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Regeste
Sachverhalt
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 64 StGB kann der Richter die Strafe unter anderem mi ...
2. Im vorliegenden Fall anerkennt das Geschworenengericht mit Bez ...
3. Nach dem ersten Vorkommnis hatte der Beschwerdeführer gen ...
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13. Urteil des Kassationshofes vom 25. Mai 1972 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
 
 
Regeste
 
Art. 64 Abs. 3 StGB.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 98 IV 67 (67)A.- Der 1935 geborene X. heiratete 1968 Frau Y. Diese brachte aus einer aufgelösten ehelichen Verbindung unter anderem das Mädchen A., geb. 9. April 1957, mit in die Ehe. In den Monaten Februar und März 1970 verging sich X., dessen Ehefrau im Krankenhaus weilte, zu fünf verschiedenen Malen an der Stieftochter A., indem er ihre Brüste und ihren Geschlechtsteil betastete und ihr Zungenküsse gab.
In der Zeit zwischen April und Oktober 1970 verkehrte X. mit A. 5 bis 6 Mal geschlechtlich.
B.- Am 5. Januar 1972 verurteilte das Geschworenengericht des Kantons Aargau X. wegen wiederholter Unzucht mit einemBGE 98 IV 67 (67) BGE 98 IV 67 (68)Stiefkinder im Sinne von Art. 191 Ziff. 1 Abs. 2 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB zu 26 Monaten Zuchthaus.
C.- X. führt Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheides und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung. Er sieht die Gesetzesverletzung in der Verweigerung des Strafmilderungsgrundes der "ernstlichen Versuchung" gemäss Art. 64 Abs. 3 StGB.
D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau trägt auf Abweisung der Beschwerde an.
 
