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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. (...) ...
Erwägung 2
3. Die Schweiz prüft die Auslieferungsvoraussetzungen des EA ...
Erwägung 4
Erwägung 5
Bearbeitung, zuletzt am 17.12.2022, durch: DFR-Server (automatisch)
 
31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Bundesamt für Justiz, Fachbereich Auslieferung (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
1C_116/2022 vom 21. März 2022
 
 
Regeste
 
Art. 3 EMRK; Art. 10 Abs. 1 UNO-Pakt II; Art. 10 Abs. 3 BV; Art. 1, 26 Ziff. 1 und 3 EAUe; Art. 84 BGG; Auslieferung an Armenien; reziproke Anwendung eines Vorbehalts; Gesundheitszustand; diplomatische Garantien.
 
Pflicht zur Prüfung, ob der armenische Vorbehalt zu Art. 1 EAUe einer Auslieferung entgegensteht (E. 2).
 
Zusammenfassung der Grundsätze und Kriterien zu den diplomatischen Garantien (E. 3).
 
Anwendung dieser Praxis im vorliegenden Fall bei prekären Haftbedingungen, insbesondere der kritischen medizinischen Versorgung in den armenischen Gefängnissen, sowie beim Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, namentlich seiner chronischen Erkrankung (E. 4.1-4.5). Ungenügen der bisher eingeholten Garantien (E. 4.6).
 
Notwendigkeit einer zusätzlichen Garantie (E. 5.1). Die vom Bundesstrafgericht geforderte Zusatzgarantie kann nicht realisiert werden (E. 5.2-5.4). Rückweisung an das Bundesamt für Justiz (BJ) (E. 5.5).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 IV 314 (315)A. Am 2. Dezember 2019 liess die armenische Botschaft in Genf der Schweiz das Auslieferungsersuchen des stellvertretenden Generalstaatsanwalts der Republik Armenien vom 26. November 2019 zukommen, mit welchem dieser um Auslieferung des türkisch-armenischen Staatsangehörigen A. (geb. 1961) zu dessen Strafverfolgung wegen des Verdachts des Betrugs und der Geldwäscherei ersuchte. A. wird unter anderem vorgeworfen, an einem Betrug im Umfang von insgesamt EUR 10'980'000.- zu Lasten der armenischen Bank B. bzw. der iranischen Bank C. beteiligt gewesen zu sein, wobei er mindestens USD 50'000.- erhalten haben soll. Das Auslieferungsersuchen stützt sich auf den Haftbefehl bzw. den Beschluss des Gerichts der allgemeinen Gerichtsbarkeit von Kentron und Norq-Marash der Stadt Jerewan vom 27. Januar 2015.
Mit E-Mail vom 26. März 2020 teilte das Bundesamt für Justiz (BJ) dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit, es habe Berichte von staatlichen und nicht staatlichen Organisationen zur Menschenrechtslage im Allgemeinen und zu den Haftbedingungen in Armenien im Besonderen geprüft. Dabei habe festgestellt werden können, dass Armenien mehrere Probleme beim Strafvollzug habe, diese jedoch von der amtierenden RegierungBGE 148 IV 314 (315) BGE 148 IV 314 (316)angegangen würden. Ansonsten seien keine nennenswerten grundrechtsrelevanten Schwierigkeiten erkennbar, die eine Auslieferung verunmöglichen würden. Das BJ beabsichtige daher, das Auslieferungsverfahren gegen A. in die Wege zu leiten. Zuerst würden die armenischen Behörden allerdings um Abgabe von Garantien bezüglich Haftbedingungen ersucht. Mit vertraulichem Bericht vom 22. Juni 2020 stimmte das EDA der Einschätzung des BJ zu. Das BJ ersuchte mit diplomatischen Noten vom 1. Juli und vom 11. August 20 die armenischen Behörden um Übermittlung von diplomatischen Garantien. Dem kamen Letztere mit Eingabe vom 28. Juli und vom 2. September 2020 nach.
