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Regeste
Sachverhalt
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2. (...) ...
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13. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und B. (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_1404/2020 vom 17. Januar 2022
 
 
Regeste
 
Art. 11 Abs. 1, Art. 119 Abs. 2 lit. a, Art. 319 Abs. 1 lit. a, Art. 320 Abs. 4, Art. 324 Abs. 2, Art. 333 Abs. 1 StPO; Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK; Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II; Teileinstellungsverfügung; Grundsatz "ne bis in idem"; Anklageergänzung nach einem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid.
 
Eine Anklageergänzung in Anwendung von Art. 333 Abs. 1 StPO ist bei Verfahren ohne Beteiligung von Privatklägern nur in engen Grenzen möglich, wenn es darum geht, ungerechtfertigte Freisprüche zu verhindern. Hingegen darf die Privatklägerschaft ihren Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person im Gerichtsverfahren bei einer ihrer Ansicht nach ungenügenden Anklage auch mittels eines Antrags auf Ergänzung der Anklage im Sinne einer qualifizierten Tatbegehung bzw. einer härteren rechtlichen Qualifikation durchsetzen (E. 2.6.7).
 
Vorliegend ersuchte der Privatkläger im kantonalen Verfahren, sowohl erst- als auch zweitinstanzlich, wiederholt um Ergänzung der Anklage, wobei sein Antrag im kantonalen Verfahren nicht korrekt behandelt wurde, da die Staatsanwaltschaft weder die Anklage ergänzte noch eine anfechtbare Teileinstellungsverfügung erliess. Unter diesen Umständen ist eine Änderung bzw. Ergänzung der Anklage auch nach dem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid, mit welchem der vorinstanzliche Schuldspruch auf Beschwerde der beschuldigten Person hin wegen Verletzung des Anklageprinzips aufgehoben wurde, noch möglich (E. 2.6.8).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 IV 124 (127)A. Das Bezirksgericht Aarau erklärte A. mit Urteil vom 10. April 2019 des Raubs gemäss Art. 140 Ziff. 1 StGB (Anklageziffer 1), der einfachen Körperverletzung gemäss Art. 123 Ziff. 1 StGB (Anklageziffer 1), der qualifizierten einfachen Körperverletzung gemäss Art. 123 Ziff. 2 Abs. 2 StGB (Anklageziffer 3), der mehrfachen Widerhandlung gegen das Bundesgesetz vom 20. Juni 1997 über Waffen, Waffenzubehör und Munition (Waffengesetz, WG; SR 514.54) gemäss Art. 33 Abs. 1 lit. a WG (Anklageziffer 4), der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (SR 812.121) gemäss Art. 19 Abs. 1 BetmG (Anklageziffer 5), der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz gemäss Art. 19a BetmG (Anklageziffer 5) und der versuchten Hinderung einer Amtshandlung gemäss Art. 286 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB (Anklageziffer 6) schuldig. Es widerrief die von der Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau am 17. August 2016 bedingt ausgesprochenen Strafen und verurteilte A. als Gesamtstrafe zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren, einer unbedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 30.- und einer Busse von Fr. 800.-. Zudem ordnete es die Landesverweisung für die Dauer von sieben Jahren sowie die Ausschreibung derselben im Schengener Informationssystem (SIS) an. Im Zivilpunkt nahm das Bezirksgericht u.a. davon Vormerk, dass A. die Genugtuungsforderung von B. im Umfang von Fr. 5'000.- anerkannte. Die übrigen von B. geltend gemachten Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche verwies es auf den Zivilweg.