a) An dieser Rechtsprechung kann nach erneuter Überprüfung nicht festgehalten werden. Sie verquickt den in Art. 191 StGB verankerten Rechtsschutzgedanken mit der Frage nach dem Verschulden des Täters, wodurch das für die Strafzumessung massgebliche Verschuldensprinzip zum Nachteil desBGE 98 IV 67 (68) BGE 98 IV 67 (69)Täters weitgehend abgeschwächt wird. Eine solche Einschränkung des Anwendungsbereiches von Art. 64 StGB bei einer Straftat nach Art. 191 StGB geht jedoch weder aus dem Gesetzeswortlaut selbst hervor, noch findet sie einen Anhaltspunkt dafür im Willen des Gesetzgebers. In den Beratungen des Nationalrates zu Art. 64 StGB führte der Berichterstatter deutscher Sprache vielmehr aus, die Kommission habe zu den übrigen Strafmilderungsgründen den weiteren Umstand herbeigezogen, dass der Täter ernstlich in Versuchung geführt werden könne, eine Beifügung, die namentlich bei den Sittlichkeitsverbrechen in Betracht kommen dürfte (SEILER, StenBull NR 1928, S. 965).
Aus der Lehre ergibt sich nichts anderes. So führt namentlich HAFTER zu Art. 64 StGB aus, diese Bestimmung gehe von einem Verhalten des Verletzten aus, der den Täter in einem solchen Masse beeinflusst habe, dass dieser der an ihn herangetretenen Versuchung erlegen sei. Eine derartige Situation könne sich namentlich bei gewissen Delikten gegen das Geschlechtsleben, insbesondere beim Tatbestand der Unzucht mit noch nicht 16-Jährigen ergeben. An diese Fälle habe der Gesetzgeber vor allem gedacht (HAFTER, Schweiz. Strafrecht, Allg. Teil, 2. Aufl., S. 363 Ziff. 5 und dortige Hinweise). LOGOZ bemerkt zu der gleichen Frage folgendes:
"... Le juge peut prendre ... en considération toute manière de se comporter par laquelle sa victime aurait tenté gravement l'accusé. Un tel attentat de la victime, par exemple en matière de délit de moeurs, peut justifier une atténuation de la peine infligée au délinquant." (Allg. Teil, S. 278/79, Art. 64 N. 5 A e.)
In ähnlichem Sinne äussert sich SCHWANDER (Schweiz. Strafgesetzbuch, 2. Aufl. N. 390).
Im übrigen wird im Schrifttum in den Ausführungen zu Art. 191 StGB die bisherige Rechtsprechung des Kassationshofes kommentarlos lediglich wiedergegeben (vgl. LOGOZ, Bes. Teil I, S. 310, Art. 191, N. 2; SCHWANDER, a.a.O. N. 641 a).
b) Während der Kassationshof in seinem nichtveröffentlichten Urteil vom 7. Juni 1946 i.S. Clementi noch erklärt hat, die Strafe dürfe selbst dann nicht gemildert werden, wenn der Antrieb vom Kind ausgegangen, der erwachsene Täter also von diesem "verführt" worden sei, wurde in verschiedenen später ergangenen Einzelentscheidungen, unter anderem in BGE 78 IV 81 angenommen, dass von einer Verführung durch das KindBGE 98 IV 67 (69) BGE 98 IV 67 (70)höchstens dann die Rede sein könne, wenn dieses einen ungefähr gleichalten Täter intensiv, raffiniert und andauernd reizt und verlockt und der Täter der Verführung schliesslich erliegt, nachdem er sich längere Zeit gegen sie ernsthaft zur Wehr gesetzt hat.
Diese Rechtsprechung, die die Annahme einer ernstlichen Versuchung im Sinne von Art. 64 StGB bei Sittlichkeitsdelikten nur unter der Voraussetzung der ungefähren Gleichaltrigkeit von Täter und Verletztem zulassen will, verkennt, dass jugendliche Täter ohnehin unter das Jugendstrafrecht fallen, bei welchem nicht Strafen, sondern Massnahmen im Vordergrund stehen. Ob ein Täter in ernstliche Versuchung geführt werden kann, entscheidet sich indessen nicht nach dem Verhältnis seines Alters zu demjenigen des Kindes; vielmehr kommt es einzig und allein darauf an, ob der Widerstandswille des Täters durch das Verhalten des Opfers derart stark geschwächt wird, dass er der Versuchung nicht mehr zu widerstehen vermag.
Ausserdem hat die bisherige Rechtsprechung hinsichtlich des Erfordernisses der andauernden Reizung und Verlockung des Täters durch das Kind übersehen, dass derjenige strafwürdiger erscheint, der sich der Versuchung wiederholt zu erwehren vermochte, also um die in einer bestimmten Situation für ihn entstehenden Gefahren weiss, und sich dennoch zu den Unzuchtshandlungen hinreissen lässt. Demgegenüber erscheint das Verschulden jenes Täters in milderem Lichte, der unvermittelt dem intensiven, raffinierten und aufreizenden Verhalten eines Kindes ausgesetzt ist und der Verführung endlich erliegt, nachdem er sich ernsthaft gegen sie gewehrt hat.
c) Im übrigen ist an der bisherigen Rechtsprechung des Kassationshofes festzuhalten. Das gilt insbesondere vom Grundsatz, dass Art. 64 Abs. 3 StGB bei Unzuchtsdelikten gegenüber Kindern nur dann zur Anwendung kommen kann, wenn der Verletzte den Anstoss zu der strafbaren Handlung gegeben hat, und zwar so ernstlich, dass der Täter für seinen Entschluss, sie zu begehen, nicht voll verantwortlich erscheint. Als Strafmilderungsgrund scheidet demnach zum vornherein jeder Umstand aus, der nicht in einem Verhalten des Verletzten selbst, und zwar in einem Verhalten gerade gegenüber dem betreffenden Täter liegt. Das gilt von der "Versuchung", die lediglich auf die Immoralität oder den physischen Zustand des Täters oder darauf zurückgeht, dass sich diesem eine günstige GelegenheitBGE 98 IV 67 (70) BGE 98 IV 67 (71)zur Begehung der Strafhandlungen bietet (BGE 75 IV 6 Erw. 5).
Der Richter muss im Einzelfall davon überzeugt sein, dass das Kind durch sein aktives Verhalten die Geschlechtslust des Täters objektiv in einem solchen Masse gesteigert hat, dass auch ein gewissenhafter Mann Gefahr gelaufen wäre, der Versuchung zu erliegen. Der fragliche Strafmilderungsgrund wird also da nicht angerufen werden können, wo der Verletzte sich bloss passiv verhielt oder bereit war, dem Ansinnen des haltlosen oder leicht erregbaren Täters nachzugeben.
Aus den Darlegungen des Geschworenengerichts geht nicht hervor, bei welchen der elf festgestellten Vorfälle sich die Verletzte in der geschilderten Art verhielt. Insbesondere ist dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen, ob A. anlässlich des ersten Vorfalles im Februar 1970, der aus noch darzulegenden Gründen allein für die Annahme des angerufenen Strafmilderungsgrundes in Frage kommen kann, sich geschminkt, wie eine erwachsene Frau gekämmt und eine leichte Nachtbekleidung angezogen hatte, als sie sich zum Beschwerdeführer begab. In diesem Punkt stellt die Vorinstanz lediglich fest, die widerrechtlichen Verfehlungen hätten begonnen, als A. zusammen mit dem Angeklagten dem Fernsehprogramm beigewohnt habe; dabei sei es zu Berührungen an den Brüsten und zum AustauschBGE 98 IV 67 (71) BGE 98 IV 67 (72)von Küssen gekommen. Auch die kantonalen Akten enthalten keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Verletzte sich gerade anlässlich des ersten Vorfalls besonders verführerisch zurecht gemacht hätte. Der Beschwerdeführer hat in seiner Einvernahme vom 12. März 1971 erklärt, A. sei meistens mit einem Morgenrock bekleidet gewesen. In der Untersuchung sagte er aus, er wolle nicht behaupten, dass A. bei den Annäherungsversuchen die treibende Kraft gespielt habe.
Ist aber nicht erstellt, dass das Mädchen sich beim ersten Vorfall geschminkt und in einem durchsichtigen Nachthemd, mithin in einer besonders verführerischen Aufmachung neben den Beschwerdeführer gesetzt hat, dann reichen die übrigen festgestellten Handlungen der Verletzten nicht aus, um darin ein den Angeklagten intensiv reizendes Verhalten zu sehen. Dass sich ein Kind zärtlich an seinen Stiefvater schmiegt, ist nichts aussergewöhnliches. Es kann nicht anerkannt werden, dass schon ein solches Verhalten geeignet war, einen pflichtbewussten Mann ernstlich in Versuchung zu führen. Fühlte der Beschwerdeführer sich bereits dadurch sinnlich gereizt und bemerkte er, dass das Mädchen auf weitergehende Intimitäten ausging, so war ihm zuzumuten, das Kind rechtzeitig von sich zu weisen, zumal er von seiner Ehefrau vor der sexuellen Neugier und der Frühreife ihrer Tochter gewarnt worden war. Was den ersten Vorfall im Februar 1970 betrifft, kann sich der Beschwerdeführer somit nicht auf Art. 64 Abs. 3 StGB berufen.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.BGE 98 IV 67 (73)