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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
Erwägung 4
5. Der in Art. 191 StGB unter Strafe gestellte Missbrauch h&a ...
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32. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen A. (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_265/2020 vom 11. Mai 2022
 
 
Regeste
 
Art. 1 und 191 StGB; fällt "Stealthing" (d.h. der ohne Wissen der betroffenen Person und gegen ihren erklärten Willen ungeschützt vollzogene Geschlechtsverkehr) unter den Tatbestand der Schändung?
 
Völkerrechtliche Verpflichtungen betreffend die Strafbarkeit von nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen adressieren den Gesetzgeber. Die gesetzgeberische Auswahl der strafbaren Verhaltensweisen (aus allen gegebenenfalls strafwürdigen Handlungen) bindet die Gerichte (E. 5.1). Schändung meint den Missbrauch eines vorbestehenden, von den Umständen des Sexualkontakts unabhängigen Zustands, der das Opfer dem Täter ausliefert (E. 5.2). Die mit der laufenden Revision des Sexualstrafrechts eingeleitete Neuordnung der Art. 189 ff. StGB bestätigt die Erkenntnis, dass Stealthing nach geltendem Recht nicht unter Art. 191 StGB einzuordnen ist (E. 5.4). Stealthing lässt die Abwehrfähigkeit als solche intakt. Mithin besteht keine Widerstandsunfähigkeit im Sinn von Art. 191 StGB (E. 5.5).
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 IV 329 (329)BGE 148 IV 329 (329)
BGE 148 IV 329 (330)A. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland lastet A. an, sich der Schändung (Art. 191 StGB) schuldig gemacht zu haben, indemBGE 148 IV 329 (330) BGE 148 IV 329 (331)er nach Beginn eines einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs das Kondom entfernte, ohne dass die Sexualpartnerin dies erkennen konnte, und den Verkehr fortsetzte (sog. Stealthing). Die Partnerin habe sich zuvor ausdrücklich geschützten Geschlechtsverkehr ausbedungen.
Das Bezirksgericht Bülach sprach A. vom Vorwurf der Schändung frei (Urteil vom 13. Februar 2019).
B. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich den Freispruch (Urteil vom 28. November 2019).
C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung. Eventuell sei der Beschwerdegegner gemäss Art. 191 StGB schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen.
A. beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Obergericht und die Privatklägerin verzichten auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit hier interessierend, ab.
 