A. und B. erhoben gegen das Urteil Berufung und die Staatsanwaltschaft Anschlussberufung.
B. Das Obergericht des Kantons Aargau sprach A. am 22. Oktober 2020 bezüglich Anklageziffer 3 in Gutheissung der Berufung von B. und der Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft der versuchten schweren Körperverletzung gemäss Art. 122 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB schuldig. Es bestätigte den Schuldspruch wegen Raubes (Anklageziffer 1) und verurteilte A. in Berücksichtigung der übrigen,BGE 148 IV 124 (127) BGE 148 IV 124 (128)unangefochten gebliebenen Schuldsprüche zu einer Freiheitsstrafe von 4½ Jahren, einer unbedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 10.- und einer Busse von Fr. 300.-. Es verwies A., wie bereits die erste Instanz, für sieben Jahre des Landes und ordnete die Ausschreibung der Landesverweisung im SIS an. Die Genugtuungsforderung von B. von Fr. 10'000.- hiess es im Umfang von Fr. 5'000.- gut. Im Übrigen verwies es dessen Zivilforderungen auf den Zivilweg.
C. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, er sei von den Vorwürfen des Raubes (Anklageziffer 1) und der versuchten schweren Körperverletzung (Anklageziffer 3) freizusprechen und zu einer Freiheitsstrafe von höchstens 36 Monaten zu verurteilen. Auf eine Landesverweisung und die Ausschreibung im SIS sei zu verzichten. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. A. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
D. Die Vorinstanz und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichteten auf eine Stellungnahme. B. liess sich nicht vernehmen.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und im Übrigen abgewiesen.
 
BGE 148 IV 124 (129)2.6.2 Die StPO unterscheidet folglich zwischen der Verbesserung einer nicht ordnungsgemäss erstellten Anklageschrift durch Ergänzung oder Berichtigung (Art. 329 Abs. 1 lit. a und Abs. 2 StPO), der Änderung oder Ergänzung der Anklage bezüglich der bereits angeklagten Tat (Anklageänderung bzw. -ergänzung, Art. 333 Abs. 1 StPO) und der Erweiterung der Anklage um eine zusätzliche Straftat (Anklageerweiterung, Art. 333 Abs. 2 StPO). Art. 333 Abs. 1 StPO gelangt zur Anwendung, wenn der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen (Umqualifizierung) - oder, bei echter Konkurrenz, einen zusätzlichen - Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht (BGE 147 IV 167 E. 1.4). Art. 333 Abs. 2 StPO ermöglicht es demgegenüber, zusätzliche Straftaten der beschuldigten Person, die während des gerichtlichen Verfahrens entdeckt worden sind, nachträglich einzubeziehen, statt sie einem weiteren Verfahren vorzubehalten, wenn die Prozessökonomie dies nahelegt (BGE 147 IV 167 E. 1.5.1).
BGE 148 IV 124 (129)
BGE 148 IV 124 (130)2.6.4 Zwar steht der Strafanspruch nach der Rechtsprechung allein dem Staat zu (BGE 141 IV 380 E. 2.3.4 mit Hinweisen). Die Privatklägerschaft kann einen Entscheid hinsichtlich der ausgesprochenen Sanktion daher nicht anfechten (Art. 382 Abs. 2 StPO). Sie hat im Strafverfahren indes ebenfalls gewisse Rechte. Sie kann sich als Strafklägerin konstituieren und die Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person verlangen (Strafklage; Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO). In diesem Rahmen kann sie sich auch zur rechtlichen Würdigung der Tat äussern und einen zu Unrecht erfolgten erstinstanzlichen Freispruch oder eine ihres Erachtens zu milde rechtliche Würdigung durch das erstinstanzliche Gericht unabhängig von allfälligen Zivilforderungen mittels Berufung anfechten (vgl. Art. 382 Abs. 1 StPO und Art. 382 Abs. 2 StPO e contrario; BGE 141 IV 231 E. 2.5; BGE 139 IV 84 E. 1.1, BGE 139 IV 78 E. 3.3.3). Weiter kann sie sich unabhängig von der Geltendmachung von Zivilansprüchen gegen eine Nichtanhandnahme (Art. 310 StPO) oder Einstellung (Art. 319 ff. StPO) des Strafverfahrens mit Beschwerde im Sinne von Art. 393 ff. StPO zur Wehr setzen (vgl. Art. 104 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 310 Abs. 2 und Art. 322 Abs. 2 StPO; BGE 146 IV 76 E. 2.2.2; BGE 144 IV 240 E. 2.3.1; BGE 141 IV 231 E. 2.5). Nach der Rechtsprechung ist die Privatklägerschaft zudem zur Einsprache gegen einen Strafbefehl legitimiert, wenn sie an der Aufhebung oder Änderung des Strafbefehls ein rechtlich geschütztes Interesse hat. Ein solches rechtlich geschütztes Interesse bejaht das Bundesgericht in analoger Anwendung der Rechtsprechung zu Art. 382 Abs. 1 StPO bei einer zu milden rechtlichen Qualifikation, auch wenn die Privatklägerschaft im Strafverfahren keine Zivilforderungen geltend machte bzw. geltend zu machen gedachte bzw. allfällige Zivilforderungen zuvor zurückzog (vgl. zum Ganzen: BGE 141 IV 231). Das Bundesgericht stellt hierfür auf die Lehre ab, wonach die Privatklägerschaft einen persönlichkeitsrechtlichen Anspruch auf Feststellung des zugefügten Unrechts hat und daher unabhängig von Auswirkungen der rechtlichen Qualifikation auf ihre Zivilforderungen Einsprache gegen einen Strafbefehl erheben können muss (BGE 141 IV 231 E. 2.4 mit Hinweisen).
