grundsätzlich auf den HandelsregistereintragBGE 148 III 69 (75) BGE 148 III 69 (76)vertrauen, soweit ihnen nicht positiv bekannt ist, dass die Amtszeit der eingetragenen Mitglieder geendet hat (Art. 936b Abs. 3 OR).
Ebenso bleiben die Gesellschaft, Aktionäre und Gesellschaftsgläubiger geschützt, weil die Verantwortlichkeit nach Art. 754 OR auch für als faktische Organe (vgl. BGE 146 III 37 E. 6.1; BGE 128 III 29 E. 3a) handelnde Verwaltungsräte fortbesteht.
Die Beschwerdeführerin befürchtet, dass bei Beendigung des Mandats nach Ablauf von sechs Monaten seit Schluss des Geschäftsjahres die Gesellschaft in einer Vielzahl von Fällen handlungsunfähig würde. Deshalb müsse sich das Mandat verlängern. Dem kann nicht gefolgt werden. Zum einen ist weder notorisch noch dargetan, dass effektiv eine grosse Zahl von Aktiengesellschaften die Generalversammlung nach Art. 699 Abs. 2 OR nicht durchführt oder die Wahl nicht traktandiert. Zum andern haben es die Verwaltungsräte in der Hand, dieser Folge durch ordnungsgemässe Durchführung der Generalversammlung vorzubeugen. Im Konfliktfall bleibt der Gang zum Gericht möglich. Schliesslich ist zu diesem Argument in grundsätzlicher Hinsicht zu bemerken, dass eine unliebsame Konsequenz einer regelwidrigen Situation (i.c. Nichtdurchführung der ordentlichen Generalversammlung nach Art. 699 Abs. 2 OR) dieselbe nicht zu legitimieren vermag, sondern vielmehr durch Beachtung der gesetzlichen Vorschriften zu verhindern ist.