B. Das BJ ersuchte in der Folge die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau um Vorladung von A. zu einer Einvernahme zum Auslieferungsersuchen. Anlässlich der Einvernahme vom 3. Dezember 2020 verweigerte A. seine Zustimmung zur vereinfachten Auslieferung. Nach weiteren Abklärungen, insbesondere im Zusammenhang mit militärischen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan, verfügte das BJ am 18. August 2021 die Auslieferung von A. an Armenien. Die dagegen von A. an das Bundesstrafgericht erhobene Beschwerde wies dieses am 27. Januar 2022 ab (Dispositiv-Ziffer 1). Es gewährte den Vollzug der Auslieferung von A. an die Republik Armenien unter Vorbehalt folgender zusätzlicher Garantieerklärung: "Die Inhaftierung und der Strafvollzug des Beschwerdeführers erfolgen ausschliesslich in einem der Pilotgefängnisse der Reform der armenischen Regierung betreffend den Justizvollzug 2019-2023" (Dispositiv-Ziffer 2).
C. Mit Eingabe vom 13. Februar 2022 führt A. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Er beantragt, den Entscheid des Bundesstrafgerichts vom 27. Januar 2022 aufzuheben und das Auslieferungsersuchen der Republik Armenien vom 2. Dezember 2019 (recte: 26. November 2019) abzuweisen. Eventualiter seien Ziffer 2, 3 und 4 des Entscheids des Bundesstrafgerichts vom 4. September 2018 (recte: 27. Januar 2022) aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
D. Das Bundesstrafgericht verweist mit Schreiben vom 21. Februar 2022 auf seinen Entscheid und hält an dessen Begründung fest.
Das BJ liess sich vernehmen mit dem Antrag, die Beschwerde sei teilweise gutzuheissen und Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids desBGE 148 IV 314 (316) BGE 148 IV 314 (317)Bundesstrafgerichts vom 27. Januar 2022, namentlich die vom Bundesstrafgericht zusätzlich verlangte Garantie, sei aufzuheben. Zur Begründung führt das BJ aus, das Bundesstrafgericht habe die Bewilligung der Auslieferung von der Abgabe einer zusätzlichen Garantie durch die armenischen Behörden abhängig gemacht. Die Einholung dieser Garantie sei aber tatsächlich gar nicht möglich. In der Strategie der armenischen Regierung betreffend den Justizvollzug 2019-2023 vom 28. November 2019 seien die in der zusätzlichen Garantie genannten Pilotgefängnisse nicht vorgesehen. Die Auslieferung sei jedoch gestützt auf die ursprünglichen Garantien zulässig. Die armenischen Behörden hätten unter anderem zugesichert, dass die Haftbedingungen des Beschwerdeführers nicht unmenschlich oder erniedrigend sein werden und dessen physische und psychische Integrität gewahrt werde. Es lägen keine Anhaltspunkte vor, um an der Einhaltung der abgegebenen Garantien und damit an der Vertragstreue Armeniens zu zweifeln. Auf zusätzliche Garantien könne verzichtet werden. Im Übrigen sei die Beschwerde abzuweisen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache an das BJ zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen zurück.
 