2.6.5 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang schliesslich die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur (impliziten) Teileinstellung. Danach muss die Staatsanwaltschaft sowohl einen Strafbefehl als auch eine beschwerdefähige, formelle Teileinstellungsverfügung erlassen, wenn sie nur einen Teil der vom Opfer behaupteten TatenBGE 148 IV 124 (130) BGE 148 IV 124 (131)verfolgt. Werden nach einem tätlichen Übergriff beispielsweise nicht alle vom Opfer geltend gemachten Verletzungen geahndet, ist die Staatsanwaltschaft bezüglich der unberücksichtigt gebliebenen Verletzungen zum Erlass einer expliziten Teileinstellungsverfügung verpflichtet (BGE 138 IV 241 E. 2.4 f. betreffend einen Strafbefehl wegen des verursachten Sturzes des Opfers sowie Schlägen gegen dessen Oberkörper und Kopf sowie wegen den damit einhergehenden Schürfungen und Prellungen; implizite Einstellung des Verfahrens bezüglich des vom Opfer als Folge der gleichen Tathandlungen behaupteten Schädeltraumas). Diese Rechtsprechung geht zurück auf BGE 130 IV 90, wonach Opfer gestützt auf Art. 8 Abs. 1 lit. b des früheren Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (aOHG; AS 1992 2465) einen Anspruch auf einen Entscheid eines Gerichts haben (BGE 130 IV 90 E. 2 und 3.2 betreffend einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung als Folge eines Strassenverkehrsunfalls und Einstellung des Verfahrens bezüglich der von den Angehörigen des Opfers geltend gemachten kausalen Todesfolge). An BGE 138 IV 241 hielt das Bundesgericht auch in seiner jüngeren Rechtsprechung fest (vgl. etwa Urteile 6B_56/2020 vom 16. Juni 2020 E. 1.3.2; 6B_1012/2020 vom 8. April 2021 E. 4.1; 6B_819/2018 vom 25. Januar 2019 E. 1; 6B_1354/2017 vom 14. Juni 2018 E. 5).