 
Erwägung 3
 
3.1 Das als Stealthing - von englisch stealth: Heimlichkeit, List - bezeichnete Verhalten scheint sich in den letzten Jahren zunehmend verbreitet zu haben; mitunter wird von einem eigentlichen Trend gesprochen (zum Phänomen Stealthing: ANDRES WISSNER , "Stealthing": ein besorgniserregender Trend? [ nachfolgend: Stealthing], Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2020 S. 315 f.; THOMAS MICHAEL HOFFMANN , Zum Problemkreis der differenzierten Einwilligung [Einverständnis] des Opfers im Bereich des § 177 StG B nach dem Strafrechtsänderungsgesetz 2016, Neue Zeitschrift für Strafrecht [ NStZ] 2019 S. 17; KEVIN FRANZKE , Zur Strafbarkeit des so genannten "Stealthings", Bonner Rechtsjournal 2019 S. 114 f.; FELIX HERZOG , "Stealthing": Wenn Männer beim Geschlechtsverkehr heimlich das Kondom entfernen. Eine Sexualstraftat?, in: Festschrift für Thomas Fischer, Barton und andere [Hrsg.], 2018, S. 351 ff.; LINOH/WETTMANN , Sexuelle Interaktionen als objektuale Vertrauensbeziehung, Eine juristisch-soziologische Untersuchung des Phänomens Stealthing, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik [ZIS] 7-8/2020 S. 383 ff.; ALEXANDRA BRODSKY , "Rape-Adjacent":BGE 148 IV 329 (331) BGE 148 IV 329 (332)Imagining Legal Responses to Nonconsensual Condom Removal, Columbia Journal of Gender and Law 2017 S. 183 ff.). Damit einhergehend ist Stealthing Gegenstand der Strafverfolgung und der rechtswissenschaftlichen Diskussion geworden (dazu MOHAMAD EL-GHAZI , Die strafrechtliche Bewertung des sogenannten Stealthings, SJZ 115/2019 S. 675 ff.; CAROLA GÖHLICH , Stealthing als Eingriff in die sexuelle Integrität?, Zur Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs bei Täuschung und abredewidrigem Verhalten, AJP 2019 S. 522 ff.; MEIER/HASHEMI , Stealthing - Muss strafbar sein, was verwerflich ist?, forumpoenale 2/2020 S. 119 ff.; aus Sicht des deutschen resp. österreichischen Rechts: JOHANNES MAKEPEACE , "I'm not sure this is rape, but...", Zur Strafbarkeit von "Stealthing" nach dem neuen Sexualstrafrecht, Kriminalpolitische Zeitschrift [KriPoZ] 1/2021 S. 10 ff.; HOFFMANN , a.a.O., S. 16 ff.; SCHUMANN/SCHEFER , Das sog. Stealthing als Prüfstein des § 177 StGB n.F., in: Festschrift für Urs Kindhäuser zum 70. Geburtstag, Böse/Schumann/Toepel [Hrsg.], 2019, S. 811 ff.; DENZEL/KRAMER DA FONSECA CALIXTO , Strafbarkeit und Strafwürdigkeit der sexuellen Täuschung, KriPoZ 6/2019 S. 347 ff.; RITA VAVRA , Täuschungen als strafbare Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung?, ZIS 12/2018 S. 611 ff.; MARIA SAGMEISTER , Stealthing verletzt die sexuelle Selbstbestimmung, Juridikum 2017 S. 296 ff.).
