44. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. Ltd gegen Bank B. AG (Beschwerde in Zivilsachen) | |
4A_525/2021 vom 28. April 2022 | |
Regeste | |
Art. 59 Abs. 2 lit. e ZPO; materielle Rechtskraft; Präklusion.
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Sachverhalt | |
Aufgrund von heftigen Marktturbulenzen kam es im August 2018 zu erheblichen Wertschwankungen der von der A. Ltd. bei der Bank B. AG gehaltenen Devisenpositionen. Dies führte am 10. August 2018 zu einer Unterdeckung des Kontos der A. Ltd. Die Bank B. AG erliess deshalb gleichentags (am 10. August 2018) einen Margin Call (Forderung zusätzlicher Sicherheiten), welchem die A. Ltd. indes keine Folge leistete. Daraufhin kündigte die Bank B. AG die Bankbeziehung, stellte die von der A. Ltd. gehaltenen Positionen zum Preis von EUR 46'325'500.- glatt und liquidierte die verbleibenden Positionen. Die Liquidationsbeträge belastete sie dem Kontokorrent der A. Ltd., was zu einem Negativsaldo von EUR 17'080'021.86 führte.
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A.b Am 18. April 2019 reichte die Bank B. AG beim Handelsgericht des Kantons Zürich eine Klage ein, mit der sie von der A. Ltd. die Bezahlung dieses Negativsaldos verlangte (nachfolgend: Erstprozess). Die A. Ltd. liess sich während des gesamten Verfahrens nicht vernehmen.
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Mit Urteil vom 31. Januar 2020 hiess das Handelsgericht die Klage gut und verurteilte die A. Ltd., der Bank B. AG EUR 17'080'021.86 nebst Zins zu bezahlen (nachfolgend: Ersturteil). Es erwog, die A. Ltd. sei vertraglich verpflichtet gewesen, die Unterdeckung auszugleichen. Die Bank B. AG sei ihrerseits vertraglich berechtigt gewesen, im Falle der Nichtausgleichung der Unterdeckung den Vertrag zu beenden und die Vermögenswerte zu liquidieren. Die A. Ltd. treffe die Pflicht, den so entstandenen Minussaldo (EUR 17'080'021.86) zu bezahlen.
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Das Urteil blieb unangefochten.
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Zur Begründung führte die A. Ltd. Folgendes aus: Es handle sich um eine Klage auf Schadenersatz aus Vertragsverletzung. Die Bank B. AG habe ihr am 10. August 2018 pflichtwidrig Optionspreise gestellt, die nicht marktgerecht/fair gewesen seien. Dies habe es ihr (der A. Ltd.) verunmöglicht, die Optionen glattzustellen. Stattdessen habe die Bank B. AG die Positionen später - am 13. August 2018 - selbst (und zu wesentlich ungünstigeren Konditionen) im Namen der A. Ltd. glattgestellt und hierfür EUR 46'325'500.- verrechnet. Wären von der Bank B. AG zuvor marktgerechte/faire und damit vertragskonforme Preise angeboten worden, hätten die Optionen am 10. August 2018 zum Preis von lediglich EUR 27'776'758.35 glattgestellt werden können. Dies habe zu einem Gesamtschaden von EUR 18'548'741.65 geführt (Differenz von EUR 46'325'500.- und EUR 27'776'758.35). Davon klage sie nun einen Teil (EUR 90'003.-) ein.
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Die Bank B. AG erhob die Einrede der abgeurteilten Sache.
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Mit Beschluss vom 3. September 2021 trat das Handelsgericht gestützt auf Art. 59 Abs. 2 lit. e ZPO auf die Klage nicht ein. Die Sache sei mit Urteil vom 31. Januar 2020 bereits rechtskräftig entschieden worden.
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(...)
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Das Bundesgericht heisst die von der A. Ltd. erhobene Beschwerde in Zivilsachen gut, soweit es darauf eintritt.