(...)
BGE 148 IV 314 (317)
 
BGE 148 IV 314 (318)Erwägung 2
 
Soweit diese Staatsverträge keine abschliessende Regelung enthalten, ist das schweizerische Landesrecht anwendbar, namentlich das Bundesgesetz vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRSG; SR 351.1). Dasselbe gilt nach dem "Günstigkeitsprinzip", wenn das schweizerische Landesrecht geringere Anforderungen an die Auslieferung stellt (BGE 145 IV 294 E. 2.1; BGE 140 IV 123 E. 2; je mit Hinweisen).
Die Vertragsparteien verpflichten sich grundsätzlich, einander Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sichernden Massnahme gesucht werden (Art. 1 EAUe). Gemäss Art. 26 Ziff. 1 EAUe kann jede Vertragspartei bei der Unterzeichnung des Übereinkommens oder bei der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde zu einer oder mehreren genau bezeichneten Bestimmungen des Übereinkommens einen Vorbehalt machen. Nach Massgabe von Ziff. 3 kann eine Vertragspartei, die einen Vorbehalt zu einer Bestimmung des Übereinkommens gemacht hat, deren Anwendung durch eine andere Vertragspartei nur insoweit beanspruchen, als sie selbst diese Bestimmung angenommen hat. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann die Schweiz dem ersuchenden Staat einen von diesem angebrachten Vorbehalt entgegenhalten, und zwar auch dann, wenn sie selber keinen entsprechenden Vorbehalt formuliert hat und insoweit die Auslieferung in weiterem Umfang gewährte. Die Schweiz verfügt insoweit über einen Ermessensspielraum (BGE 129 II 100 E. 3.2; Urteile 1C_456/2020 vom 26. November 2020 E. 2.3; 1A.139/2005 vom 15. Juni 2005 E. 3.1; 1A.262/2004 vom 7. Dezember 2004 E. 4.1; je mit Hinweisen).
2.2 Vorliegend hat Armenien, anders als die Schweiz, einen Vorbehalt zu Art. 1 EAUe angebracht (vgl.BGE 148 IV 314 (318) BGE 148 IV 314 (319)www.coe.int/en/web/conventions/full-list?module=declarations-by-treaty&numSte=024&codeNature=0 [besucht am 9. März 2022]). Dieser lautet:
    "In respect of Article 1 of the Convention, the Republic of Armenia reserves the right to refuse to grant extradition: (...) b. if there are sufficient grounds to suppose that in result of the person's state of health and age her/his extradition will be injurious to her/his health or threaten her/his life."
Aufgrund dieses Vorbehalts bzw. in reziproker Anwendung des armenischen Vorbehalts (vgl. E. 2.1 hiervor), stellt sich die Frage, ob vorliegend hinreichende Gründe für die Annahme bestehen, wonach der Gesundheitszustand des über 60-jährigen, kranken Beschwerdeführers hinsichtlich der Auslieferung in ein Land, dessen Strafvollzug gemäss den unbestrittenen Ausführungen der Vorinstanz von diversen Problemen in den Bereichen Infrastruktur und medizinische Versorgung etc. geprägt ist, ein Auslieferungshindernis darstellt. Damit haben sich bisher weder die Vorinstanz noch das BJ auseinandergesetzt. Angesichts der Gesundheitssituation des Beschwerdeführers und der angespannten Versorgungslage in Armenien hätten sie dazu aber zwingend Anlass gehabt. Bereits aus diesem Grund besteht Anlass, die Beschwerde gutzuheissen und den angefochtenen Entscheid aufzuheben.