Explizite Teileinstellungsverfügungen, die nicht den ganzen Lebenssachverhalt, sondern lediglich einzelne erschwerende Tatvorwürfe betreffen, erübrigen sich bei Verfahren ohne Beteiligung von Privatklägern, zumal mit einer solchen Teileinstellung auch keine Entschädigungspflicht im Sinne von Art. 429 StPO einhergeht. Sind am Verfahren auch Privatkläger beteiligt, kann eine explizite Teileinstellungsverfügung mit entsprechender Rechtsmittelbelehrung nach der Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anklage oder nach der Verweigerung der Anklageergänzung im gerichtlichen Verfahren (vgl. Art. 333 Abs. 1 StPO) demgegenüber zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft erforderlich sein, da diese damit über die Beschwerde im Sinne von Art. 322 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO die für den von ihr angestrebten Schuldspruch erforderliche Änderung oder Ergänzung der Anklage erreichen kann (vgl. BGE 138 IV 241 E. 2). Damit soll den Geschädigten und insbesondere den Opfern im Sinne von Art. 116 Abs. 1 StPO und Art. 1 Abs. 1 OHG (SR 312.5) ermöglicht werden, ihre Rechte im Strafverfahren geltend zu machen und einer ungenügenden Anklage mitBGE 148 IV 124 (131) BGE 148 IV 124 (132)impliziter Einstellung von rechtserheblichen Tatsachen entgegenzuwirken. Dies ist ohne Weiteres auch mit Art. 324 Abs. 2 StPO vereinbar, wonach die Anklageerhebung nicht anfechtbar ist, da sich allfällige Rechtsmittel der Privatkläger nicht gegen die Anklage, sondern gegen die implizite Einstellung, d.h. die unterlassene Anklage richten. Art. 324 Abs. 2 StPO bringt lediglich zum Ausdruck, dass es unter der StPO kein separates Anklagezulassungsverfahren vor einer Rechtsmittelinstanz gibt, Prozesshindernisse folglich vom Sachgericht zu prüfen sind (vgl. Art. 319 Abs. 1 lit. d und Art. 329 Abs. 1 lit. b StPO) und die beschuldigte Person z.B. die Frage, ob ein hinreichender Tatverdacht besteht, nicht zum Gegenstand eines separaten Rechtsmittelverfahrens machen kann, d.h. das Verfahren vor dem Sachgericht auch durchzuführen ist, wenn die Anklage nicht auf einem hinreichenden Tatverdacht basiert (vgl. dazu HEIMGARTNER/NIGGLI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 18 zu Art. 324 StPO).
2.6.6 Solche Teileinstellungsverfügungen machen entgegen BGE 144 IV 362 und dem dazu ergangenen Urteil 6B_888/2019 vom 9. Dezember 2019 - auch wenn sie ebenfalls den zur Anklage gebrachten Lebenssachverhalt betreffen und letztlich unangefochten blieben - einen Schuldspruch bezüglich der im gleichen Verfahren angeklagten Taten nicht unmöglich. Entscheidend ist, dass die Teileinstellungsverfügung auf die gleichzeitig erhobene oder bereits hängige Anklage bzw. den gleichzeitig erlassenen Strafbefehl Bezug nimmt und folglich als solche deklariert wird. Aus der Teileinstellungsverfügung muss hervorgehen, dass das Verfahren nicht als Ganzes, sondern lediglich bezüglich einzelner, nicht angeklagter, erschwerender Tatumstände betreffend etwa vom Opfer behauptete weitere Tathandlungen, zusätzliche Tatfolgen (z.B. zusätzliche Verletzungen) oder zusätzliche innere Tatsachen (z.B. ein über die verursachten Verletzungen hinausgehender Tötungswille des Täters) etc. eingestellt wird. Solche Teileinstellungsverfügungen dienen folglich nicht der Einstellung des gesamten Verfahrens, sondern der Fixierung des Gegenstands des gerichtlichen Verfahrens. BGE 144 IV 362 ist insofern zu relativieren, als sich die Sperrwirkung des Grundsatzes "ne bis in idem" (vgl. Art. 11 Abs. 1 i.V.m. Art. 320 Abs. 4 StPO, Art. 4 Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK [SR 0.101.07] sowie Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]) einer in Rechtskraft erwachsenen Teileinstellungsverfügung nur auf die konkret von der Teileinstellung betroffenen Tatsachen bezieht, nicht jedochBGE 148 IV 124 (132) BGE 148 IV 124 (133)auf die gleichzeitig zur Anklage gebrachten Vorwürfe (vgl. präzisierend bereits Urteil 6B_56/2020 vom 16. Juni 2020 E. 