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(Auszug)
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Erwägung 5.3 | |
5.3.1 Eigentliches Thema dieses Verfahrens ist die Präklusionswirkung des Ersturteils (siehe WEBER/OBERHAMMER, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 3. Aufl. 2021, N. 45 zu Art. 236 ZPO;grundlegend MAX GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 1979, S. 379 f.). Handelsgericht und Beschwerdegegnerin diskutieren bei Lichte besehen nicht, ob das Ersturteil die vorliegend erhobene Klage der Beschwerdeführerin im Sinne von Art. 59 Abs. 2 lit. e ZPO ("Ausschlusswirkung") grundsätzlich verbietet. Denn hierfür fehlte es von vornherein an übereinstimmenden Klageanträgen. Sie untersuchen und bejahen einzig die Frage, ob die (behauptete) Schadenersatzforderung der Beschwerdeführerin "thematisch" derart eng mit dem im Erstprozess beurteilten Erfüllungsanspruch zusammenhängt, dass sie als "Verteidigungsmittel" in den Erstprozess bei sonstiger Verwirkungsfolge hätte eingebracht werden müssen.
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Eine Ausnahme vom soeben Ausgeführten gilt einzig im Falle der Verrechnung: Nach der Rechtsprechung erstreckt sich die materielle Rechtskraft auf eine vom Gericht behandelte Verrechnungsforderung, obwohl sich deren Beurteilung nicht aus dem Dispositiv, sondern nur aus der Begründung ergibt (Urteile 4A_611/2014 vom 26. Februar 2015 E. 1.3.3; 5A_51/2013 vom 10. November 2014 E. 3.3; 4A_568/2013 vom 16. April 2014 E. 2.2 am Ende). Die Beschwerdeführerin - die im Erstprozess säumig war - hatte ihren (angeblichen) Schadenersatzanspruch damals nicht verrechnungsweise geltend gemacht.
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5.3.4 Im Übrigen scheint auch aus einem anderen Grund fraglich, ob die Beschwerdegegnerin mit ihrem Argument, sie hätte den nun eingeklagten Schadenersatzanspruch im Erstprozess zum Thema gemacht, durchzudringen vermöchte. Denn Präklusion von Tatsachen setzt voraus, dass sie im Erstprozess hätten erheblich sein können (vgl. LORENZ DROESE, Res iudicata ius facit, 2015, S. 242): Es kann einer Partei im Zweitprozess nicht vorgehalten werden, sie hätte eine Tatsache oder einen Einwand im Erstprozess bei sonstiger Präklusion einbringen müssen, wenn das betreffende Verteidigungsmittel im Erstprozess nichts zur Sache tat, mithin irrelevant war. Die Beschwerdegegnerin verweist in diesem Zusammenhang auf Rz. 59-72 ihrer Klageschrift im Erstprozess. In der Tat machte sie dort unter dem Titel "5. Exkurs" Ausführungen zur Frage, ob sie sich am 10. August 2018 vertragswidrig verhalten habe. Sie schliesst diesen "Exkurs" in Rz. 72 indes mit der Bemerkung, dass dies "[l]etztlich [...] alles jedoch irrelevant" sei. "Entscheidend" sei "einzig", dass die Beschwerdeführerin trotz Unterdeckung keine weitere Deckung beigebracht habe; auf die Vertragskonformität ihres Verhaltens am 10. August 2018 betreffend das Angebot zur Glattstellung der Optionen komme es mit anderen Worten nicht an. Dementsprechend hat das Handelsgericht im Ersturteil darauf mit keinem Wort Bezug genommen, wie im angefochtenen Beschluss denn auch eingeräumt wird. Das Handelsgericht erachtete es im Ersturteil als allein ausschlaggebend, dass eine Unterdeckung bestand (unbesehen der Gründe, die zu dieser Unterdeckung geführt hatten), und dass diese Unterdeckung - ungeachtet der weiteren Umstände - nach den anwendbaren Verträgen von der Beschwerdeführerin auszugleichen war. Gestützt darauf schloss die Vorinstanz auf Gutheissung der Klage. Der Einwand, die Beschwerdegegnerin habe pflichtwidrig Optionspreise gestellt, hätte am Ausgang des Erstprozesses - so selbst die Beschwerdegegnerin im damaligen Verfahren - nichts geändert, sei doch allein die eingetretene Unterdeckung massgebend gewesen. Auch vor diesem Hintergrund ist zweifelhaft, ob der Beschwerdeführerin die Geltendmachung ihres (angeblichen) Schadenersatzanspruchs unter Hinweis auf die materielle Rechtskraft des Ersturteils respektive dessen Präklusionswirkung verwehrt werden kann.
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