Nach der Rechtsprechung gilt als im Sinn von Art. 191 StGB widerstandsunfähig, wer nicht imstande ist, sich gegen ungewollte sexuelle Kontakte zu wehren, weil er seinen Abwehrwillen nicht (wirksam) fassen oder äussern oder in einen Abwehrakt umsetzen kann. Die Gründe einer Widerstandsunfähigkeit können dauernd, vorübergehend oder situationsbedingt sein. Die Kasuistik umfasst etwa Fälle von schwerer geistiger Einschränkung infolge einer starken Intoxikation mit Alkohol oder Drogen, solche von fehlendem körperlichem Reaktionsvermögen (beispielsweise wegen eines Gebrechens oder einer Fesselung) und schliesslich auch besondere Konstellationen wie ein Zusammenwirken von Schläfrigkeit, Alkoholisierung und einem Irrtum über die Identität des (für den Ehemann gehaltenen)BGE 148 IV 329 (332) BGE 148 IV 329 (333)Sexualpartners. Vorausgesetzt wird, dass die Fähigkeit zu Abwehrhandlungen ganz aufgehoben und nicht nur eingeschränkt ist. Wird ein Rest von Widerstand überwunden, liegt eine Tat nach Art. 189 f. StGB vor (zum Ganzen: BGE 133 IV 49 E. 7.2; BGE 119 IV 230 E. 3a; Urteile 6B_1178/2019 vom 10. März 2021 E. 2.2 und 6B_232/2016 vom 21. Dezember 2016 E. 2.2; JOSÉ HURTADO POZO , Droit pénal, Partie spéciale, 2009, Rz. 2998). D ie Tathandlung des Missbrauchs nach Art. 191 StGB besteht darin, dass sich der Täter die Widerstandsunfähigkeit des Opfers bewusst zunutze macht, um eine sexuelle Handlung zu vollziehen (vgl. zit. Urteil 6B_1178/2019 E. 2.2.2; Urteile 6S.217/2002 vom 3. April 2003 E. 3 und 6S.359/2002 vom 7. August 2003 E. 4.2).
Die beschwerdeführende Oberstaatsanwaltschaft wendet sich gegen den vorinstanzlichen Ansatz, der prozessgegenständliche Geschlechtsverkehr erscheine wegen seiner grundsätzlichen Einvernehmlichkeit von vornherein nicht als Handlung im Sinn von Art. 191 StGB. In einem ersten Schritt ist z u prüfen , ob der ohne Wissen der Privatklägerin und gegen ihren erklärten Willen ungeschützt vollzogene Geschlechtsverkehr eine eigenständige sexuelle Handlung darstellt, die rechtserheblich vom an sich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr abweicht. Die Rechtserheblichkeit beurteilt sich mit Blick darauf, inwiefern die Abweichung den Schutzbereich von Art. 191 StGB - die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung - tangiert ( nachstehend E. 4). Gegebenenfalls stellt sich die Anschlussfrage, ob die Privatklägerin angesichts des heimlich entfernten Kondoms widerstandsunfähig ist, weil sie so lange keine Möglichkeit hat, die ungeschützte Penetration abzuwehren, wie ihr der Beschwerdegegner einen (weiterhin) geschützten Geschlechtsverkehr vortäuscht. Der tatbestandsmässige Missbrauch bestünde im bewussten Ausnutzen einer solchen Widerstandsunfähigkeit (E. 5).
 
