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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 1
2. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 43 Zi ...
3. Auf welche Grundlagen Entscheide über Massnahmen abzust&u ...
Erwägung 4
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37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich, Bewährungsdienst Zürcher Oberland (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
6S.146/2002 vom 13. August 2002
 
 
Regeste
 
Art. 43 StGB; Vollstreckung aufgeschobener Strafen.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 128 IV 241 (241)A.- Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 25. September 1996 unter anderem wegen versuchten bandenmässigen Raubes und qualifizierten Diebstahls zu einer Gefängnisstrafe von 3 1/2 Jahren, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 448 Tagen. Es ordnete eine ambulante Behandlung im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe zu Gunsten dieser Massnahme auf.
B.- Am 11. Februar 1997 verfügte das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug des Kantons Zürich den Vollzug der ambulanten Massnahme. Am 4. Juli 2000 ordnete der Sonderdienst des Amtes für Justizvollzug des Kantons Zürich, gestützt auf Art. 2 Abs. 8 VStGB 1 (SR 311.01), den Aufschub des Vollzugs weiterer Freiheitsstrafen von sechs beziehungsweise drei Tagen Haft an.
BGE 128 IV 241 (241)
BGE 128 IV 241 (242)C.- Am 18. April 2001 stellte der Bewährungsdienst Zürcher Oberland die ambulante Massnahme ein und ersuchte das Obergericht, den Vollzug der aufgeschobenen Strafen anzuordnen.
D.- Mit Beschluss vom 1. März 2002 ordnete das Obergericht des Kantons Zürich den Vollzug der aufgeschobenen Strafen an.
E.- X. erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, den Beschluss aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
 
