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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Die Staatsanwaltschaft macht geltend, die Vorinstanz habe Art. ...
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14. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern gegen X. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
6S.272/2002 vom 10. Januar 2003
 
 
Regeste
 
Art. 68 Ziff. 2 StGB; retrospektive Realkonkurrenz.
 
Für die Frage, ob überhaupt und in welchem Umfang (d.h. ganz oder teilweise) das Gericht eine Zusatzstrafe aussprechen muss, ist auf das Datum des Urteils im ersten Verfahren abzustellen. Demgegenüber ist für die Bemessung bzw. die Höhe der Zusatzstrafe das rechtskräftige Urteil im ersten Verfahren massgebend (Klarstellung der Rechtsprechung; E. 1.4).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 129 IV 113 (114)X. wurde vom Bezirksgericht Aarau am 12. Februar 1997 wegen gewerbsmässigen Betrugs, Veruntreuung, Urkundenfälschung usw. zu einer Zuchthausstrafe von 2 1/2 Jahren und einer Busse von Fr. 5'000.- verurteilt. Auf Berufung des Verurteilten hin verurteilte ihn das Obergericht des Kantons Aargau am 30. September 1999 wegen gewerbsmässigen Betrugs, Veruntreuung, mehrfacher Urkundenfälschung, mehrfacher einfacher und grober Widerhandlung gegen das SVG sowie mehrfachen Führens eines Personenwagens trotz Entzugs des Führerausweises zu einer Zuchthausstrafe von 2 1/4 Jahren und einer Busse von Fr. 500.-.
Das Kriminalgericht des Kantons Luzern verurteilte X. am 10. November 2000 wegen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Veruntreuung, mehrfacher Urkundenfälschung, sowie Erschleichens einer falschen Beurkundung zu drei Jahren Zuchthaus, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 30. September 1999. Auf Appellation des Verurteilten und der Staatsanwaltschaft hin bestätigte das Obergericht des Kantons Luzern das erstinstanzliche Urteil am 8. November 2001 in den Schuldpunkten. Hingegen reduzierte es die Strafe auf 1 3/4 Jahre Zuchthaus, weil diese nicht als teilweise sondern als vollständige Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 30. September 1999 auszusprechen sei.
Das Bundesgericht heisst die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gut.
 
1. Die Staatsanwaltschaft macht geltend, die Vorinstanz habe Art. 68 Ziff. 2 StGB verletzt. Dadurch sei der BeschwerdegegnerBGE 129 IV 113 (114) BGE 129 IV 113 (115)entgegen Art. 63 StGB zu einer Strafe verurteilt worden, die seinem Verschulden nicht entspreche.
Die Strafe, die sich der ersten anfügt, wird im Gegensatz zur Gesamtstrafe (peine d'ensemble, pena unica) Zusatzstrafe (peine complémentaire ou additionnelle ou supplémentaire, pena addizionale) genannt (BGE 116 IV 14 E. 2a S. 16 f. mit Hinweisen). Die Zusatzstrafe gleicht die Differenz zwischen der ersten, Einsatz- oder Grundstrafe, und der Gesamtstrafe aus, die nach Auffassung des Richters bei Kenntnis der später beurteilten Straftat ausgefällt worden wäre. Bei der Bemessung der gedanklich zu bestimmenden Zusatzstrafe ist der Richter sowohl in Bezug auf die Strafart als auch hinsichtlich der Art des Vollzugs nicht an den rechtskräftigen ersten Entscheid gebunden (vgl. BGE 116 IV 14 E. 2a und b; BGE 109 IV 90 E. 2d S. 93 mit Hinweisen). Das Vorgehen bei der Festsetzung der Strafe und die Anforderungen an die Begründung der Strafzumessung bei retrospektiver Realkonkurrenz wurden vom Bundesgericht in mehreren Urteilen ausführlich dargelegt (vgl. nur BGE 124 II 39 E. 3; BGE 121 IV 97 E. 2d/cc S. 102 f.; BGE 118 IV 119 E. 2, 269 E. 5 S. 276; BGE 116 IV 14; BGE 115 IV 17; BGE 109 IV 63).
