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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Rechtsmittelen ...
2. Die Beschwerdeführerin bringt vor, das Kantonsgericht hab ...
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34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft gegen X. und Zwangsmassnahmengericht des Kantons Basel-Landschaft (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
1B_273/2011 vom 31. August 2011
 
 
Regeste
 
Art. 81 und 93 BGG, Art. 222, 226 Abs. 5 und Art. 387 f. StPO; Untersuchungshaft, Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen einen Freilassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts, aufschiebende Wirkung.
 
Die wirksame Geltendmachung des Beschwerderechts durch die Staatsanwaltschaft setzt voraus, dass die beschuldigte Person in Haft bleibt, bis die Beschwerdeinstanz über die Weiterführung der Haft (superprovisorisch) entscheiden kann (E. 2.4). In diesem zeitlich begrenzten Umfang ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels Teil des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft (E. 2.5).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 137 IV 237 (238)A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt eine Strafuntersuchung gegen X. wegen des Verdachts auf Drogenhandel. Mit Entscheid vom 26. März 2011 ordnete das kantonale Zwangsmassnahmengericht Untersuchungshaft vorläufig bis zum 20. April 2011 an. Auf ein Haftverlängerungsgesuch der Staatsanwaltschaft vom 15. April 2011 hin verlängerte der Präsident des Zwangsmassnahmengerichts am 19. April 2011 die Untersuchungshaft provisorisch bis zum 6. Mai 2011. Am 28. April 2011 entschied das Zwangsmassnahmengericht, dass kein besonderer Haftgrund mehr vorliege und das Haftverlängerungsgesuch der Staatsanwaltschaft deshalb abzuweisen sei. X. werde - unabhängig vom Einlegen eines Rechtsmittels - gleichentags, spätestens bis 18.30 Uhr, aus der Haft entlassen.
Gegen diesen Entscheid gelangte die Staatsanwaltschaft am 28. April 2011 mit Beschwerde an das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit den Anträgen, die Untersuchungshaft sei gemäss ihrem Haftverlängerungsgesuch vom 15. April 2011 um zwei Monate zu verlängern und der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung beizulegen.
Mit Verfügung vom 29. April 2011 lud der Kantonsgerichtspräsident X. zur Stellungnahme zum Gesuch der Staatsanwaltschaft um aufschiebende Wirkung bis zum 4. Mai 2011 ein. Er erwog, die Beschwerdeerklärung der Staatsanwaltschaft mit Antrag um aufschiebende Wirkung vermöge die - zumindest vorläufige - Haftentlassung des Beschuldigten nicht zu verhindern. Die Erteilung der aufschiebenden Wirkung und die Gutheissung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft würden zudem keinen Rechtstitel verleihen, um umgehend eine neue Verhaftung anzuordnen. X. liess sich am 4. Mai 2011 mit einem Antrag auf Abweisung des Gesuchs um aufschiebende Wirkung vernehmen. Am 5. Mai 2011 wies der Kantonsgerichtspräsident das Gesuch der Staatsanwaltschaft um aufschiebende Wirkung ab.
B. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 30. Mai 2011 beantragt die Staatsanwaltschaft, die Verfügung des Kantonsgerichts vom 5. Mai 2011 sei aufzuheben und ihrer Beschwerde sei aufschiebendeBGE 137 IV 237 (238) BGE 137 IV 237 (239)Wirkung zu erteilen. Eventualiter sei festzustellen, dass die aufschiebende Wirkung hätte erteilt werden müssen. Weiter sei festzustellen, dass das Verbot der Rechtsverzögerung verletzt worden sei. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen gut.