Erwägung 1
 
Auf eine erneute Begutachtung könne verzichtet werden. Das Gericht könne die Fragen, die sich im Zusammenhang mit einer erneuten Massnahme stellten, gestützt auf die früheren Gutachten und Arztberichte selber beantworten. Am 12. November 1991 habe Dr. B. ein Gutachten zu Händen des Obergerichtes erstellt. Das Ergänzungsgutachten desselben Sachverständigen datiere vom 8. Oktober 1993. Er liege somit rund sieben Jahre zurück. DieserBGE 128 IV 241 (242) BGE 128 IV 241 (243)zeitliche Abstand bedeute aber nicht, dass der Beschwerdeführer zwingend erneut zu begutachten sei. Vorliegend gebe es keine Anhaltspunkte für eine veränderte Entwicklung des Beschwerdeführers, die eine Neubeurteilung verlangen würden. In seinem ersten Gutachten aus dem Jahre 1991 habe Dr. B. festgehalten, eine langfristige ambulante psychotherapeutische Behandlung sei grundsätzlich indiziert. Im Ergänzungsgutachten vom 1993 habe Dr. B. ausgeführt, das Objektivierungsvermögen des Beschwerdeführers erscheine als gering. Die ungenügende Bereitschaft und Fähigkeit zu selbstkritischer Introspektion und zur In-Fragestellung seiner subjektiven Standpunkte sei ein erhebliches Problem für die Behandlung. Die langfristige Durchführbarkeit einer Behandlung habe sich - im Gegensatz zu seinen früher geäusserten Bedenken - bestätigt, nachdem sie nun gesamthaft seit über drei Jahren durchgeführt worden sei. Gleichzeitig komme er aber nicht umhin, die weitere langfristige Durchführbarkeit der Behandlung für denjenigen Zeitpunkt in Frage zu stellen, in dem es zu einer wirklichen therapeutischen Auseinandersetzung und damit zu einer entscheidenden Veränderung des Behandlungscharakters gekommen sein werde.
Aus dem Verlauf der Therapie bei Dr. A. schliesst die Vorinstanz sodann, dass sich der Verurteilte auch gegenüber diesem Therapeuten nicht auf eine eigentliche Therapie eingelassen habe.
Der Vollzug der aufgeschobenen Strafe sei deshalb anzuordnen.
Indem sich die Vorinstanz auf die alten Gutachten abstütze und die Entwicklung in der Zwischenzeit nicht berücksichtige, kommeBGE 128 IV 241 (243) BGE 128 IV 241 (244)sie zum falschen Schluss, dass kein Teilerfolg erzielt worden sei, und sie lasse daneben nicht prüfen, welches die Folgen des Strafvollzugs für die durchgeführten Massnahmen wären.
Weiter wäre der heutige Vollzug der 3 1/2 Jahre Gefängnis unverhältnismässig. Es sei neben der langen Zeitspanne zwischen den strafbaren Handlungen und dem möglichen Strafvollzug zu berücksichtigen, dass er sich für mehrere Jahre in einer Therapie befunden habe.
3.1 Bei der Anordnung von Massnahmen ist die rechtliche Situation klar. Es ist davon auszugehen, dass die Voraussetzungen einer Massnahme, soweit sie dem psychiatrischen Fachbereich zuzuordnen sind, regelmässig gutachterlich abgestützt sein müssen. Bei stationärer Unterbringung geistig Abnormer ergibt sich dies aus dem gesetzlichen Obligatorium gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB. Selbst dort, wo der Gesetzgeber einigen Spielraum offen liess, indem er eine entsprechende Pflicht von der Erforderlichkeit einer gutachterlichen Abklärung abhängig macht (Art. 44 Ziff. 1 Abs. 2 StGB), verhält er sich nicht anders. Die Beantwortung der relevanten Fragen dürfte den Erfahrungshorizont von Angehörigen der Justiz in der Regel sprengen. Überdies wird das dem Richter zugebilligte Ermessen faktisch nicht zum Tragen kommen, weil sich zumeist im Voraus kaum sagen lässt, welche Art von Massnahme in Frage kommen könnte. Schliesslich ist auch im Zusammenhang mit Massnahmen nach Art. 44 StGB zu beachten, dass selbst bei eindeutigen Störungsbildern, wie sie etwa bei Alkohol- oder Drogenabhängigkeit nicht selten sind, das Phänomen der Komorbidität nicht ausser Acht gelassen werden darf. Alkohol- und Drogenmissbrauch gehen häufig einher mit anderen psychischen Störungen, oft mit Persönlichkeitsstörungen (NORBERT NEDOPIL, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., Stuttgart/New York 2000, S. 100 und 116). Deshalb dürfen sich die Entscheidungsträger bei Fragen nach der Notwendigkeit vonBGE 128 IV 241 (244) BGE 128 IV 241 (245)Abklärungen nicht dazu verleiten lassen, ihr Augenmerk einzig auf die deutlichen Symptome der Suchtproblematik zu richten. Zu tolerieren ist dabei allerdings die Praxis, soweit in einfachen Fällen von weniger grosser Tragweite - so etwa bei der Anordnung von ambulanten Massnahmen - nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auf ein umfassendes Gutachten verzichtet wird. Allerdings müssen sich die relevanten Fragen auch hier zumindest auf Grund eines so genannten Kurzgutachtens oder eines ärztlichen Berichtes beantworten lassen.
Für die jährliche Prüfung einer Entlassung aus der Massnahme gemäss Art. 45 Ziff. 1 StGB hat der Gesetzgeber keine Begutachtung vorgeschrieben. Die Vollzugsbehörden sind einzig gehalten, einen Bericht der Anstaltsleitung einzuholen. Damit wird bei therapeutischen Massnahmen der behandelnde Arzt zur Stellungnahme eingeladen. Der Arzt wird sich wohl primär zum Verlauf der Behandlung und zum Therapieerfolg äussern. Eine Pflicht zur Begutachtung lässt sich aus dieser Vorschrift nicht ableiten. Ein solcher Bericht kann den Anforderungen an ein Gutachten indessen per se nicht genügen. Einem Therapeuten muss diejenige Neutralität abgesprochen werden, welche von einem Gutachter gemäss ständiger Gerichtspraxis verlangt wird, der für den Entscheid über die Anordnung einer Massnahme beizuziehen ist (vgl. etwa Urteile des Bundesgerichts 6P.43/2000 vom 26. April 2000, E. 1b; 6S.444/1999 vom 4. Oktober 2000, E. 2, je mit Hinweisen).