BGE 129 IV 113 (115)
BGE 129 IV 113 (116)1.2 Damit für die nachträglich zu beurteilenden Taten eine Zusatzstrafe ausgefällt werden kann, müssen sie vor einer früheren Verurteilung begangen worden sein. Der Täter ist im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB "verurteilt", sobald das Urteil gefällt worden ist (vgl. BGE 127 IV 106 E. 2a/c S. 109; anders noch BGE 124 II 39 E. 3c: "Eröffnung"; unklar BGE 94 IV 54 f., wo einerseits von "Eröffnung", anderseits von "Ausfällung" gesprochen wird; wie hier ACKERMANN, Basler Kommentar StGB, Bd. I, Basel usw. 2003, Art. 68 N. 50). Denn nach diesem Zeitpunkt kann das Urteil grundsätzlich nicht mehr geändert werden.
Das Bundesgericht hat im Entscheid BGE 124 II 39 die Anwendungsgrundsätze des Art. 68 Ziff. 2 StGB ausdrücklich sowohl für Führerausweisentzüge als auch für Strafsachen neu geordnet. Der seither ergangene BGE 127 IV 106 hat eher beiläufig auf die ältere Rechtsprechung hingewiesen und sich mit dem jüngeren Grundsatzurteil nicht auseinandergesetzt. Das Präjudiz BGE 124 II 39 ist zwar dem Grundsatze nach zu bestätigen, doch bedarf es der Präzisierung.
1.3 BGE 124 II 39 und BGE 127 IV 106 unterscheiden sich insbesondere darin, dass der eine vom Zweitrichter fordert, die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils im ersten Verfahren abzuwarten, während der andere dies je nach Lesart nicht vorschreibt oder ausschliesst. Die Forderung der früheren und in BGE 127 IV 106 wieder aufgenommenen Rechtsprechung, wonach der Zweitrichter den Ausgang eines allfälligen Berufungsverfahrens abzuwarten habe, liesse sich kaum mit dem Beschleunigungsgebot vereinbaren. Zudem ist zu berücksichtigen, dass das reformatorisch wirkende Sachurteil einer Berufungs- oder Appellationsinstanz an die Stelle desjenigen der Vorinstanz tritt. Das gilt auch, wenn eine Berufung oder Appellation vollumfänglich abgewiesen wird. Rechtskräftig wird allein das reformatorische Urteil der Berufungs- oder Appellationsinstanz (vgl. STEFAN WEHRLE, Die Bedeutung erstinstanzlicher Urteile bei der retrospektiven Konkurrenz [Art. 68 Ziff. 2 StGB], SJZ 96/2000 S. 58 mit Hinweisen). Das erstinstanzliche Urteil würde deshalb beispielsweise nur rechtskräftig, wenn die Rechtsmittelfrist unbenutzt abläuft, ein Rechtsmittel zurückgezogen wird oder das Rechtsmittelverfahren mit einem Nichteintretensentscheid endet. Das hat MARCEL ALEXANDER NIGGLI (Retrospektive Konkurrenz - Zusatzstrafe bei Kassation des Ersturteils?, SJZ 91/1995 S. 382) veranlasst, vorzuschlagen, einen Täter mit dem erstinstanzlichen Urteil als verurteilt im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB anzusehen, sofern er für die oder einzelne der Straftaten, die im erstinstanzlichenBGE 129 IV 113 (116) BGE 129 IV 113 (117)Verfahren Prozessthema bildeten, rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werde. Das könne je nach Verfahrensverlauf durch das erstinstanzliche Urteil, das Urteil der Berufungs- oder Appellationsinstanz, oder schliesslich durch ein nach Kassation eines Urteils ergangenes neues Urteil erfolgen. Diesem Vorschlag ist das Bundesgericht in BGE 124 II 39 ausdrücklich nicht gefolgt.
Die dargelegte Rechtsprechung ist klarzustellen. Es gilt die Regel, dass Art. 68 Ziff. 2 StGB nicht anwendbar ist, wenn jemand Delikte begeht, nachdem er wegen anderer Straftaten erstinstanzlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist (massgeblicher Zeitpunkt ist die Urteilsfällung). Die neuen Delikte sind dann mit einer selbständigen Strafe zu ahnden. Hingegen kommt Art. 68 Ziff. 2 StGB in Betracht, wenn die im erstinstanzlichen Urteil nicht beurteilten Straftaten oder einzelne von ihnen vor diesem Urteil begangen wurden und damit (zumindest teilweise) eine gemeinsame Beurteilung theoretisch möglich gewesen wäre. Art. 68 Ziff. 2 StGB ist in diesen Fällen jedoch nur anwendbar, wenn eine rechtskräftige frühere Verurteilung vorliegt. Ist die Grund- oder Einsatzstrafe im Zeitpunkt des Urteils im späteren Verfahren noch nicht in Rechtskraft erwachsen, kann es sich etwa ergeben, dass sie durch den Entscheid einer Rechtsmittelinstanz später teilweise oder ganz dahinfällt. Grundlage für eine Zusatzstrafe ist zwingend, dass dem Zweitrichter eine rechtskräftige Verurteilung für Delikte, die vom Erstrichter beurteilt wurden, vorliegt.