(Auszug)
 
Im umstrittenen Zwischenentscheid hat der Kantonsgerichtspräsident das Gesuch der Staatsanwaltschaft, der Beschwerde aufschiebende Wirkung beizulegen, abgewiesen. Mit dem bundesgerichtlichen Entscheid darüber, ob dies in Verletzung des Strafprozessrechts geschehen ist, kann weder das vorinstanzliche Verfahren abgeschlossen noch ein bedeutender Aufwand an Zeit oder Kosten erspart werden. Die Beschwerden sind deshalb nur zulässig, falls derBGE 137 IV 237 (239) BGE 137 IV 237 (240)Staatsanwaltschaft aus dem angefochtenen Zwischenentscheid ein nicht wieder gutzumachender Nachteil erwächst, d.h. damit eine Beeinträchtigung verbunden ist, die auch durch einen für sie allenfalls günstigen bundesgerichtlichen Endentscheid nicht oder nicht mehr vollständig behoben werden kann (BGE 134 III 188 E. 2.1 S. 190 f.; BGE 133 III 629 E. 2.3 S. 632; BGE 133 IV 139 E. 4 S. 141). Ein solcher Nachteil liegt nicht schon darin, dass durch den Zwischenentscheid das vorinstanzliche Verfahren verlängert oder verteuert wird (vgl. BGE 135 II 30 E. 1.3.4 S. 36; BGE 120 Ib 97 E. 1c S. 100). Der angefochtene Entscheid hat zur Folge, dass X. sich während dem Beschwerdeverfahren über die Untersuchungshaft vor dem Kantonsgericht in Freiheit befindet, obwohl nach Auffassung der Staatsanwaltschaft weiterhin ein besonderer Haftgrund (hier Kollusionsgefahr) besteht. Eine Freilassung trotz Vorliegens eines besonderen Haftgrunds kann die Fortführung des Strafverfahrens erschweren oder gar vereiteln. Diese Beeinträchtigungen können durch einen für die Staatsanwaltschaft günstigen Endentscheid nicht mehr behoben werden. Damit ist ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne der Rechtsprechung grundsätzlich zu bejahen.
2. Die Beschwerdeführerin bringt vor, das Kantonsgericht habe die Frist, innert welcher ein Entscheid über die aufschiebende Wirkung hätte gefällt werden müssen, nicht eingehalten. Nur mit einer sofortigen Erteilung der aufschiebenden Wirkung hätten die Entlassung des Beschuldigten aus der Haft und anschliessende Kollusionshandlungen verhindert werden können. Mit seinem Vorgehen habeBGE 137 IV 237 (240) BGE 137 IV 237 (241)das Kantonsgericht der Staatsanwaltschaft das Recht abgeschnitten, rechtswirksam Beschwerde gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts erheben zu können, da auch bei einer Gutheissung der Beschwerde die Entlassung des Beschuldigten und die Kollusionshandlungen nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Indem das Kantonsgericht erst am Tag nach der Haftentlassung des Beschuldigten entschieden habe, habe es das Verbot der Rechtsverzögerung (Art. 29 Abs. 1 BV) verletzt.
2.2.1 In Fällen, in welchen zwischen dem Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts und dem Zeitpunkt der Haftentlassung mehrere Stunden oder Tage liegen, erscheint es bei unverzüglicher Einreichung der Beschwerde durch die Staatsanwaltschaft (sofortige Überbringung, elektronische Einreichung) möglich, dass die Beschwerdeinstanz noch vor der Entlassung des Beschuldigten vorsorglich die Fortführung der Haft anordnet (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_258/2011 vom 24. Mai 2011). Eine solche "superprovisorische" Haftanordnung durch die Beschwerdeinstanz gestützt auf Art. 388 lit. b StPO setzt voraus, dass die Staatsanwaltschaft die Beschwerdefrist gemäss Art. 396 StPO nicht ausschöpft, sondern die Beschwerde unmittelbar nach Kenntnis des Haftentlassungsentscheids einreicht und zumindest vorläufig, aber dennoch rechtsgenügend begründet (Art. 384 i.V.m. Art. 396 Abs. 1 StPO). Zudem darf sich die Staatsanwaltschaft nicht auf einen Antrag um aufschiebende Wirkung (Art. 387 StPO) beschränken. Vielmehr muss sie in der Regel ausdrücklich die Anordnung der Haft durch die Beschwerdeinstanz beantragen. Diesen nach Art. 388 lit. b StPO zulässigen Antrag hat die Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz superprovisorisch, d.h. ohne vorherige Anhörung der beschuldigten Person zu behandeln, wenn dies zum Schutz des Untersuchungszwecks notwendig ist. Spätestens anschliessend an eine solche vorsorgliche Haftanordnung muss der beschuldigten Person in jedem Fall das rechtliche Gehör gewährt werden (Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO; Art. 29 Abs. 2 BV). Nach dieser Gehörswahrung hat die Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz unverzüglich in Anwendung von Art. 388 lit. b StPO einen neuen vorsorglichen Entscheid über die Untersuchungshaft zu treffen, wenn die Haftsache vor der Beschwerdeinstanz noch nicht entscheidungsreif ist (BGE 137 IV 230 E. 2.2.1 S. 234).
