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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 2.3
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29. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y. GmbH und Staatsanwaltschaft Basel- Landschaft (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
1B_704/2011 vom 11. Juli 2012
 
 
Regeste
 
Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO; Parteientschädigung nach Einstellung des Strafverfahrens.
 
Der vom Verteidiger betriebene Aufwand hat sich in aus juristischer Sicht einfachen Fällen auf ein Minimum zu beschränken; allenfalls muss es bei einer einfachen Konsultation sein Bewenden haben. Nur in Ausnahmefällen jedoch wird bei Verbrechen und Vergehen schon der Beizug eines Anwalts an sich als nicht angemessene Ausübung der Verfahrensrechte bezeichnet werden können (E. 2.3.5).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 138 IV 197 (198)A. Am 23. März 2011 erstattete die Y. GmbH gegen X. Strafanzeige wegen Sachbeschädigung. Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft eröffnete ein Strafverfahren, stellte dieses jedoch mit Verfügung vom 11. August 2011 wieder ein. Zur Begründung führte sie aus, X. werde vorgeworfen, am 23. März 2011 um 16.15 Uhr an der A.strasse in Binningen den dort geparkten Personenwagen der Y. GmbH an der Heckklappe mit einer Plastikauszugsleine zerkratzt zu haben. Dabei sei ein Sachschaden in der Höhe von Fr. 1'142.30 (zzgl. 8 % MwSt) entstanden. Zum erwähnten Zeitpunkt sei X. von einem Spaziergang nach Hause gekommen, wobei er einen Hund an einer Plastikauszugsleine geführt habe. Er sei am Heck des Personenwagens vorbeigegangen. Auf dessen Führersitz sei ein Angestellter der Y. GmbH gesessen und habe einen Arbeitsrapport ausgefüllt. Der Angestellte habe später ausgesagt, er habe ein metallisches Geräusch wahrgenommen, jedoch nichts gesehen und sei erst rund zwei, drei Minuten später ausgestiegen. Er habe an der Hecktüre einen Schaden bemerkt, von dem er angenommen habe, er stamme von X. Die Staatsanwaltschaft kam zum Schluss, da der Beschuldigte den Vorwurf bestreite und dieser ihm nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen werden könne, sei das Verfahren einzustellen. Die Verfahrenskosten seien auf die Staatskasse zu nehmen (Ziff. 3 der Verfügung) und der beschuldigten Person sei keine Entschädigung oder Genugtuung auszurichten (Ziff. 4 der Verfügung).BGE 138 IV 197 (198)
BGE 138 IV 197 (199)Am 22. August 2011 erhob X. Beschwerde beim Kantonsgericht Basel-Landschaft und beantragte, es sei Ziff. 4 der Einstellungsverfügung aufzuheben und es sei ihm eine Entschädigung von Fr. 2'880.45 auszurichten. Mit Beschluss vom 1. November 2011 wies das Kantonsgericht die Beschwerde ab.
B. Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 13. Dezember 2011 beantragt X., der Beschluss des Kantonsgerichts sei aufzuheben. Es sei ihm für das Verfahren vor der Staatsanwaltschaft eine Entschädigung von Fr. 2'880.45 und für das Verfahren vor dem Kantonsgericht eine solche von Fr. 2'000.- auszurichten. (...)
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurück.
(Auszug)
 
 
Erwägung 2
 
2.2 Der Beschwerdeführer erblickt im Beschluss des Kantonsgerichts eine Verletzung von Art. 429 Abs. 1 StPO, von Art. 9 und Art. 32 Abs. 1 BV sowie von Art. 6 Ziff. 3 lit. b EMRK. Es sei jeder beschuldigten Person zuzugestehen, nach Einleitung einer Strafuntersuchung, die ein Verbrechen oder ein Vergehen zum Gegenstand habe und welche nach einer ersten Einvernahme nicht eingestellt, sondern weitergeführt werde, einen Anwalt beizuziehen. Er sei der Sachbeschädigung, also eines Vergehens, beschuldigt worden. Zu diesem Vorwurf sei er anlässlich der ersten Einvernahme vom 29. MärzBGE 138 IV 197 (199) BGE 138 IV 197 (200)2011 von der Polizei Basel-Landschaft befragt worden, jedoch nur als Auskunftsperson. Erst als die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft am 13. April 2011 die Eröffnung des Vorverfahrens verfügte, habe er sich gezwungen gesehen, einen Anwalt zu beauftragen. Nach der Eröffnung des Vorverfahrens habe am 27. April 2011 die Befragung einer Auskunftsperson und am 9. Juni 2011 erneut eine Einvernahme von ihm selber stattgefunden. Sein Anwalt habe an beiden Einvernahmen teilgenommen und vom Fragerecht Gebrauch gemacht. Erst am 11. August 2011, nach insgesamt drei Einvernahmen, sei das Verfahren gegen ihn eingestellt worden.
 
