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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. (...) ...
Erwägung 3.4
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48. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A.A. und B.A. gegen C. (Beschwerde in Zivilsachen)
 
 
5A_955/2022 vom 26. Mai 2023
 
 
Regeste
 
Art. 738 ZGB; Auslegung eines gegenseitigen Näherbaurechts im Verhältnis zu Dritten, die an der Errichtung der Dienstbarkeit nicht beteiligt waren.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 149 III 400 (401)A.
A.a A.A. und B.A. sind seit dem 12. Februar 2015 je hälftige Miteigentümer der Liegenschaften U. Gbbl. Nrn. x, y und z; C. ist seit dem 1. Juni 2011 Eigentümer der Nachbarliegenschaft U. Gbbl. Nr. q. Im Grundbuch ist ein Näherbaurecht jeweils zugunsten und zulasten der Grundstücke Nrn. q, y und z eingetragen. Gemäss dem öffentlich beurkundeten Dienstbarkeitsvertrag vom 15. Februar 1990 umfasst dieses das Recht, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze zu bauen. Sodann darf auf dem Grundstück Nr. q die Firsthöhe maximal 11,60 m erreichen.
A.b C. verfügt über einen rechtskräftigen Baubewilligungsentscheid für ein Bauprojekt auf seinem Grundstück, gemäss welchem ein Grenzabstand von 110 cm zu den Grundstücken von A.A. und B.A. eingehalten wird.
B. A.A. und B.A. strengten in der Folge ein Verfahren an, um es C. zivilrechtlich verbieten zu lassen, das öffentlich-rechtlich bewilligte Bauvorhaben auszuführen oder ausführen zu lassen. Während ihre Klage vom Kantonsgericht Glarus erstinstanzlich gutgeheissen wurde, wies sie das Obergericht des Kantons Glarus auf Rechtsmittel hin ab (Entscheid vom 4. November 2022).
C. Mit Eingabe vom 8. Dezember 2022 wenden sich A.A. und B.A. (Beschwerdeführer) an das Bundesgericht, dem sie beantragen, den Entscheid des Obergerichts vom 4. November 2022 aufzuheben und den erstinstanzlichen Entscheid des Kantonsgerichts zu bestätigen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
(Zusammenfassung)
 
BGE 149 III 400 (401) BGE 149 III 400 (402)Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 3.4
 