3. Die Schweiz prüft die Auslieferungsvoraussetzungen des EAUe auch im Lichte ihrer grundrechtlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen. Nach Völkerrecht - wie auch schweizerischem Landesrecht - sind Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung verboten (Art. 3 EMRK und Art. 7 sowie Art. 10 Abs. 1 UNO-Pakt II [SR 0.103.2], Art. 10 Abs. 3 BV). Niemand darf in einen Staat ausgeliefert werden, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht (vgl. Art. 25 Abs. 3 BV; BGE 134 IV 156 E. 6.3; Urteil 1C_644/2015 vom 23. Februar 2016 E. 8.1, nicht publ. in: BGE 142 IV 175; je mit Hinweisen). Die Haftbedingungen dürfen nicht unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK sein; die physische und psychische Integrität der ausgelieferten Person muss gewahrt sein (vgl. auch Art. 7, BGE 142 IV 10 und 17 des UNO-Pakts II). Die Gesundheit des Häftlings muss in angemessener Weise sichergestellt werden.
Bei Ländern mit bewährter Rechtsstaatskultur - insbesondere jenen Westeuropas - bestehen regelmässig keine ernsthaften Gründe für die Annahme, dass der Verfolgte bei einer Auslieferung dem RisikoBGE 148 IV 314 (319) BGE 148 IV 314 (320)einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung ausgesetzt sein könnte. Deshalb wird hier die Auslieferung in der Regel ohne Auflagen gewährt (z.B. Auslieferungen nach Deutschland: vgl. BGE 146 IV 338; Urteil 1C_3/2022 vom 16. Februar 2022). Dann gibt es Fälle, in denen zwar ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der Verfolgte im ersuchenden Staat einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt sein könnte, dieses Risiko aber mittels diplomatischer Garantien behoben oder jedenfalls auf ein so geringes Mass herabgesetzt werden kann, dass es als nur noch theoretisch erscheint. Die Länder dieser Kategorie sind zuweilen Mitglieder des Europarates und zur Einhaltung der EMRK und des Europäischen Auslieferungsübereinkommens verpflichtet, was die Vermutung begründet, dass die völkerrechtlichen Pflichten eingehalten werden. Ein rein theoretisches Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung kann, da es praktisch immer besteht, für die Ablehnung der Auslieferung nicht genügen.
Bei heiklen Konstellationen bestehen die schweizerischen Behörden beim ersuchenden Staat regelmässig auf förmliche Garantieerklärungen bezüglich der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Bei Auslieferungsfällen - auch in solchen, in denen das Europäische Auslieferungsübereinkommen anwendbar ist - kann der ersuchende Staat in einem konkreten Einzelfall zur Einhaltung bestimmter Verfahrensgarantien als Bedingung für eine Auslieferung ausdrücklich verpflichtet werden. Dies gilt namentlich für die Zulassung unangemeldeter Haftbesuche und die Beobachtung des Strafverfahrens durch Vertreter der Botschaft des ersuchten Staates (vgl. zum Ganzen: BGE 148 I 127 E. 4.4; BGE 134 IV 156 E. 6.3 f. [s. insb. Hinweise auf Länder in: E. 6.4]; BGE 133 IV 76 E. 4.5; Urteile 1C_444/2020 vom 23. Dezember 2020 E. 3.1; 1C_486/2020 vom 22. September 2020 E. 2.3; je mit Hinweisen).
Schliesslich gibt es seltene Fälle, in denen das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung auch mit diplomatischen Zusicherungen nicht auf ein Mass herabgesetzt werden kann, dass es nur noch als theoretisch erscheint (BGE 148 I 127 E. 4.4; BGE 134 IV 156 E. 6.7; je mit Hinweisen).
 
