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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Beschwerdegegner  ...
2. a) Gemäss den Ausführungen im angefochtenen Urteil s ...
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48. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. Oktober 1996 i.S. S. gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
Regeste
 
Ehrverletzung durch die Presse, Entlastungsbeweis (Art. 173 Ziff. 2 und 3 StGB); zivilrechtlicher Persönlichkeitsschutz (Art. 28 ZGB); Unschuldsvermutung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK).
 
Die in der Presse geäusserte Behauptung, jemand habe eine bestimmte strafbare Handlung begangen bzw. sei ein Schwerverbrecher, kann grundsätzlich auch durch ein erst nach der Äusserung gefälltes und in Rechtskraft erwachsenes Strafurteil als wahr bewiesen werden. Offengelassen, wie es sich damit in bezug auf Vorverurteilungen in der Presseberichterstattung über hängige Strafverfahren verhält (E. 2).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 122 IV 311 (312)A.- In den "St. Galler Nachrichten" vom 22. Oktober 1992 und im "Rheintaler Boten" vom gleichen Tag erschien ein Artikel über S. unter der Überschrift: "Die Publicity des Ausbrecherkönigs". Darin wurde S. in verschiedenen Zusammenhängen als "Schwerverbrecher", "Krimineller", "rücksichtsloser, kalter Egoist" bezeichnet, der selten selbst Gewalt angewendet habe. Unter Bezugnahme auf einen vor über 20 Jahren verübten Raubüberfall, an dem S. teilgenommen hatte, wurde erwähnt, dass dabei eine alte Frau gewürgt und mit einer Pistole auf den Kopf geschlagen worden sei, "nicht von S..... allerdings". Schliesslich wurde darauf hingewiesen, dass S. sich immer widerstandslos verhaften lasse, "selbst wenn er eine Waffe bei sich trägt".
S. erachtete im einzelnen folgende Äusserungen als ehrverletzend:
- (1) Schwerverbrecher
- (2) verbrecherische Handschrift
- (3) Schwerkrimineller
- (4) Seine Charakterzüge zeigen indessen eine verbrecherische Ausrichtung ohne Rücksichtnahme auf ...
- (5) verbrecherische Laufbahn
- (6) Seine Laufbahn lässt einen rücksichtslosen, kalten Egoisten erkennen.
- (7) ... dass S..... selten (selbst) Gewalt angewendet hat. Er ist so intelligent, um selbst nicht zu schiessen. Dass er andere für sich als kriminelle Helfer einsetzt, die auch vor einer Gewaltanwendung nicht zurückschrecken ...
- (8) Dabei wurde eine alte Frau gewürgt ...
- (9) ... selbst wenn er eine Waffe bei sich trägt ... B.- Das Bezirksgericht St. Gallen sprach den für den Artikel verantwortlichen Redaktor der "St. Galler Nachrichten" und des "Rheintaler Boten" am 30. Mai 1995 von der Anklage der Ehrverletzung frei. Für die Äusserungen 1-7 hielt es den Wahrheitsbeweis und für die Positionen 8 und 9 den Gutglaubensbeweis als erbracht.
Gegen dieses Urteil reichten sowohl der Kläger S. wie auch der Beklagte W. (dieser beschränkt auf den Kostenpunkt) Berufung ein.BGE 122 IV 311 (312)
BGE 122 IV 311 (313)Am 18. Juli 1996 wies das Kantonsgericht St. Gallen die Berufung von S. ab.