Erwägung 2.3
 
Laut der Botschaft des Bundesrats setzt Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO die Rechtsprechung um, wonach der Staat die entsprechenden Kosten nur übernimmt, wenn der Beistand angesichts der tatsächlichen oder der rechtlichen Komplexität notwendig war und wenn der Arbeitsaufwand und somit das Honorar des Anwalts gerechtfertigt waren (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1329 Ziff. 2.10.3.1). Dieser Hinweis in der bundesrätlichen Botschaft ist für die Interpretation von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO insofern wenig hilfreich, als sich das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung zur Frage der Entschädigung zum einen im Wesentlichen auf eine Willkürprüfung der Anwendung von kantonalem Strafprozessrecht beschränkte und zum andern die kantonalen Regelungen durchaus nicht identisch waren, wie sich anhand folgender Beispiele aufzeigen lässt: Nach § 43 Abs. 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321) hatte ein Angeschuldigter, dem wesentliche Kosten und Umtriebe entstanden sind, Anspruch auf Entschädigung. Das Bundesgericht hielt dazu fest, die Zürcher Praxis, wonach Kosten der privaten Verteidigung in Übertretungsstrafsachen nur dann als "wesentliche Kosten und Umtriebe" im Sinne von § 43 Abs. 2 StPO/ZH zu qualifizieren sind, wenn tatsächliche oder rechtlicheBGE 138 IV 197 (200) BGE 138 IV 197 (201)Schwierigkeiten den Beizug eines Anwaltes als sachlich geboten erscheinen lassen, sei nicht schlechterdings unhaltbar bzw. willkürlich (Urteil 1P.482/1996 vom 11. November 1996 E. 1c). Andere kantonale Strafprozessordnungen regelten den Anspruch auf Entschädigung in Form einer Kann-Bestimmung (so etwa das Gesetz des Kantons Basel-Landschaft vom 3. Juni 1999 betreffend die Strafprozessordnung [StPO/BL; SGS 251] in § 33 Abs. 1: "Wird die angeschuldigte Person freigesprochen, wird das Verfahren eingestellt oder wird ihm keine Folge gegeben, kann ihr die mit der Beendigung des Verfahrens befasste Behörde auf Antrag eine angemessene Entschädigung für ungerechtfertigte Haft, für Anwaltskosten sowie für anderweitige Nachteile zusprechen."). Zum früheren sankt-gallischen Recht führt OBERHOLZER aus, dass ein Anspruch auf Ersatz der Vertretungskosten unabhängig davon gewährleistet gewesen sei, ob der Beizug eines Verteidigers im Untersuchungs- oder Gerichtsverfahren aufgrund der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten notwendig war oder nicht (NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2005, Rz. 1839).
Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO, der mit Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 die kantonalen Entschädigungsregelungen ablöste, wurde in den parlamentarischen Beratungen diskussionslos angenommen (AB 2006 S 1059; AB 2007 N 1032). Insgesamt ist deshalb festzuhalten, dass die Materialien der Gesetzgebung nur in beschränktem Masse Anhaltspunkte für die Auslegung bieten. Von einer Rechtsprechung, an die eins zu eins angeknüpft werden könnte, kann nach dem Gesagten kaum die Rede sein. Immerhin geht aus der Botschaft hervor, dass nach Ansicht des Bundesrats die tatsächliche und rechtliche Komplexität des Falls eine Rolle spielen soll.
2.3.2 Eine Durchsicht der Fachliteratur ergibt folgendes Bild: KÜNG, RIKLIN und SCHMID verweisen im Wesentlichen auf die in der Botschaft dargelegte Interpretation (HANSPETER KÜNG, in: Kommentierte Textausgabe zur schweizerischen Strafprozessordnung [StPO] vom 5. Oktober 2007, Peter Goldschmied und andere [Hrsg.], 2008, Art. 429 StPO; FRANZ RIKLIN, Schweizerische Strafprozessordnung, 2010, N. 3 zu Art. 429 StPO; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, 2009, N. 7 zu Art. 429 StPO). GRIESSER geht ebenfalls vom Ansatz der Botschaft aus und fügt bei, nach heutigem Verständnis werde man - abgesehen von Bagatellfällen - jeder beschuldigten Person zubilligen, dass sie nach Einleitung einerBGE 138 IV 197 (201) BGE 138 IV 197 (202)Strafuntersuchung, die Verbrechen oder Vergehen zum Gegenstand habe und die nach einer ersten Einvernahme nicht eingestellt worden sei, einen Anwalt beiziehe. Diese Grundsätze sollten zudem auch für Übertretungen gelten (jedenfalls wenn es zu einem gerichtlichen Verfahren komme), wobei die Frage der Angemessenheit nach der Schwere der Anschuldigung in