Erwägung 4
 
4.1 Das BJ hat gemäss der erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. E. 3 hiervor) diverse diplomatische Zusicherungen von Armenien eingeholt. Diese sollen zusammengefasst garantieren, dass die Haftbedingungen des Beschwerdeführers nicht unmenschlichBGE 148 IV 314 (320) BGE 148 IV 314 (321)oder erniedrigend sind, seine physische und psychische Integrität gewahrt wird, er nicht in den Haftanstalten Armavir und Nubarashen inhaftiert wird, dass die Schweizer Behörden die Einhaltung dieser Garantien kontrollieren können und der Beschwerdeführer von seinen Angehörigen im Gefängnis besucht werden kann.
BGE 148 IV 314 (322)Wie die Vorinstanz festgehalten hat, ist die angesprochene Reform im Bereich der medizinischen bzw. psychiatrischen Versorgung noch im Gang. Dem Bericht des European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT) über den Besuch in Armenien vom 2. bis zum 12. Dezember 2019 vom 26. Mai 2021 http://rm.coe.int/0900001680a29ba1 [besucht am 9. März 2022], nachfolgend: CPT Report 2021) sowie der Medienmitteilung dazu (vgl. https://rm.coe.int/0900001680a29970 [besucht am 9. März 2022]), kann entnommen werden, dass positive Entwicklungen hätten festgestellt werden können. So sei keines der 2019 besuchten Gefängnisse überbelegt gewesen (vgl. S. 19 Ziff. 26 des CPT Reports 2021). Zudem bestünden nun weniger Hindernisse und Verspätungen, wenn es darum gehe, sicherzustellen, dass Gefängnisinsassen in auswärtige Spitäler transferiert würden (S. 28 Ziff. 45 des CPT Reports 2021; vgl. zu weiteren Verbesserungen auch: S. 15 des 2020 Country Reports on Human Rights Practices: Armenia des U.S. Departements of State [nachfolgend: Human Rights Report 2020], www.state.gov/reports/2020-country-reports-on-human-rights-practices/armenia [besucht am 9. März 2022).
Mit grossen Bedenken sei aber festgestellt worden, dass einige der langjährigen Empfehlungen noch umgesetzt werden müssten. Dies betreffe unter anderem das Regime und die Gesundheitsfürsorge im Gefängnis. Diesbezüglich seien insbesondere die fehlenden Ressourcen betreffend das Gesundheitspersonal in den Gefängnissen (vgl. S. 27 Ziff. 44 des CPT Reports 2021) sowie die Beschwerden über den unzureichenden Zugang zu Spezialbehandlungen bzw. Spezialisten (S. 27 Ziff. 45 des CPT Reports 2021) augenfällig gewesen. Dank des Engagements des Europarates sei zwar der Kauf und die Installation zahlreicher Möbel und medizinischer Geräte in den Gefängnissen ermöglicht worden, und die diesbezügliche Situation habe sich im Vergleich zum Besuch 2015 verbessert. Jedoch würden insbesondere lebensrettende Geräte wie Defibrillatoren und Sauerstoff nach wie vor fehlen (vgl. S. 28 Ziff. 46 des CPT Reports 2021). In Bezug auf Medikamente sei das Budget von 43 Millionen Armenischen Drams (AMD) im Jahr 2018 auf AMD 150 Millionen im Jahr 2019 erhöht worden. Aufgrund der Beschaffungsverfahren (bei denen der niedrigste Preis systematisch als Hauptkriterium festgelegt worden sei) sei es dennoch oft unmöglich, die am besten geeigneten modernen Medikamente zu kaufen. Darüber hinaus habeBGE 148 IV 314 (322) BGE 148 IV 314 (323)die Delegation, wie bereits 2015, Beschwerden von Gefangenen erhalten (und konnte diese nach Prüfung der einschlägigen medizinischen Unterlagen teilweise bestätigen), dass von ihnen erwartet wurde, die notwendigen verschriebenen Medikamente (z. B. gegen Diabetes oder Bluthochdruck) selbst zu bezahlen oder sich diese Medikamente von Verwandten schicken zu lassen (vgl. S. 28 Ziff. 46 des CPT Reports 2021; S. 13 des Human Rights Reports 2020). Im Übrigen mangle es auch den psychiatrischen Einrichtungen an Fachpersonen, therapeutischen Optionen und individuellen Therapieplänen. Zudem überwiege die Pharmakotherapie (vgl. S. 39 ff., insb. S. 45 Ziff. 79 ff. des CPT Reports 2021).
4.5 Die Möglichkeit einer angemessenen medizinischen Versorgung sowohl in den Gefängnissen als auch im Central Prison Hospital und den psychiatrischen Einrichtungen ist aufgrund dieser Schilderungen in den Berichten des CPT und des U.S. Departements of State nach wie vor als kritisch zu betrachten. Dies ist vorliegend besonders von Bedeutung, da der über 60-jährige Beschwerdeführer gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen und den aktenkundigen Arztberichten an diversen somatischen und psychiatrischen Erkrankungen leidet. So ist er an einem metabolischen Syndrom mit stammbetonter Adipositas, einem Schlafapnoesyndrom, einer arteriellen Hypertonie, Diabetes mellitus Typ IIb sowie einer rezidivierenden depressiven Störung und einem schweren Grad von Agoraphobie mit Panikstörung erkrankt. Aufgrund seines Gesundheitszustands bedarf er regelmässiger klinischer und laborchemischer Verlaufskontrollen und ist auf die Einnahme von Psychopharmaka angewiesen. Dass die für den Beschwerdeführer (lebens-)notwendigen Verlaufskontrollen sowie seine tägliche Medikamenteneinnahme unter den genannten prekären Umständen tatsächlich auch im Strafvollzug in Armenien sichergestellt ist, erscheint fraglich. Jedenfalls als unzutreffend ist die Behauptung des BJ zu bezeichnen, wonach die Behandlung des Beschwerdeführers auch in Armenien "problemlos fortgeführt" werden könne. Dies gilt umso mehr, als nicht hinreichend geklärt ist, inwieweit ihn sein Gesundheitszustand tatsächlich beeinträchtigt bzw. allenfalls einer Auslieferung bzw. Inhaftierung im Allgemeinen entgegensteht. Auffällig ist einzig, dass sich der Beschwerdeführer aufgrund der Akten offenbar nicht in Auslieferungshaft befindet. Dafür lässt sich allerdings, soweit ersichtlich, weder den Akten noch dem vorinstanzlichen Entscheid bzw. dem Auslieferungsentscheid eine Erklärung entnehmen. Aufgrund derBGE 148 IV 314 (323) BGE 148 IV 314 (324)bekannten Krankheiten des Beschwerdeführers ist fraglich, ob die Vorinstanzen nicht Anlass gehabt hätten, seine Hafterstehungsfähigkeit, etwa mittels einer medizinischen Begutachtung, näher zu prüfen bzw. zumindest darzulegen, weshalb darauf habe verzichtet werden können.
 
