Abruf und Rang:
RTF-Version (SeitenLinien), Druckversion (Seiten)
Rang: 

Zitiert durch:


Zitiert selbst:


Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 35 Ab ...
Bearbeitung, zuletzt am 12.07.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
6S.430/2002 vom 13. Dezember 2002
 
 
Regeste
 
Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 47 Abs. 2 SVG; Überholen einer Fahrzeugkolonne durch einen Motorradfahrer; Kollision mit einem wendenden Fahrzeug.
 
Wer ein Überholmanöver ausführt, das wegen seiner Gefährlichkeit gesetzlich verboten ist, verletzt damit die allgemeinen Sorgfaltsregeln (E. 3.3).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 129 IV 155 (156)A.- A. fuhr mit seinem Auto in einer stockenden Kolonne auf der Hauptstrasse A5 in Richtung Biel. Auf der Höhe von Tüscherz-Alfermée schlug er die Räder nach links ein, um zu wenden, ohne dass er zuvor gegen die Mittellinie eingespurt hatte. Nachdem er auf der übersichtlichen Strecke Richtung Biel keinen Gegenverkehr sah, stellte er den linken Blinker und blickte in den Aussenrückspiegel sowie über die Schulter zurück. Da er hinter ihm keine die Kolonne überholende Fahrzeuge sah, begann er langsam mit dem Wendemanöver. Als er sich mitten auf der Gegenfahrbahn in einem Winkel von ungefähr 90 Grad zu ihr befand, prallte der in Richtung Biel fahrende Motorradlenker X. in die linke hintere Seite des Personenwagens von A. X. hatte ungefähr 100 bis 150 Meter vor der Unfallstrecke die stockende Kolonne mit einer Geschwindigkeit von 60-80 km/h links zu überholen begonnen und den Personenwagen von A. etwa 20 bis 30 Meter vor der Unfallstelle erblickt.
B.- Die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern verurteilte A. wegen einfacher fahrlässiger Körperverletzung gemäss Art. 125 StGB zu einer Busse von 600 Franken und X. wegen einfacher Verkehrsregelverletzung nach Art. 35 Abs. 2 und 3 sowie Art. 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von 300 Franken.
C.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
 
Der Beschwerdeführer habe sich in einer unklaren Verkehrssituation befunden und daher beispielsweise damit rechnenBGE 129 IV 155 (156) BGE 129 IV 155 (157)müssen, dass andere Verkehrsteilnehmer wenden, um dem Stau zu entkommen. Da sich die Kolonne langsam vorwärts bewegt habe und seitlich verschoben gewesen sei, habe es der Beschwerdeführer an der besonderen Rücksicht gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern mangeln lassen, als er sie überholte. Zudem sei er gegenüber den überholten Fahrzeugen nicht vortrittsberechtigt gewesen, da er nicht habe ausschliessen können, dass weiter vorne in der Kolonne ein Fahrzeug bereits den Blinker zum Linksabbiegen gestellt habe, womit er zum Überholen gar nicht mehr berechtigt gewesen wäre. Die Geschwindigkeit müsse beim Überholen den Verkehrsverhältnissen angepasst sein, um die überholten Fahrzeuge frühzeitig wahrnehmen und zeitgerecht reagieren zu können. Angesichts der heiklen Verkehrslage hätte der Beschwerdeführer vor allem dort, wo die Fahrzeuge in der Kolonne seitlich verschoben waren, seine Geschwindigkeit den Erfordernissen des Verkehrs anpassen und viel langsamer überholen sollen. Er habe seine mangelnde Aufmerksamkeit selber zugegeben, indem er erklärte, den Blinker des abbiegenden Fahrzeuges nicht gesehen zu haben. Er könne sich auch nicht auf das Vertrauensprinzip berufen, da er bei seinem Manöver keine Gewissheit gehabt habe, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuglenker wieder einbiegen zu können.
3.2.1 Gemäss Art. 35 Abs. 2 SVG sind Überholen und Vorbeifahren an Hindernissen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Im Kolonnenverkehr darf nur überholen, wer die Gewissheit hat, rechtzeitig und ohne Behinderung anderer Fahrzeuge wieder einbiegen zu können. Wer eine Fahrzeugkolonne überholen will, muss sichBGE 129 IV 155 (157) BGE 129 IV 155 (158)vergewissern, dass diese gesetzlichen Voraussetzungen im Zeitpunkt erfüllt sind, wo er zum Überholen ansetzt. Wer keine Gewissheit hat, bevor er das Überholmanöver einleitet, gefahrlos vor dem Ende des für ihn sichtbaren Raums wieder einbiegen zu können, verletzt somit Art. 35 Abs. 2 SVG (BGE 121 IV 235 E. 1b S. 237; BGE 105 IV 336 E. 2 S. 337).
Abs. 3 von Art. 35 SVG bestimmt, dass der Überholende auf die übrigen Strassenbenützer, namentlich jene, die er überholt, besonders Rücksicht nehmen muss. So darf zum Beispiel in unübersichtlichen Kurven nicht überholt werden (Art. 35 Abs. 4 SVG). Ebenso wenig darf überholt werden, wenn ein Fahrzeugführer die Absicht anzeigt, nach links abzubiegen (Art. 35 Abs. 5 SVG). Hingegen dürfen Fahrzeuge, die zum Abbiegen nach links eingespurt sind, rechts überholt werden (Art. 35 Abs. 6 SVG; vgl. BGE 125 IV 83 E. 1a S. 84).
Überholen gehört - vorab natürlich auf Strassen mit Gegenverkehr - zu den gefährlichsten Fahrmanövern. Die Regeln über das Überholen bezwecken durchwegs, diese Fahrmanöver entweder zu verbieten in Situationen, in denen sie üblicherweise übergrosse Gefahren bewirken, oder sie an eine Reihe von Anforderungen zu knüpfen, bei deren Beachtung die zusätzlichen Risiken minimiert werden. Überholen ist nur gestattet, wenn es nicht überhaupt verboten ist, der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert oder gefährdet wird (RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, Grundlagen, Verkehrszulassung und Verkehrsregeln, Bern 2002, S. 326, N. 716 f.).
BGE 129 IV 155 (160)Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz herrschte stockender Verkehr und hat der Beschwerdeführer mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h bis 80 km/h eine zum Teil stehende, zum Teil sehr langsam fahrende Kolonne überholt. Die Vorinstanz hält weiter fest, dass A. innerhalb der Kolonne stillstand und die Räder nach links eingeschlagen hatte, um zu wenden. Unter diesen Umständen waren die Voraussetzungen von Art. 47 Abs. 2 SVG erfüllt. Der Beschwerdeführer durfte deshalb nicht überholen, sondern musste seinen Platz in der Kolonne beibehalten.
Indem der Beschwerdeführer Art. 47 Abs. 2 SVG verletzt hat, hat er auch gegen die allgemeinen Regeln betreffend das Überholen verstossen. Denn wer ein wegen seiner Gefährlichkeit verbotenes Überholmanöver ausführt, lässt es zugleich an der für ein solches Manöver im Allgemeinen vorgeschriebenen nötigen Vorsicht mangeln.
Deshalb verletzt die Vorinstanz kein Bundesrecht, wenn sie annimmt, der Beschwerdeführer habe die Art. 35 Abs. 3 SVG entsprechende besondere Rücksicht auf die übrigen Strassenbenützern nicht wahrgenommen, als er diese mit übersetzter Geschwindigkeit überholte und als er dieses Manöver einleitete, ohne die Gewissheit zu haben, wieder einbiegen zu können (Art. 35 Abs. 2 SVG).BGE 129 IV 155 (160)