1.5.2 in fine; vgl. für die Wiederaufnahme von eingestellten Verfahren zudem: Art. 11 Abs. 2 und Art. 323 StPO; BGE 141 IV 194 E. 2.3). Eine solche restriktivere Auslegung des Grundsatzes "ne bis in idem" ist mit Art. 11 StPO sowie Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK und Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II ebenfalls vereinbar. Entsprechend hat sich das Bundesgericht von der Rechtsprechung, wonach eine Teileinstellung des Verfahrens zwingend den ganzen Lebensvorgang bzw. Lebenssachverhalt betrifft (Abgrenzungskriterium "gleicher oder anderer Lebensvorgang bzw. Lebenssachverhalt", vgl. BGE BGE 144 IV 362 E. 1.3.1; Urteile 6B_514/2020 vom 16. Dezember 2020 E. 1.3.4; 6B_888/2019 vom 9. Dezember 2019 E. 1.5), in jüngeren Entscheiden wiederholt distanziert (vgl. etwa Urteile 6B_1012/2020 vom 8. April 2021 E. 4 betreffend ein Fahrverhalten auf der Autobahn; 6B_74/2020 vom 24. September 2020 E. 2; 6B_459/2020 vom 1. September 2020 E. 2.4.3 betreffend einen sexuellen Übergriff; 6B_84/2020 vom 22. Juni 2020 E. 2.3 betreffend einen Strassenverkehrsunfall; 6B_56/2020 vom 16. Juni 2020 E. 1.5 betreffend eine tätliche Auseinandersetzung).
Die Vereinbarkeit von Schuldspruch und Teileinstellungsverfügung mit dem Grundsatz "ne bis in idem" ergibt sich auch daraus, dass eine Verfahrenseinstellung - auch wenn die Einstellungsverfügung (im Betreff) in der Regel einen gesetzlichen Straftatbestand erwähnt - immer in Bezug auf einen bestimmten Tatvorwurf und nicht hinsichtlich eines bestimmten Straftatbestandes bzw. einer rechtlichen Würdigung erfolgt (vgl. Art. 319 StPO). Das Gericht prüft die rechtliche Würdigung frei (vgl. Art. 350 Abs. 1 StPO). Indes geht eine mildere rechtliche Würdigung in der Regel auch mit einer günstigeren Einschätzung der Beweislage einher. Ist kein entsprechender Tatverdacht erhärtet (vgl. Art. 319 Abs. 1 lit. a StPO), erübrigen sich rechtliche Erwägungen. Auf eine tätliche Auseinandersetzung mit beweismässig strittigem Umfang der Verletzungsfolgen übertragen bedeutet dies zum Beispiel, dass die Teileinstellung nicht hinsichtlich des Tatbestands der schweren Körperverletzung im Sinne von Art. 122 StGB ergeht, sondern hinsichtlich konkreter, vom Opfer geltend gemachter (schwerer) Verletzungsfolgen, welche mangels eines hinreichenden Tatverdachts keinen Eingang in die Anklage fanden. Auch deshalb kann nicht gesagt werden, eine Teileinstellung erfasse zwingend immer den ganzen Lebenssachverhalt.BGE 148 IV 124 (133)
BGE 148 IV 124 (134)2.6.7 Ob Anklage zu erheben ist, richtet sich nach dem Grundsatz "in dubio pro duriore". Danach darf eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit oder offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden. Bei zweifelhafter Beweis- oder Rechtslage hat nicht die Staatsanwaltschaft über die Stichhaltigkeit des strafrechtlichen Vorwurfs zu entscheiden, sondern das zur materiellen Beurteilung zuständige Gericht (BGE 143 IV 241 E. 2.2.1; BGE 138 IV 186 E. 4.1, BGE 138 IV 86 E. 4.1 f.). Der Grundsatz "in dubio pro duriore" kommt auch bei der Frage zum Tragen, welche Vorwürfe im Einzelnen in die Anklage aufzunehmen sind sowie bei der Beurteilung einer von der Privatklägerschaft beantragten Änderung oder Ergänzung der Anklage (vgl. Art. 333 Abs. 1 StPO). Die Anklage muss im Rahmen des Grundsatzes "in dubio pro duriore" daher auch die Sichtweise der Privatklägerschaft wiedergeben (falls erforderlich veranschaulicht durch eine Haupt- und Eventualanklage, vgl. Art. 325 Abs. 2 StPO). Sie soll dem Sachgericht eine umfassende Beurteilung der Sache erlauben und insbesondere auch das rechtlich geschützte Interesse der Privatkläger berücksichtigen, ihren Standpunkt im gerichtlichen Verfahren geltend machen zu können. Die Staatsanwaltschaft darf eine Änderung oder Ergänzung der Anklage im Hinblick auf eine strengere rechtliche Würdigung demnach nicht willkürlich verweigern und muss im Zweifel nach dem Grundsatz "in dubio pro duriore" vorgehen.