C.- S. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
a) Unter welchen Voraussetzungen eine sogenannte Vorverurteilung durch die Medien unter dem Gesichtspunkt des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes im Sinne von Art. 28 ZGB widerrechtlich ist (siehe dazu FRANZ RIKLIN, Vorverurteilung durch die Medien, recht 1991, S. 65 ff., 75), muss hier nicht geprüft werden. Thema des Entlastungsbeweises im Sinne von Art. 173 Ziff. 2 StGB sind nicht die die Widerrechtlichkeit (gemäss Art. 28 ZGB) betreffenden Umstände, sondern die Wahrheit der Äusserung (Wahrheitsbeweis) bzw. der begründete gute Glaube des Beschuldigten an deren Wahrheit (Gutglaubensbeweis). Erbringt der Beschuldigte den Entlastungsbeweis, so ist er gemäss Art. 173 Ziff. 2 StGB nicht strafbar.BGE 122 IV 311 (313)
BGE 122 IV 311 (314)Er kann daher nicht allein deshalb vom Entlastungsbeweis ausgeschlossen werden, weil die ehrverletzende Äusserung selbst im Falle ihrer Wahrheit unter dem Gesichtspunkt des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes im Sinne von Art. 28 ZGB widerrechtlich ist. Der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz und der strafrechtliche Ehrenschutz decken sich nicht; auch der vom Beschwerdeführer genannte Autor vertritt an der zitierten Stelle (SCHUBARTH, Kommentar zum schweizerischen Strafrecht, Art. 173 StGB N. 139) nicht eine andere Auffassung. Sodann ist das Thema des Gutglaubensbeweises nicht die Wahrheit der ehrverletzenden Äusserung, sondern der begründete gute Glaube an deren Wahrheit. Der Entlastungsbeweis ist allein dann von vornherein ausgeschlossen, wenn der Beschuldigte um die Unwahrheit seiner ehrverletzenden Tatsachenbehauptungen gewusst, die Äusserung also wider besseres Wissen getan hat; Art. 174 StGB (Verleumdung) sieht den Entlastungsbeweis nicht vor.
b) Der Beschwerdegegner versuchte nach den zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Urteil ein Gesamtbild vom Beschwerdeführer zu zeichnen. Hiefür bestand ein öffentliches Interesse, da es sich beim Beschwerdeführer wohl um den bekanntesten Gefangenen der Schweiz handelt und im Zeitpunkt der Veröffentlichung des Zeitungsartikels Strafprozesse gegen ihn in den Kantonen Jura und Wallis bevorstanden. Der Zeitungsartikel ist eine Reaktion auf die vom Beschwerdeführer selbst gesuchte Publizität durch Hungerstreik und Presseveröffentlichungen, in denen dieser unter anderem seine Isolationshaft anprangern liess. Begründete Veranlassung bestand im Gesamtzusammenhang nach der ebenfalls zutreffenden Auffassung der Vorinstanz auch zum Hinweis auf den vom Beschwerdeführer im Jahre 1972 verübten Überfall auf eine Bank in Hinwil, bei dem, allerdings, wie betont wurde, nicht von S., eine alte Frau gewürgt und mit einer Pistole auf den Kopf geschlagen worden sei; denn der Beschwerdeführer selbst hat auch in der jüngsten Vergangenheit wiederholt davon in der Presse berichten lassen. Im Zeitungsartikel werden sodann auch Tatsachen erwähnt, derentwegen der Beschwerdeführer in bestimmten Kreisen gewisse Sympathien geniesst, nämlich dass er selten selbst Gewalt angewendet habe; dass er nicht schiesse; dass er sich widerstandslos verhaften lasse, selbst wenn er eine Waffe auf sich trage; dass er infolge der Haft in seiner physischen und psychischen Gesundheit schwer gezeichnet sei; dass er sich beim Ausbruch eines Mithäftlings zuerst um den blutenden Aufseher gekümmert habe, bevor er selber zu flüchten versucht habe; dass er auf der KanarischenBGE 122 IV 311 (314) BGE 122 IV 311 (315)Insel Gomera als hilfsbereiter Mann und intelligenter Bonvivant gelte usw. Unter anderem daraus erhellt auch, dass der Beschwerdegegner die eingeklagten Äusserungen keineswegs vorwiegend in der Absicht getan hat, dem Beschwerdeführer Übles vorzuwerfen.
c) Die in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerte Unschuldsvermutung berührt nicht die Zulassung zum Entlastungsbeweis, sondern unter Umständen die Frage, mit welchen Mitteln er geführt werden könne bzw. ob er erbracht sei.
