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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 11.4
Bearbeitung, zuletzt am 14.06.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
10. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A.A. und B.A. gegen C. AG (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
4A_333/2022 vom 9. November 2022
 
 
Regeste
 
Art. 117 lit. a ZPO; unentgeltliche Rechtspflege; Mittellosigkeit; Sozialhilfebezug.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 149 III 67 (67)Mit Gesuch vom 2. März 2021 beantragte die C. AG (Gesuchstellerin, Beschwerdegegnerin) dem Bezirksgericht Aarau die Ausweisung der Ehegatten A.A. und B.A. (Gesuchsgegner, Beschwerdeführer) aus den Mieträumlichkeiten im Verfahren des Rechtsschutzes in klaren Fällen (Art. 257 ZPO).
Am 12. Mai 2021 trat die Präsidentin des Bezirksgerichts auf das Ausweisungsgesuch nicht ein.
Mit Entscheid vom 22. Juli 2021 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung der Gesuchstellerin ab. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Bundesgericht mit Urteil 4A_452/2021 vom 4. Januar 2022 gut. Es wies die Sache zur Neubeurteilung an das Obergericht zurück.BGE 149 III 67 (67)
BGE 149 III 67 (68)Mit Entscheid vom 22. Juli 2022 hiess das Obergericht die Berufung und das Ausweisungsgesuch gut. Die Anträge der Gesuchsgegner um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege für das erstinstanzliche Verfahren und für das Berufungsverfahren wies es mangels Bedürftigkeitsnachweis ab, und es auferlegte ihnen die Prozesskosten des erst- und des zweitinstanzlichen Verfahrens. Es hielt dafür, dass eine Bestätigung über den Empfang von Sozialhilfeleistungen kein hinreichender Nachweis für die armenrechtliche Mittellosigkeit sei.
Das Bundesgericht weist die von den Gesuchsgegnern erhobene Beschwerde in Zivilsachen ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
 
 
Erwägung 11.4
 
Dies wird in der Tat im Schrifttum vereinzelt vertreten (ALFRED BÜHLER, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 24 zu Art. 117 ZPO; JEAN-LUC COLOMBINI, in: CPC, Code de procédure civile, Chabloz/Dietschy-Martenet/Heinzmann [Hrsg.], 2021, N. 20 zu Art. 117 ZPO; INGRID JENT-SØRENSEN, in: ZPO, Oberhammer/Domej/Haas [Hrsg.], 3. Aufl. 2021, N. 16 zu Art. 117 ZPO).
Allein, so einfach liegen die Dinge nicht:
Erstens sind die Gerichtsbehörden bei der Beurteilung der zivilprozessualen Bedürftigkeit nicht bedingungslos an den Entscheid einer Verwaltungsbehörde über sozialrechtliche staatliche Unterstützungsleistungen gebunden. Zweitens setzt Art. 119 Abs. 2 ZPO - wie erwähnt - voraus, dass die von den Ansprechern eingegebenen Belege umfassend Aufschluss über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse sowie sämtliche finanziellen Verpflichtungen geben. Ob eine Bestätigung über den Bezug von Sozialhilfe diesen Anforderungen im Einzelfall genügt, lässt sich nicht allgemein beantworten, sondern hängt von einer Prüfung der konkreten UmständeBGE 149 III 67 (68) BGE 149 III 67 (69)und der eingereichten Unterlagen ab. So ist auch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu verstehen (vgl. Urteile 4A_696/2016 vom 21. April 2017 E. 3.2; 4D_19/2016 vom 11. April 2016 E. 5.5; 5A_761/2014 vom 26. Februar 2015 E. 3.4.1 f.; 8C_58/2014 vom 24. September 2014 E. 7.3; 9C_606/2013 vom 7. März 2014 E. 2.1.3; 4A_286/2013 vom 21. August 2013 E. 2.9 am Ende; siehe im Übrigen Urteile 5A_1012/2020 vom 3. März 2021 E. 3.3; 4A_44/2018 vom 5. März 2018 E. 5.4; anders allerdings Urteil 5A_327/2017 vom 2. August 2017 E. 6.2). Dieses Verständnis liegt auch jenem Teil der Doktrin zugrunde, welcher dafür hält, dass aus "dem blossen Bezug von Sozialhilfe [...] nicht auf Bedürftigkeit geschlossen werden [dürfe], ohne dass die erforderlichen Angaben und Unterlagen vorliegen" (FRANK EMMEL, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger[Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 4 zu Art. 117 ZPO;RÜEGG/RÜEGG, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2017, N. 7 zu Art. 117 ZPO), respektive dass der Sozialhilfebezug "zwar als Indiz für eine Mittellosigkeit i.S. der ZPO herhalten [vermöge],für sich alleine und ohne weitere Prüfung der konkreten Verhältnisse jedoch nicht als Nachweis der Prozessarmut [genüge]"(LUKAS HUBER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Kommentar, Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Bd. I, 2. Aufl. 2016,N. 16 zu Art. 117 ZPO; sinngemäss auch WUFFLI/FUHRER, Handbuch unentgeltliche Rechtspflege im Zivilprozess, 2019, S. 89 f. Rz. 254 und S. 285 Rz. 795). Es ist denn auch keineswegs ausgeschlossen, dass für Sozialhilfebezüger bei der zivilprozessualen Einkommens- und Notbedarfsberechnung Überschüsse resultieren, welche zur Deckung der Prozesskosten aufgewendet werden können (Urteil 4D_19/2016 vom 11. April 2016 E. 5.5), woran der Grundsatz nichts ändert, dass die Sozialhilfe nicht für die Bezahlung von Prozesskosten bestimmt ist.BGE 149 III 67 (70)