3.5 Der Grundbucheintrag "Näherbaurecht" umfasst das Recht, in einem geringeren als dem gesetzlichen Abstand an die Grenze des Nachbargrundstücks zu bauen, d.h. auf oder unter der Bodenfläche ein Bauwerk zu errichten oder beizubehalten. Im Gegensatz zu denBGE 149 III 400 (402) BGE 149 III 400 (403)gewöhnlichen Baurechtsdienstbarkeiten (Art. 675 Abs. 1 und Art. 779 Abs. 1 ZGB) baut der aus einem Näherbaurecht berechtigte Eigentümer auf seinem eigenen Grundstück und nicht auf dem belasteten Grundstück, und dessen Eigentümer wiederum hat keinen Eingriff in die Substanz seines Grundstücks zu dulden, sondern die Unterschreitung des gesetzlichen Mindestgrenzabstandes durch den berechtigten Eigentümer auf dem Nachbargrundstück (Urteil 5A_377/2017 vom 27. Februar 2018 E. 2.3.2; RIEMER, Die beschränkten dinglichen Rechte, 2. Aufl. 2000, § 13 Rz. 15 S. 77).
Bei einem gegenseitigen Näherbaurecht verpflichten sich die beteiligten Grundeigentümer gegenseitig, ein Gebäude oder einen Gebäudeteil des anderen im Abstandsbereich zu dulden (SCHÜPBACH SCHMID, Das Näherbaurecht in der zürcherischen baurechtlichen Praxis, 2001, S. 55).
3.6.2 Die Sichtweise der Beschwerdeführer (vgl. die nicht publ. E. 3.2) schliesst die beidseitige Umsetzung des Näherbaurechts aus. Damit hätten die seinerzeitigen Vertragsparteien eine unvernünftige, sachwidrige Regelung getroffen. Davon kann indes im Regelfall nicht ausgegangen werden. Der Wortlaut des Dienstbarkeitsvertrags ("räumen sich gegenseitig bezüglich der nachfolgend genannten Grundstücke das Recht ein, bis auf 1 m an die gemeinsame Grenze zu bauen") schliesst das Verständnis der Beschwerdeführer zwar nicht aus, legt es aber auch nicht nahe. Da für den Regelfall anzunehmen ist, dass die ursprünglichen Vertragsparteien eine vernünftige, sachgerechte Regelung angestrebt haben (vgl. die nicht publ. E. 3.3.3), müsste sich aus dem Dienstbarkeitsvertrag und/oder aus anderen (objektivBGE 149 III 400 (403) BGE 149 III 400 (404)erkennbaren) Umständen ergeben, dass sie die Gegenseitigkeit der Einräumung der Näherbaurechte so verstanden haben wollten, wie sie die Beschwerdeführer zu verstehen vorgeben. Die von ihnen postulierte Abrückungspflicht müsste sich mit anderen Worten aus dem Dienstbarkeitsvertrag selber ableiten lassen. Derartiges ergibt sich indes weder aus dem Vertragstext noch aus den weiteren massgeblichen Umständen. Im Gegenteil: Wie sich aus dem Plan ergibt, der dem von den Beschwerdeführern mit ihrer Klage eingereichten Dienstbarkeitsvertrag vom 15. Februar 1990 angeheftet ist, stand im Zeitpunkt des Vertragsschlusses auf der Parzelle Nr. z der Beschwerdeführer das Gebäude Nr. r deutlich innerhalb des gesetzlichen Grenzabstands zur Parzelle Nr. q, und befanden sich auf der Parzelle Nr. q des Beschwerdegegners zwei Gebäudeteile deutlich innerhalb des gesetzlichen Grenzabstands zur Parzelle Nr. y bzw. Nr. z. Diese Umstände deuten auf ein Interesse der seinerzeitigen Vertragsparteien an der Regularisierung des bestehenden Zustandes hin, mehr nicht. So findet insbesondere die Behauptung der Beschwerdeführer, der Dienstbarkeitsvertrag sei zustande gekommen, weil sich die Liegenschaft Nr. q ohne Verkürzung des Grenzabstands praktisch nicht überbauen lasse, keine Grundlage im Vertrag. In diesem Zusammenhang sei der Vollständigkeit halber erwähnt, dass die Beschwerdeführer den Schluss der Vorinstanz, dass es sich um ein generelles - und nicht etwa projektspezifisches - Näherbaurecht handelt, nicht in Frage stellen.
3.6.3 In der Lehre wird für die Auflösung der aus dem Widerspruch zwischen dem (gegenseitigen) Näherbaurecht und baurechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften entstehenden Kollision der gegenseitigen Rechte und Pflichten die Ansicht vertreten, es profitiere der Erst bauende vom Abstandsprivileg und müsse der Zweitbauende weiter von der Grenze abrücken. Insofern präjudiziere der Erstbauende die baulichen Möglichkeiten des Zweitbauenden, weil er nicht nur Dienstbarkeitsbelasteter, sondern gleichzeitig auch Dienstbarkeitsberechtigter ist und somit ein ihm von der Gegenpartei eingeräumtes Recht ausübe (VALLATI, Dienstbarkeiten und Bauvorhaben, 2021, S. 75 Rz. 160; HÜRLIMANN-KAUP/HAGI, Einseitiges Grenzbaurecht: Pflichten des Belasteten, BR 2016 S. 341; SIEGRIST, Tücken im Grenz- und Näherbaurecht, Wohnwirtschaft HEV Aargau Nr. 4/2017 S. 19). Dabei stützen sich die Autoren HÜRLIMANN-KAUP/HAGI und SIEGRIST auf kantonale Rechtsprechung. Dieser Sichtweise ist zu folgen. Ergibt sich weder aus dem Vertragstext selber noch aus den weiterenBGE 149 III 400 (404) BGE 149 III 400 (405)(objektiv erkennbaren) massgeblichen Umständen, dass die Vertragsparteien mit der Einräumung eines gegenseitigen Näherbaurechts eine Abrückungspflicht in dem Sinne vorgesehen haben, dass beide gleichermassen vom gegenseitig eingeräumten Näherbaurecht profitieren können, darf der Erstbauende von seinem Recht Gebrauch machen und kann der nichtbauende Dienstbarkeitsbelastete und -berechtigte die Realisierung der Baute nicht mit dem Argument verhindern, ihm sei wegen öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften die Nutzbarmachung "seines" Näherbaurechts verwehrt.BGE 149 III 400 (405)