Der Beschwerdegegner ist demnach mit Recht zum Entlastungsbeweis zugelassen worden.
b) Der Beschwerdeführer weist darauf hin, dass der Zeitungsartikel wenige Wochen vor der ersten öffentlichen Gerichtsverhandlung erschienen sei. Im Artikel werde es als eine Tatsache hingestellt, dass er ein Schwerverbrecher etc. sei. Damit seien die Öffentlichkeit und die urteilenden Instanzen beeinflusst worden. Diese Vorverurteilung verletze die Unschuldsvermutung. Der Beschwerdeführer macht unter Berufung auf BGE 116 IV 31 E. 5 S. 39 geltend, dass in solchen Fällen unter der gebotenen Berücksichtigung der in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung der Wahrheitsbeweis nicht mit einem erst nach der Äusserung gefällten und in Rechtskraft erwachsenen Strafurteil geführt werden könne. Andernfalls würde das Verbot der Vorverurteilung in der Presse faktisch aus den Angeln gehoben. Deshalb bleibe der Wahrheitsbeweis fürBGE 122 IV 311 (315) BGE 122 IV 311 (316)eine mit der Druckerpresse verbreitete Vorverurteilung ausgeschlossen, und zwar auch dann, wenn der der Ehrverletzung Beschuldigte grundsätzlich zum Entlastungsbeweis gemäss Art. 173 Ziff. 3 StGB zuzulassen sei. Der Wahrheitsbeweis könne daher im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht mit den erst nach den Äusserungen gefällten und in Rechtskraft erwachsenen Urteilen der Gerichte der Kantone Wallis und Jura geführt werden. Eine andere Auslegung von Art. 173 Ziff. 2 StGB würde nach Ansicht des Beschwerdeführers zu willkürlichen Ergebnissen führen. Je nach der Zeitdauer der verschiedenen Verfahren könnte sich der der Ehrverletzung Beschuldigte durch Führung des Wahrheitsbeweises entlasten oder nicht. Eine solche Konsequenz könne nicht auf einer richtigen Auslegung von Art. 173 Ziff. 2 StGB beruhen. Der Beschwerdegegner hätte, wie sich aus BGE 116 IV 31 E. 5 S. 39 ff. ergebe, im Zeitungsartikel klarstellen müssen, dass einstweilen bloss ein Verdacht gegen den Beschwerdeführer bestehe und die Entscheidung der Gerichte offen sei.
c) In BGE 116 IV 31 ff. musste nicht entschieden werden, ob der Wahrheitsbeweis erbracht worden sei. Immerhin wird in E. 4 (S. 39) angemerkt, dass es im Hinblick auf die Unschuldsvermutung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK) gute Gründe für die Rechtsprechung gebe, der Beweis für die Richtigkeit der Behauptung, jemand habe ein Delikt begangen, könne prinzipiell nur durch eine entsprechende Verurteilung erbracht werden. Das Bundesgericht verweist dabei auf BGE 106 IV 115 ff. In diesem Entscheid wird festgehalten, dass der Wahrheitsbeweis im Unterschied zum Gutglaubensbeweis auch auf Umstände gestützt werden kann, die dem Täter erst nach der Äusserung bekannt werden oder sich im Laufe einer späteren Abklärung (Strafverfahren, amtliche Untersuchung) ergeben. BGE 116 IV 31 E. 4 S. 39 scheint diese Rechtsprechung durch den Hinweis auf BGE 106 IV 115 ff. zu bestätigen.
