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Regeste
Sachverhalt
B. Das Bezirksgericht Bülach stellte das Verfahren betreffend die rechtswidrige Einreise und den rechtswidrigen Aufenthalt am 26. November 2019 ein. Es sprach A. der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG; SR 142.20; vor dem 1. Januar 2019: Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer, Ausländergesetz, AuG) durch Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Ausweispapieren i.S.v. Art. 120 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 90 lit. c AIG schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 150.-.
1. (...) ...
Erwägung 1.4
Bearbeitung, zuletzt am 17.12.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
27. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_1361/2020 vom 28. März 2022
 
 
Regeste
 
Art. 8 Abs. 4 AsylG; Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Reisepapieren; Vorrang des AsylG gegenüber dem AuG bzw. AIG; Legalitätsprinzip.
 
Vorrang der Bestimmungen des AsylG gegenüber denjenigen des AuG gemäss Art. 2 Abs. 1 AuG (E. 1.4.2).
 
Die Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Reisepapieren i.S.v. Art. 8 Abs. 4 AsylG geht für einen rechtskräftig weggewiesenen Asylsuchenden derjenigen aus Art. 90 lit. c AuG vor (E. 1.4.3). Für die Verletzung der Mitwirkungspflicht i.S.v. Art. 8 Abs. 4 AsylG sieht das AsylG keine Strafnorm vor (E. 1.4.4).
 
Der gestützt auf Art. 120 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 90 lit. c AuG gegen den Beschwerdeführer als rechtskräftig weggewiesenen Asylsuchenden ergangene Schuldspruch verletzt Bundesrecht (E. 1.5).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 IV 281 (282)A. A. wird zusammengefasst vorgeworfen, er habe wissentlich gegen die Einreisevorschriften verstossen. Auf sein Asylgesuch wurde nicht eingetreten bzw. die dagegen erhobene Beschwerde vom Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 1. September 2017 abgewiesen. Trotz durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) angesetzter Ausreisefrist bis am 25. Oktober 2017 habe A. die Schweiz nicht verlassen und sei hier verblieben. Weiter wird ihm vorgeworfen, er habe sich während seines mehrjährigen Aufenthaltes in der Schweiz zu keinem Zeitpunkt darum bemüht, bei der iranischen Vertretung in der Schweiz Ausweispapiere zu beschaffen, obwohl er gewusst habe, dass er dazu verpflichtet gewesen wäre.
 
B. Das Bezirksgericht Bülach stellte das Verfahren betreffend die rechtswidrige Einreise und den rechtswidrigen Aufenthalt am 26. November 2019 ein. Es sprach A. der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz vom 16. Dezember 2005 über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG; SR 142.20; vor dem 1. Januar 2019: BundesgesetzBGE 148 IV 281 (282) BGE 148 IV 281 (283)über die Ausländerinnen und Ausländer, Ausländergesetz, AuG) durch Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Ausweispapieren i.S.v. Art. 120 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 90 lit. c AIG schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 150.-.
 
Auf Berufung hin stellte das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 29. September 2020 die teilweise Rechtskraft des Urteils des Bezirksgerichts Bülach vom 26. November 2019 fest. Es sprach A. der Widerhandlung gegen das Ausländergesetz i.S.v. Art. 120 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 90 lit. c AuG schuldig und verurteilte ihn ebenfalls zu einer Busse von Fr. 150.-.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1.4
 