2.2.2 Eine Regelung, wie sie Art. 231 Abs. 2 StPO für die Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen Urteil vorsieht, besteht für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft nach dem Freilassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts nicht. Eine analoge Anwendung von Gesetzesbestimmungen, die sich zuungunsten des Beschuldigten auswirken würde, wäre mit dem Legalitätsprinzip nichtBGE 137 IV 237 (242) BGE 137 IV 237 (243)vereinbar (vgl. GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I: Die Straftat, 3. Aufl. 2005, § 4 N. 33). Hinzu kommt, dass das Antragsrecht der Staatsanwaltschaft gemäss Art. 231 Abs. 2 StPO nach der Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts explizit auf das erstinstanzliche Verfahren beschränkt ist (BBl 2006 1235). Auch aus diesem Grund kann eine analoge Anwendung im Untersuchungsverfahren nicht in Frage kommen (BGE 137 IV 230 E. 2.2.2 S. 234).
BGE 137 IV 237 (244)2.4 Dieser Auffassung ist grundsätzlich zuzustimmen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 1B_258/2011 vom 24. Mai 2011 E. 2.3). Das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft kann nur dann wirksam ausgeübt werden, wenn der Beschuldigte zumindest zu Beginn des Beschwerdeverfahrens noch in Haft ist und die Beschwerdeinstanz in die Lage versetzt wird, über dessen Freilassung im Rahmen des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung war unter den vorliegenden Umständen jedoch nicht geeignet, die Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft zu verhindern. Die Behandlung eines solchen Gesuchs setzt zumindest den Beizug und die Prüfung der Verfahrensakten durch die Beschwerdeinstanz voraus. Dazu reichte die zur Verfügung stehende kurze Zeit zwischen Einreichung der Beschwerde und Entlassung des Angeschuldigten nicht aus. Insoweit geht der von der Staatsanwaltschaft erhobene Vorwurf der Rechtsverzögerung fehl.
Zur Gewährleistung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft erscheint es erforderlich, die Freilassung des Angeschuldigten aufzuschieben, bis die Beschwerdeinstanz über die Fortdauer der Haft während des Beschwerdeverfahrens im Sinne von Art. 388 lit. b StPO wenigstens superprovisorisch entscheiden kann. Vor dem Hintergrund des Anspruchs des Angeschuldigten auf unverzügliche Freilassung gemäss Art. 226 Abs. 5 StPO muss die Staatsanwaltschaft ihre Beschwerde bei der Beschwerdeinstanz unmittelbar nach Kenntnis des Haftentlassungsentscheids einreichen und die notwendigen und unaufschiebbaren verfahrensleitenden und vorsorglichen Massnahmen beantragen (Art. 388 StPO; s. E. 2.2.1 hiervor). Das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft beinhaltet, dass die Untersuchungshaft nach dem Freilassungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts bis zur sofortigen Beschwerdeerhebung durch die Staatsanwaltschaft bei der Beschwerdeinstanz fortbesteht. Nur auf diese Weise kann das in Art. 81 i.V.m. Art. 111 BGG und Art. 222 StPO verankerte Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft wirksam ausgeübt werden. Nach dem Eingang der Beschwerde hat die zuständige Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz die erforderlichen Anordnungen im Sinne von Art. 388 StPO zu erlassen. Solche Anordnungen müssen aus Gründen der Dringlichkeit meist ohne Anhörung der betroffenen Person als superprovisorische Verfügung ergehen. Sie sind anschliessend nach Gewährung des rechtlichen Gehörs zu bestätigen oder zu ändern (vgl. E. 2.2.1 hiervor).BGE 137 IV 237 (244)
BGE 137 IV 237 (245)2.5 Eine von der Staatsanwaltschaft unmittelbar nach Kenntnis des Haftentlassungsentscheids, aber vor der tatsächlichen Entlassung des Beschuldigten eingereichte Beschwerde hat somit zur Folge, dass die Untersuchungshaft vorläufig weiterbesteht, bis die zuständige Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz (superprovisorisch) über weitere Massnahmen im Sinne von Art. 388 StPO entscheiden kann. Es handelt sich dabei in der Regel um eine Verlängerung der Haft um einige Stunden, was im Interesse der Erreichung des Untersuchungszwecks bei bestehenden Haftgründen und zur Gewährleistung eines wirksamen Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft mit Art. 226 Abs. 5 StPO vereinbar erscheint. Da dieser Aufschub der Freilassung zur Gewährleistung des vom Gesetz vorausgesetzten wirksamen Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft unabdingbar ist, steht ihm auch Art. 387 StPO nicht entgegen. In diesem Sinne ist die genannte aufschiebende Wirkung Teil des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft. Sie ist zeitlich eng begrenzt bis die Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz in der Lage ist, über Massnahmen nach Art. 388 StPO zu entscheiden (vgl. BGE 137 IV 230 E. 2.3 S. 245).BGE 137 IV 237 (245)