Das Sachgericht kann die Staatsanwaltschaft nicht zur Änderung oder Erweiterung einer Anklage verpflichten, sondern ihr gemäss Art. 333 Abs. 1 StPO lediglich Gelegenheit dazu geben (Urteile 6B_787/2020 vom 21. Juli 2021 E. 2.3.2; 6B_719/2017 vom 10. September 2018 E. 2.2.2; 1B_96/2018 vom 24. Mai 2018 E. 2.3.3; STEPHENSON/ZALUNARDO-WALSER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 5a und 7 zu Art. 333 StPO). Dem Sachgericht ist es zudem untersagt, die Rolle der Anklage zu übernehmen (siehe dazu BGE 144 I 234 E. 5). Im Gerichtsverfahren gilt grundsätzlich das Immutabilitätsprinzip (vgl. nicht publ. E. 1.3). Das Sachgericht hat in der Regel daher nur darüber zu urteilen, ob die beschuldigte Person im Sinne der Anklage schuldig zu sprechen ist, und nicht aus eigener Initiative über eine Anklageergänzung nach Art. 333 Abs. 1 StPO eine härtere rechtliche Qualifikation anzustreben. Eine Anwendung von Art. 333 Abs. 1 StPO - der eine Durchbrechung des Immutabilitätsprinzips zurBGE 148 IV 124 (134) BGE 148 IV 124 (135)Folge hat - ist bei Verfahren ohne Beteiligung von Privatklägern nur in engen Grenzen möglich, wenn es darum geht, ungerechtfertigte Freisprüche zu verhindern, weil in der Anklage z.B. nicht alle Tatbestandselemente der angeklagten Straftat hinreichend umschrieben sind oder weil der an sich gleiche Lebensvorgang unter einen anderen Tatbestand zu subsumieren ist (vgl. STEPHENSON/ZALUNARDO-WALSER, a.a.O., N. 3 ff. zu Art. 333 StPO). Hingegen ist die Privatklägerschaft - anders als das Sachgericht - nicht zur Unparteilichkeit verpflichtet. Sie darf ihren Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person (vgl. Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO) im Gerichtsverfahren bei einer ihrer Ansicht nach ungenügenden Anklage auch mittels eines Antrags auf Ergänzung der Anklage im Sinne einer qualifizierten Tatbegehung bzw. einer härteren rechtlichen Qualifikation durchsetzen (vgl. oben E. 2.6.4 f.). Solche Anträge der Privatklägerschaft auf Ergänzung der Anklage hat das Sachgericht zu behandeln. Darüber, ob einem entsprechenden Antrag der Privatklägerschaft stattzugeben und der Staatsanwaltschaft entsprechend die Möglichkeit zur Anklageänderung bzw. -ergänzung einzuräumen ist, hat das Gericht nach pflichtgemässem Ermessen sowie in Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro duriore" zu befinden.