persönlicher und sachlicher Hinsicht zu beurteilen sei (YVONA GRIESSER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 4 zu Art. 429 StPO). Ähnlich ist die Auffassung von MIZEL und RÉTORNAZ, wonach sich die anwaltliche Vertretung bei Verbrechen und Vergehen prinzipiell und bei Übertretungen dann rechtfertigt, wenn für den Beschuldigten einiges auf dem Spiel steht (MIZEL/RÉTORNAZ, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 31 zu Art. 429 StPO). Nach WEHRENBERG und BERNHARD ist es ebenfalls gerechtfertigt, jedem Beschuldigten zuzugestehen, nach Einleitung einer Strafuntersuchung, die ein Verbrechen oder Vergehen zum Gegenstand hat und die nach einer ersten Einvernahme nicht eingestellt, sondern weitergeführt wird, einen Anwalt beizuziehen. Da es immer schwieriger und gleichzeitig immer wichtiger werde, nicht nur das Gesetz, sondern auch die Rechtsprechung dazu zu kennen und dies in der Regel einem Laien nicht zugemutet werden könne, könne von diesem auch nicht verlangt werden, sich selbst zu verteidigen. Vielmehr sei es in Nachachtung des Anspruchs auf Waffengleichheit der beschuldigten Person zu ermöglichen, einen Verteidiger beizuziehen. Ausserdem könne zu Beginn eines Verfahrens nur schwer abgeschätzt werden, ob Komplikationen entstehen werden. Für eine wirksame Verteidigung sei es zudem in der Regel wesentlich, möglichst früh im Verfahren damit beginnen zu können (WEHRENBERG/BERNHARD, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 14 zu Art. 429 StPO).
2.3.5 Die in der Literatur erkennbare Stossrichtung, einem Beschuldigten in der Regel den Beizug eines Anwalts zuzubilligen, jedenfalls von einer bestimmten Schwere des Deliktsvorwurfs an, erscheint sachlich gerechtfertigt. Es darf nicht vergessen werden, dass es im Rahmen von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO um die Verteidigung einer vom Staat zu Unrecht beschuldigten und gegen ihren Willen in ein Strafverfahren einbezogenen Person geht (hat die beschuldigte Person die Einleitung des Verfahrens rechtswidrig und schuldhaft bewirkt, so kann die Entschädigung gemäss Art. 430 Abs. 1 lit. a StPO trotz vermuteter Unschuld herabgesetzt oder verweigert werden). Das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht sind zudem komplex und stellen insbesondere für Personen, die das Prozessieren nicht gewohnt sind, eine Belastung und grosse Herausforderung dar. Wer sich selbst verteidigt, dürfte deshalb prinzipiell schlechter gestellt sein. Dies gilt grundsätzlich unabhängig von der Schwere des Deliktsvorwurfs. Auch bei blossen Übertretungen darf deshalb nicht generell davon ausgegangen werden, dass die beschuldigte Person ihre Verteidigerkosten als Ausfluss einer Art von Sozialpflichtigkeit selbst zu tragen hat. Im Übrigen sind beim Entscheid über die Angemessenheit des Beizugs eines Anwalts neben der Schwere des Tatvorwurfs und der tatsächlichen und rechtlichen Komplexität des Falls insbesondere auch die Dauer des Verfahrens und dessen Auswirkungen auf die persönlichen und beruflichen Verhältnisse der beschuldigten Person zu berücksichtigen.
Was die Angemessenheit des vom Anwalt betriebenen Aufwands betrifft, so wird sich dieser in aus juristischer Sicht einfachen FällenBGE 138 IV 197 (203) BGE 138 IV 197 (204)auf ein Minimum beschränken; allenfalls muss es gar bei einer einfachen Konsultation sein Bewenden haben. Nur in Ausnahmefällen wird bei Verbrechen und Vergehen schon der Beizug eines Anwalts an sich als nicht angemessene Ausübung der Verfahrensrechte bezeichnet werden können. Diesbezüglich sei auf den in der Literatur erwähnten Fall hingewiesen, wo das Verfahren bereits nach einer ersten Einvernahme eingestellt wird. Wann konkret von einem derartigen Ausnahmefall auszugehen ist, braucht indessen vorliegend nicht abschliessend erörtert zu werden.
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen gebietet Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO in einer solchen Situation, dass demBGE 138 IV 197 (204) BGE 138 IV 197 (205)Beschwerdeführer eine Entschädigung zugesprochen wird. Die Rüge des Beschwerdeführers, die Vorinstanz habe diese Bestimmung verletzt, erweist sich deshalb als begründet. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben, und es kann offenbleiben, wie es sich mit den weiteren erwähnten Rügen verhält.BGE 138 IV 197 (205)