In BGE 116 IV 31 E. 5 S. 39 ff. äussert sich das Bundesgericht zu den Anforderungen an den Gutglaubensbeweis bei der Berichterstattung über hängige Strafverfahren. Insoweit sei bei der Auslegung von Art. 173 StGB, insbesondere von dessen Ziff. 2, dem Grundgedanken der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen (S. 40 unten). Daraus ergebe sich unter anderem, dass eine zurückhaltende Ausdrucksweise am Platz sei (S. 41). Bei der Schilderung der einer bestimmten Person zur Last gelegten, nicht rechtskräftig beurteilten Straftat könne nur eine Formulierung zulässig sein, die deutlich mache, dass es sich einstweilen bloss um einen Verdacht handleBGE 122 IV 311 (316) BGE 122 IV 311 (317)und dass eine abweichende Entscheidung der zuständigen Strafgerichte durchaus noch offen sei (S. 42). Andererseits sei einzuräumen, dass bei der Berichterstattung über hängige Strafverfahren der besonderen Aufgabe der Presse Rechnung zu tragen sei, wenn etwa im konkreten Fall zu befürchten sei, die Strafverfolgung werde beispielsweise wegen politischen Einflüssen oder wegen Überforderung der Strafverfolgungsbehörden nicht mit dem nötigen Druck durchgeführt (S. 41). Im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung von Art. 173 StGB sei allen, teilweise konfligierenden verfassungsrechtlichen Wertgesichtspunkten - Pressefreiheit, Wächteramt der Presse; Persönlichkeitsschutz, Unschuldsvermutung - Rechnung zu tragen (S. 41). Gemäss dem zitierten Entscheid war der Gutglaubensbeweis in bezug auf den Vorwurf des "Mordverdachtes" erbracht, nicht aber hinsichtlich der Behauptung des "Versicherungsbetruges", da auch insoweit nur ein Verdacht in guten Treuen habe für wahr gehalten werden können (E. 5c S. 43 f.).
d) Aus einzelnen Erwägungen in BGE 116 IV 31 E. 5 S. 39 ff. und dem ihnen zugrunde liegenden Gedanken könnte der Schluss gezogen werden, dass in bezug auf sog. "Vorverurteilungen" in der Presseberichterstattung über hängige Strafverfahren der Wahrheitsbeweis entgegen den sonst üblichen Grundsätzen (BGE 106 IV 115 ff.) nicht mit einem erst nach den ehrverletzenden Äusserungen gefällten und in Rechtskraft erwachsenen Strafurteil geführt werden könne, da andernfalls das Verbot von "Vorverurteilungen", das sich aus der grundsätzlich bis zur rechtskräftigen Verurteilung geltenden Unschuldsvermutung ergibt, gewissermassen aus den Angeln gehoben würde. Ob sich aus BGE 116 IV 31 ff. ein solcher Schluss ziehen lasse und ob er richtig wäre, muss hier nicht entschieden werden. Denn der vom Beschwerdegegner verfasste Artikel ist nicht als eine Presseberichterstattung über ein hängiges Strafverfahren in Sachen des Beschwerdeführers im Sinne von BGE 116 IV 31 ff. anzusehen.
e) Der Beschwerdegegner will im Zeitungsartikel unter anderem erklären, "was einen Schwerverbrecher so sympathisch macht". Er erwähnt einige Ereignisse und Stationen im Leben des Beschwerdeführers, der auch ein feines Gespür für Öffentlichkeitsarbeit entwickelt habe. Zwar wird einleitend berichtet, dass der Beschwerdeführer seinen seit Monaten anhaltenden Hungerstreik abbrechen wolle, wenn er sicher sei, dass sein Prozess am kommenden 26. November stattfinden und dass er in den Kanton Jura verbrachtBGE 122 IV 311 (317) BGE 122 IV 311 (318)werde. Der Leser erfährt aber nicht, worum es im bevorstehenden Prozess geht.
Die in einem solchen Zeitungsartikel geäusserten Behauptungen, jemand habe strafbare Handlungen begangen bzw. sei ein Schwerverbrecher usw., können entsprechend den allgemeinen Grundsätzen (BGE 106 IV 115 ff.) auch durch erst nach den ehrverletzenden Äusserungen gefällte und in Rechtskraft erwachsene Urteile als wahr bewiesen werden.
Die Äusserungen 1-7 sind durch die nach dem Erscheinen des Zeitungsartikels vom 22. Oktober 1992 gefällten und in Rechtskraft erwachsenen Urteile des Kantonsgerichts Wallis vom 1. Juni 1994 (siehe dazu BGE 120 IV 317) und der jurassischen Kriminalkammer vom 23. Februar 1995, durch die der Beschwerdeführer wegen besonders gefährlichen Raubes und zahlreicher weiterer Straftaten zu einer Zuchthausstrafe von insgesamt 12 1/2 Jahren verurteilt wurde, als wahr bewiesen.
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist somit auch in diesem Punkt abzuweisen.BGE 122 IV 311 (318)