2.6.8 Zu beurteilen ist vorliegend eine Straftat gegen die körperliche Integrität. Beim Beschwerdegegner 2 handelt es sich daher um ein Opfer im Sinne von Art. 116 Abs. 1 StPO und Art. 1 Abs. 1 OHG. Der Beschwerdegegner 2 ersuchte im kantonalen Verfahren, sowohl erst- als auch zweitinstanzlich, wiederholt um Ergänzung der Anklage. Damit hat er die Frage der Anklageergänzung im Hinblick auf eine strengere rechtliche Qualifikation rechtzeitig bereits im erstinstanzlichen Verfahren aufgeworfen und seinen Antrag auch im Berufungsverfahren erneuert. Fraglich ist vorliegend, ob das Bezirksgericht den Antrag des Beschwerdegegners 2, der Staatsanwaltschaft sei Gelegenheit zur Anklageergänzung zu geben, korrekt behandelte, nachdem es der Staatsanwaltschaft für die Ergänzung der Anklage anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung lediglich 15 Minuten einräumte. Die Frage kann jedoch offenbleiben. Die Staatsanwaltschaft hat das Konzept der Anklageergänzung auf jeden Fall missverstanden, da sie zu Unrecht davon ausging, die Anklage sei allein durch den Protokollvermerk gültig in eine Anklage wegen versuchter schwerer Körperverletzung geändert worden. Diese Auffassung teilte angesichts des Vermerks im erstinstanzlichenBGE 148 IV 124 (135) BGE 148 IV 124 (136)Verhandlungsprotokoll vom 10. April 2019, wonach der Gerichtspräsident den Beschuldigten darüber aufklärte, dass nun auch eine schwere Körperverletzung angeklagt sei, zunächst auch das Bezirksgericht, was es im erstinstanzlichen Urteil jedoch zu Recht korrigierte.
Mangels einer expliziten Teileinstellungsverfügung mit Rechtsmittelbelehrung kann dem Beschwerdegegner 2 auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er die mit der Verweigerung der Anklageergänzung zum Ausdruck gebrachte implizite Teileinstellung (bezüglich der geltend gemachten lebensgefährlichen und irreversiblen Verletzungen bzw. bezüglich des Vorwurfs, der Beschwerdeführer habe lebensgefährliche Verletzungen, eine bleibende Schädigung oder anderweitige schwere Verletzungen gewollt oder zumindest in Kauf genommen) bisher nicht mit Beschwerde angefochten hat (vgl. BGE 138 IV 241 E. 2.6 f.; siehe zur Anfechtbarkeit einer impliziten Einstellung auch: Urteile 6B_84/2020 vom 22. Juni 2020 E. 2.1.3; 6B_819/2018 vom 25. Januar 2019 E. 1.3.5).
Unter diesen Umständen bleibt eine Änderung bzw. Ergänzung der Anklage auch nach dem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid noch möglich, da der Beschwerdegegner 2 eine solche sowohl erst- als auch zweitinstanzlich beantragte und sein Antrag bisher nicht korrekt behandelt wurde.
Daran ändert nichts, dass sich die Anklageergänzung auf die Beurteilung der Zivilforderungen im Strafverfahren nicht mehr auswirken kann, da der Beschwerdegegner 2 die teilweise Verweisung seiner Zivilforderungen auf den Zivilweg unangefochten liess, und dass im Rückweisungsverfahren angesichts des Verbots der "reformatio in peius" (vgl. Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO; BGE 146 IV 311 E. 3.6.3 mit Hinweisen) höchstens noch ein Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung, nicht jedoch wegen vollendeter schwerer Körperverletzung oder gar versuchter Tötung in Betracht kommt (vgl. oben E. 2.6.3). Zivilforderungen sind notwendige Voraussetzung für die Legitimation der Privatkläger zur Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG; BGE 143 IV 434 E. 1.2.3; BGE 141 IV 1 E. 1.1). Im kantonalen Verfahren kann das Opfer seine Rechte jedoch unabhängig von allfälligen Zivilforderungen geltend machen (vgl. oben E. 2.6.4).
Sollte der Beschwerdegegner 2 an seinem Antrag festhalten, hat die Vorinstanz im Rückweisungsverfahren daher erneut zu prüfen, ob der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zu geben ist, die Anklage inBGE 148 IV 124 (136) BGE 148 IV 124 (137)tatsächlicher Hinsicht um die subjektiven Elemente einer versuchten schweren Körperverletzung (vgl. nicht publ. E. 2.5.3) zu ergänzen.BGE 148 IV 124 (137)