Bei Entscheiden von grösserer Tragweite, wie etwa Entscheiden über die Entlassung aus einer Verwahrung, ist es allerdings fraglich, ob nicht doch weitere Entscheidungsgrundlagen erforderlich sind. Nach der bisherigen Praxis des Bundesgerichts wird zwar ein Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen nicht generell als notwendig bezeichnet. Immerhin hat das Bundesgericht aber darauf hingewiesen, dass sich in Fällen einer lange dauernden Internierung die fachliche Beurteilung durch einen aussenstehenden Psychiater unter bestimmten Umständen aufdrängen könnte (BGE 121 IV 1 E. 2). Sodann ist zu beachten, dass der Entwurf des Bundesrates von 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches - in diesem Punkt von beiden Räten bestätigt (AB 1999 S 1124; AB 2001 N 574 u. 581) -, für die Entlassung aus einer Verwahrung zwingendBGE 128 IV 241 (245) BGE 128 IV 241 (246)das Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen vorschreibt (Art. 64b Abs. 2). Soweit Fachkommissionen beigezogen werden, was in schwierigeren Fällen heute regelmässig der Fall sein dürfte, hat sich das Problem mittlerweile entschärft: Hier erfolgt eine Beurteilung des Falles durch eine interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe von Fachleuten, welcher auch ein psychiatrischer Sachverständiger angehört. Die Erwägungen der Fachkommissionen stellen eine fundierte und objektive Entscheidungsgrundlage dar (kritisch zu den Fachkommissionen etwa STRATENWERTH, Zur Rolle der sog. "Fachkommissionen", in: Andreas Donatsch/Marc Forster/Christian Schwarzenegger [Hrsg.], Strafrecht, Strafprozessrecht und Menschenrechte, Festschrift für Stefan Trechsel, Zürich 2002, S. 887 ff.). In vielen Fällen dürften die Fachkommissionen ihre Empfehlungen zusätzlich sogar auf externe Gutachten abstützen. Allerdings wäre es überspitzt, die jährliche Erstellung eines neuen Gutachtens zu verlangen. Damit würde die Gefahr geschaffen, dass solche Abklärungen zu Routinegeschäften werden. Prozessuale Leerläufe sind aber möglichst zu vermeiden. Die Fachkommissionen erachten gemäss ihren eigenen Richtlinien die Begutachtung eines Betroffenen in Zeitintervallen von drei Jahren für erforderlich (vgl. etwa Ziff. 3.5 Abs. 2 der Richtlinien vom 1. Januar 2000 des Nordwestschweizerischen und Innerschweizerischen Strafvollzugskonkordates und Ziff. 2.2 der Richtlinien des Ostschweizerischen Strafvollzugskonkordates über den Vollzug von Freiheitsstrafen an gemeingefährlichen Straftätern und Straftäterinnen vom 16. April 1999).
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass das Gericht gemäss Art. 43 Ziff. 5 Abs. 1 und 3 StGB den Arzt anzuhören hat, soweit nach Abschluss einer Massnahme der Vollzug einer Reststrafe zur Diskussion steht. Diese Bestimmung bezieht sich von ihrer Systematik und ihrem Wortlaut her einzig auf den Fall einer erfolgreichen Massnahme. Ein solcher ärztlicher Bericht ist auf das Thema beschränkt, ob der Erfolg der Massnahme durch den Strafvollzug erheblich gefährdet würde. Eine generelle Begutachtungspflicht im Zusammenhang mit der Abänderung von Massnahmen lässt sich daraus nicht ableiten.
Auch bei sonstigen Beweisvorkehren im Strafverfahren ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit zu beachten. Wo genügende Grundlagen bereits vorliegen, dürfen diese als Entscheidungsgrundlagen herangezogen werden. Gemäss neuerer Rechtsprechung ist dabei nicht an das formale Kriterium eines bestimmten Alters des in Frage stehenden Gutachtens anzuknüpfen. Es kann auf ein älteres Gutachten abgestellt werden, wenn sich die Verhältnisse seit dessen Erstellung nicht verändert haben. So ist es durchaus möglich, dass ein Sachverständiger sich bereits im Hauptverfahren oder später im Verlaufe des Vollzugs so umfassend zu Fragen der Behandelbarkeit des Exploranden oder zur Eignung einer Behandlung geäussert hat, dass sich daraus die Antworten auf die Fragen ableiten lassen, welche sich stellen, wenn eine Massnahme später scheitert. Überdies dürfte in vielen Fällen das Spektrum von möglichen Massnahmen bereits zum Zeitpunkt des Sachurteils nicht sehr gross sein. Entsprechend sind in einem späteren Verfahrensstadium auch keine zusätzlichen Abklärungen erforderlich, um Alternativen beurteilen zu können. Nicht zuletzt mit Blick auf den Mangel an qualifizierten Sachverständigen in der Schweiz sind die Anforderungen anBGE 128 IV 241 (247) BGE 128 IV 241 (248)Gutachten nicht zu überspannen. Gelegentlich dürfte es genügen, statt eines neuen umfassenden Gutachtens bei einem bereits tätig gewordenen Sachverständigen oder bei einer anderen Fachperson ein Ergänzungsgutachten einzuholen. Soweit andererseits frühere Gutachten mit Ablauf der Zeit und zufolge veränderter Verhältnisse an Aktualität eingebüsst haben, sind neue Abklärungen unabdingbar. So gilt es etwa zu beachten, dass nach neuerer forensisch-psychiatrischer Lehre Gefährlichkeitsprognosen lediglich für den Zeitraum eines Jahres zuverlässig gestellt werden können (VOLKER DITTMANN, Was kann die Kriminalprognose heute leisten? in: St. Bauhofer/P.H. Bolle/V. Dittmann [Hrsg.], Gemeingefährliche Straftäter, Reihe Kriminologie, Bd. 18, Chur/Zürich 2000, S. 72). Therapieverläufe etwa lassen sich häufig nicht antizipieren.
 
Erwägung 4
 
BGE 128 IV 241 (248)
BGE 128 IV 241 (249)Die Vorinstanz verletzt somit kein Bundesrecht, wenn sie, ohne ein weiteres Gutachten einzuholen, unter anderem auf die beiden Gutachten aus den Jahren 1991 und 1993 abstellt.
BGE 128 IV 241 (249)
BGE 128 IV 241 (250)4.3.4 Bei dieser Sach- und Rechtslage hatte die Vorinstanz nicht zu prüfen, wie viel Zeit zwischen den strafbaren Handlungen und dem nunmehr angeordneten Strafvollzug verstrichen ist. Ebenso wenig hatte sie sich über Sinn und Zweck des Strafvollzuges zum gegenwärtigen Zeitpunkt auszusprechen.BGE 128 IV 241 (250)