Erwägung 5
 
Aus den erwähnten Berichten, insbesondere auch aus dem neuen, von der Vorinstanz nicht berücksichtigten CPT Report 2021 vom 26. Mai 2021, ergibt sich einzig, dass gewisse Gefängnisse geschlossen, andere renoviert und neue Gefängnisse erstellt werden sollen. Folgende neue Gefängnisse sind geplant: "Khndzoresk" und "Silikyan", zudem sollen neue Units in "Erebuni" und "Sevan" eröffnet und diverse ältere Gefängnisse geschlossen werden, namentlich "Goris, Hrazdan, Nubarashen und Yerevan-Kentron" (vgl. S. 20 Ziff. 27 sowie S. 23 Ziff. 36 des CPT Reports 2021). Ob es sich allenfalls bei diesen neuen Gefängnissen um die von der Vorinstanz als "Pilotgefängnisse" bezeichneten handelt, ist nicht erkennbar. Allerdings erschiene auch der Hinweis auf die zu erbauenden Gefängnisse als untauglich, jedenfalls solange diese erst noch erbaut werden müssen und im Übrigen unklar ist, ob dort tatsächlich von einer besseren medizinischen Versorgung auszugehen wäre.BGE 148 IV 314 (325)
BGE 148 IV 314 (326)5.4 Die Vorinstanz hat sich bis auf diese nicht umsetzbare "Zusatz-Garantie" nicht damit auseinandergesetzt, wie mit den bekannten Problemen im armenischen Strafvollzug betreffend die notwendige medizinische Versorgung des multimorbiden, über 60-jährigen Beschwerdeführers im konkreten Fall umzugehen ist. Wie erwähnt (vgl. E. 5.1 hiervor), ist eine Konkretisierung bzw. eine präzisere Garantie aber erforderlich, damit das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung des Beschwerdeführers im armenischen Strafvollzug auf ein Mindestmass herabgesetzt werden kann. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht eine zusätzliche Garantie von den armenischen Behörden verlangt werden müsste, wonach die dem Beschwerdeführer von Armenien garantierte menschenwürdige Unterbringung und der garantierte Zugang zu genügender medizinischer Betreuung in besonders geeigneten Räumen zu erfolgen hat. Dies böte sich unter Umständen umso mehr an, als sich die armenischen Behörden bereits einverstanden erklärt haben, einen einzigen Ort der Inhaftierung zu definieren.
Unter Umständen käme eine Unterbringung im Central Prison Hospital in Frage, wo gemäss den Ausführungen des CPT einige Gefangene sehr komfortable Bedingungen genössen: "some prisoners enjoyed very comfortable conditions (...), the Central Prison Hospital was in fact akin to a "luxurious hotel" (vgl. S. 5 und S. 32 Ziff. 52 des CPT Reports 2021). Dies stünde indes unter der Bedingung, dass das Central Prison Hospital nicht Ende 2022 geschlossen würde (vgl. CPT Report 2021, Executive summary, S. 4 "Prisons"). Soweit das BJ dagegen einwendet, die Einschränkung auf ein bestimmtes Gefängnis könnte "gar dem Wunsch einer möglichst optimalen Unterbringung entgegenstehen, wenn beispielsweise weitere Verbesserungen an anderen Haftorten realisiert werden", ist ihm entgegenzuhalten, dass dies grundsätzlich auch für die bisher mittels Garantie ausgeschlossenen Gefängnisse (Armavir und Nubarashen) gelten könnte. Allenfalls wäre die zusätzliche Garantie so zu formulieren, dass dem Beschwerdeführer jedenfalls immer die gegenwärtig bestmögliche medizinische Versorgung und Unterbringung gewährt würde.
5.5 Nach dem Gesagten leidet der angefochtene Entscheid an zahlreichen Mängeln, die weitere Abklärungen durch die verfügende Behörde erfordern. Ein reformatorischer Entscheid des Bundesgerichts (vgl. Art. 107 Abs. 2 BGG) ist unter diesen Umständen nicht möglich. Für den Fall, dass auf die Auslieferung nicht bereitsBGE 148 IV 314 (326) BGE 148 IV 314 (327)aufgrund des armenischen Vorbehalts zu Art. 1 EAUe verzichtet werden muss (vgl. E. 2.2 hiervor), bedarf es weiterer Abklärungen und der Prüfung der konkreten tatsächlichen Situation bzw. der Zustände in den infrage kommenden Gefängnissen, des Gesundheitszustands des Beschwerdeführers sowie der veränderten Umstände, namentlich des Fehlens von "Pilotgefängnissen". Das BJ wird sich vor dem Hintergrund der prekären Zustände in den armenischen Gefängnissen vertieft mit der Frage nach der geeignetsten konkreten Unterbringung des kranken, über 60-jährigen Beschwerdeführers, dessen Zugang zu Medikamenten und seiner Hafterstehungsfähigkeit auseinanderzusetzen haben. Zum jetzigen Zeitpunkt kann aufgrund der unklaren, nicht hinreichend abgeklärten Situation jedenfalls nicht gesagt werden, das Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung könne mittels der vorliegenden diplomatischen Zusicherungen Armeniens auf ein so geringes Mass herabgesetzt werden, dass es als nur noch theoretisch erscheint.BGE 148 IV 314 (327)