In den Konstellationen des Art. 68 Ziff. 2 StGB sind folglich zwei Varianten möglich: (1) Es liegt im Zeitpunkt des Zweiturteils bereits ein rechtskräftiges Urteil im ersten Verfahren vor: Der Zweitrichter hat dann eine Zusatzstrafe zum ersten Urteil auszusprechen. (2) Es liegt im Zeitpunkt des Zweiturteils (noch) kein rechtskräftiges Urteil im ersten Verfahren vor: Der Zweitrichter kann unter Beachtung des Beschleunigungsgebots ein rechtskräftiges Urteil abwarten und dazu nun eine Zusatzstrafe aussprechen. Entschliesst er sich hingegen nicht zuzuwarten, kann er ein selbständiges Urteil fällen. Erwächst dann im ersten Verfahren schliesslich ein Urteil in Rechtskraft, so kann der mit einer Freiheitsstrafe belegte Betroffene unter den Voraussetzungen des Art. 350 Ziff. 2 StGB ein Gesuch stellen, damit für beide selbständig abgeurteilten Delikte oder Deliktskomplexe eine Gesamtstrafe festgesetzt wird. Das bedingt wie erwähnt, dass der Betroffene im zweiten Verfahren für Delikte rechtskräftig verurteilt wurde, die er ganz oder auch nur teilweise zeitlich vor dem erstinstanzlichen Urteil im ersten Verfahren begangen hatte, und derBGE 129 IV 113 (117) BGE 129 IV 113 (118)Zweitrichter kein rechtskräftiges Urteil im ersten Verfahren abgewartet hat.
Zusammengefasst kann Folgendes festgehalten werden: Für die Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB ist in einem ersten Schritt abzuklären, ob die fraglichen Delikte - teilweise oder ganz - vor oder nach einer ersten Verurteilung begangen wurden. Im ersten Fall ist sodann zu prüfen, ob das erste Verfahren zu einem bereits rechtskräftigen Urteil geführt hat. Bejahendenfalls ist dazu eine Zusatzstrafe auszusprechen. Liegt noch kein rechtskräftiges Urteil im ersten Verfahren vor, kann der Zweitrichter entweder ein selbständiges Urteil fällen, woraus sich später gegebenenfalls die Möglichkeiten nach Art. 350 Ziff. 2 StGB ergeben, oder die Rechtskraft im ersten Verfahren unter Beachtung des Beschleunigungsgebots abwarten und dann eine Zusatzstrafe zu diesem Urteil aussprechen.
Der Beschwerdegegner beging die hier zu beurteilenden Straftaten teilweise vor und teilweise nach dem erstinstanzlichen Urteil des Bezirksgerichts Aarau. Die Vorinstanz hätte daher für die Veruntreuung des Personenwagens und der Vermögenswerte zum Nachteil von A. einerseits sowie für die vom Obergericht Aargau beurteilten Delikte anderseits gedanklich eine Gesamtstrafe bilden und davon den Anteil für die beiden Veruntreuungen als GrundlageBGE 129 IV 113 (118) BGE 129 IV 113 (119)für die Zusatzstrafe bemessen müssen. Ausgehend davon hätte sie für die von ihr beurteilten Delikte eine Gesamtstrafe aussprechen müssen; diese hätte sich aus der Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts Aargau und der selbständigen Strafe für die nach dem Urteil des Bezirksgerichts Aarau begangenen Delikte zusammensetzen müssen. Indem die Vorinstanz statt einer nur teilweisen Zusatzstrafe im genannten Umfang eine vollständige Zusatzstrafe zum Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau fällte, hat sie Bundesrecht verletzt.BGE 129 IV 113 (119)