Auch das Ausländergesetz enthält in Art. 90 eine Mitwirkungspflicht. Ausländerinnen und Ausländer sowie an Verfahren nach dem AuG beteiligte Dritte sind verpflichtet, an der Feststellung des für die Anwendung des AuG massgebenden Sachverhalts mitzuwirken. Sie müssen insbesondere Ausweispapiere (Art. 89 AuG) beschaffenBGE 148 IV 281 (284) BGE 148 IV 281 (285)oder bei deren Beschaffung durch die Behörden mitwirken (Art. 90 lit. c AuG). Eine vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Beschaffung der Ausweispapiere i.S.v. Art. 90 lit. c AuG wird mit Busse bestraft (Art. 120 Abs. 1 lit. e AuG).
Die Mitwirkungspflicht zur Beschaffung von Reisepapieren i.S.v. Art. 8 Abs. 4 AsylG geht für einen rechtskräftig weggewiesenen Asylsuchenden derjenigen aus Art. 90 lit. c AuG vor (Art. 2 Abs. 1 AuG; E. 1.4.2 oben).
1.4.4 Das AsylG enthält für die Verletzung der in Art. 8 Abs. 4 AsylG festgehaltenen Mitwirkungspflicht keine Sanktionsmöglichkeit. Mit Busse bestraft wird gemäss Art. 116 AsylG lediglich, wer die Auskunftspflicht verletzt, indem er wissentlich unwahre Angaben macht oder eine Auskunft verweigert (lit. a), sich einer von der zuständigen Stelle angeordneten Kontrolle widersetzt oder diese in anderer Weise verunmöglicht (lit. b), als asylsuchende Person einzig mit der Absicht, subjektive Nachfluchtgründe i.S.v. Art. 54 AsylG zu schaffen, öffentliche politische Tätigkeiten in der Schweiz entfaltet (lit. c) oder zu einer Straftat i.S.v. lit. c Hilfe geleistet hat, insbesondere durch Planung und Organisation (lit. d). Hingegen kann eine Verletzung der Mitwirkungspflicht i.S.v. Art. 8 Abs. 4 AsylG zu Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht Anlass geben. So kann zur Sicherung des Vollzugs eines erstinstanzlichen Weg- oder Ausweisungsentscheids oder einer erstinstanzlichen Landesverweisung eine ausländische Person in Ausschaffungshaft genommen werden, wenn konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass sie sich der Ausschaffung bzw. Wegweisung entziehen will, insbesondere weil sie der Mitwirkungspflicht nach Art. 90 lit. c AuG bzw. Art. 8 Abs. 1 lit. a oder Abs. 4 AsylG nicht nachkommt (Art. 76 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 AuG; HRUSCHKA, a.a.O., N. 12 zu Art. 8 AsylG mit Hinweis auf BGE 130 II 488 E. 3; Botschaft vom 13. Mai 1998 zum Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen im Asyl- und Ausländerbereich, BBl 1998 3229 f. Ziff. 2.1 [nachfolgend: Botschaft]; vgl. SIMON SCHÄDLER, Die Mitwirkungspflicht im Asylverfahren, AJP 2021 S. 794 mit Hinweis). Dies deckt sich mit dem Ziel der Mitwirkungspflicht aus Art. 8 Abs. 4 AsylG, dass nach einem negativen Ausgang des Asylverfahrens die Rückführung der ausländischen Person in ihren Heimatstaat nicht dadurch verzögert oder verhindert wird, indem sie die notwendige Mitwirkung zum Erlangen von Reisepapieren unterlässt (Botschaft, a.a.O., 3229 Ziff. 2.1;BGE 148 IV 281 (285) BGE 148 IV 281 (286)vgl. HRUSCHKA, a.a.O., N. 11 zu Art. 8 AsylG mit Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH).
Die Argumentation der Vorinstanz ist in dieser Hinsicht nicht stichhaltig. Zwar ist ihr insoweit beizupflichten, als das AuG für den Vollzug eines rechtskräftigen Wegweisungsentscheids teilweise zur Anwendung gelangt. Wird das Asylgesuch abgelehnt oder nicht darauf eingetreten, so verfügt das SEM in der Regel die Wegweisung aus der Schweiz und ordnet den Vollzug an. Im Übrigen finden für die Anordnung des Vollzugs der Wegweisung die Art. 83 f. desBGE 148 IV 281 (286) BGE 148 IV 281 (287)AuG (heute: AIG) Anwendung (Art. 44 AsylG). Art. 83 f. AuG regeln die Anordnung sowie die Beendigung der vorläufigen Aufnahme; eine allgemeine Verweisung auf das AuG (heute: AIG), und insbesondere auf dessen Strafbestimmungen i.S.v. Art. 120 AuG sowie dessen Mitwirkungspflicht i.S.v. Art. 90 lit. c AuG, findet sich im AsylG (weder in der bis zum 1. Januar 2019 noch in der heute geltenden Fassung) hingegen nicht.
Der Beschwerdeführer beanstandet zudem zu Recht auch die Erwägung der Vorinstanz, wonach nicht ersichtlich sei, inwiefern ein rechtskräftig weggewiesener, sich illegal in der Schweiz aufhaltender Asylsuchender anders zu behandeln sei als ein Ausländer ohne gültigen Aufenthaltstitel. Die Vorinstanz setzt sich weder mit dem Zweck noch mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten dieser beiden Bestimmungen auseinander, sondern belässt es bei einer blossen Darlegung ihrer eigenen Auffassung. Darauf ist nicht näher einzugehen. Überdies übersieht die Vorinstanz, dass das Bundesgericht im zitierten Urteil 6B_1055/2017 vom 9. November 2017 zwar eine Bestrafung eines rechtskräftig weggewiesenen Asylsuchenden nach Art. 120 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 90 lit. c AuG nicht beanstandet hat, dieser Entscheidung jedoch keine Auseinandersetzung mit der sich hier konkret stellenden Frage der Anwendbarkeit von Art. 120 Abs. 1 lit. e i.V.m. Art. 90 lit. c AuG auf rechtskräftig weggewiesene Asylsuchende zugrunde lag, sondern es dabei die Unmöglichkeit der Beschaffung der Ausweispapiere zu behandeln hatte.