Erwägung 4
 
4.1 An Sexualkontakten beteiligte Personen verstehen den Einsatz eines Kondoms oft als wesentliche Bedingung , um sich überhauptBGE 148 IV 329 (333) BGE 148 IV 329 (334)auf den Kontakt einzulassen (Hinweise auf die Empirie in E. 4.2). Das Kondom dient ihnen vorab - aber, wie zu zeigen sein wird, nicht nur - als Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten und zur Verhütung einer Schwangerschaft. Im vorliegenden Fall beklagte sich die Privatklägerin denn auch über eine psychische Belastung im Hinblick auf die Möglichkeit einer HIV-Infektion; sie unterzog sich einer präventiven Behandlung, die mit Nebenwirkungen verbunden sein kann (vgl. EL-GHAZI , a.a.O., S. 676 f.). Unter dem Aspekt der sexuell übertragbaren Krankheiten kann das streitgegenständliche Verhalten strafrechtlich unter Umständen als (versuchte) eventualvorsätzliche Körperverletzung (Art. 122 f. StGB) zu behandeln sein (vgl. Urteil 6B_1225/2019 vom 8. April 2020 E. 1.2 und 1.3 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung); diesbezüglich kommt allenfalls auch der Tatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten infrage (Art. 231 StGB; GÖHLICH , a.a.O., S. 524 und 526 f.; vgl. BGE 134 IV 193; BGE 131 IV 1 E. 4).
Art. 191 StGB dient indessen nicht Aspekten des Gesundheitsschutzes (MEIER/HASHEMI , a.a.O., S. 120 f.; vgl. SCHUMANN/SCHEFER , a.a.O., S. 815). Angesprochen ist einzig die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung als besondere Ausprägung des Persönlichkeitsrechts (INEKE PRUIN , "Nein heisst nein" und "Ja heisst ja", Zur Einführung eines konsensorientierten Ansatzes im Sexualstrafrecht in der Schweiz und in Deutschland, ZStrR 139/2021 S. 132; PHILIPP MAIER , in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II [nachfolgend: BK Strafrecht], 4. Aufl. 2019, N. 1 zu Art. 191 StGB ; PETER HANGARTNER , Selbstbestimmung im Sexualbereich - Art. 188 bis 193 StGB, 1998, passim; vgl. auch LAURA JETZER , Stealthing: Strafrechtlich nicht fassbare Verletzung der von Art. 28 ZGB geschützten sexuellen Integrität?, in: Aspekte rechtlicher Nähebeziehungen, Eitel/Graham-Siegenthaler [ Hrsg.], 2021, S. 185 f.; zu Umfang und Natur der sexuellen Freiheit: TATJANA HÖRNLE , Sexuelle Selbstbestimmung: Bedeutung, Voraussetzungen und kriminalpolitische Forderungen, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft [ZStW] 2015 S. 851 ff.). Die sexuelle Selbstbestimmung hat zwei Seiten: die (positive) Freiheit, sein Sexualleben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, sowie die (negative) Freiheit von sexueller Fremdbestimmung (PRUIN , a.a.O., S. 145; EL-GHAZI , a.a.O., S. 677; NORA SCHEIDEGGER , Das Sexualstrafrecht der Schweiz, Grundlagen und Reformbedarf [nachfolgend: Sexualstrafrecht], 2018, Rz. 26 ff.; SCHEIDEGGER/LAVOYER/STALDER , Reformbedarf im schweizerischen Sexualstrafrecht, sui generis 2020 S. 59 Rz. 3; BGE 148 IV 329 (334) BGE 148 IV 329 (335)HÖRNLE , a.a.O., S. 859 ff.). Das Sexualstrafrecht sichert in erster Linie letztere Dimension, nämlich die Abwehr ungewollter sexueller Handlungen (vgl. aber auch E. 4.2 a.E.). Grundmerkmal der sexuellen Selbstbestimmung ist die Einvernehmlichkeit der betreffenden Handlungen (unten E. 5.2).
4.2 Die von einer Seite gestellte (positive oder negative) Bedingung, unter der nur sich die betreffende Person auf den Geschlechtsverkehr einlassen will, kann strafrechtlich erst relevant sein, wenn sich die Bedingung und ihre Motive mit dem Schutzzweck des fraglichen Tatbestands decken, sie also der sexuellen Selbstbestimmung direkt zuzurechnen sind ( vgl. SCHUMANN/SCHEFER , a.a.O., S. 814). Wer beim anderen eine falsche Vorstellung über Eigenschaften seiner Person oder über bestimmte Rahmenbedingungen des Geschlechtsverkehrs hervorruft oder in täuschender Absicht stehen lässt, beeinträchtigt dadurch die strafrechtlich geschützte sexuelle Freiheit seines Gegenübers auch dann nicht, wenn klar ist, dass die getäuschte Person im Wissen um die wahren Verhältnisse dem Geschlechtsverkehr nicht zugestimmt hätte. Es ist offenkundig nicht Aufgabe des Staats, sämtliche persönlichen, individuell gesetzten Bedingungen für einen sexuellen Kontakt unter strafrechtlichen Schutz zu stellen (HOVEN/WEIGEND , Zur Strafbarkeit von Täuschungen im Sexualstrafrecht, KriPoZ 3/2018 S. 160). Unerheblich sind beispielsweise ein gebrochenes Eheversprechen (GÖHLICH , a.a.O., S. 524), die entgegen erfolgter Zusicherungen unterbliebene Einnahme von Verhütungsmitteln ("Pillenlüge"; HOFFMANN , a.a.O., S. 17) sowie falsche Erklärungen zu Vorbedingungen eines Partners, was etwa den Beziehungsstatus oder die Religionszugehörigkeit des anderen angeht (DENZEL/KRAMER DA FONSECA CALIXTO , a.a.O., S. 350 f.; WISSNER , Das Phänomen "Stealthing" [nachfolgend: Phänomen "Steal thing"], KriPoZ 5/2021, S. 282; anderer Meinung: FRANZKE , a.a.O., S. 120; VAVRA , a.a.O., S. 618). In solchen Fällen von Motiv- resp. "Hintergrundirrtümern" (HÖRNLE , a.a.O., S. 880) scheidet eine Schändung bereits deswegen aus, weil die sexuelle Selbstbestimmung nicht tangiert ist.
Die Bedingung muss sich vielmehr auf wesentliche Merkmale des Sexualverkehrs beziehen, die dem Recht auf sexuelle Integrität zurechnen sind. Dessen Träger hat die Möglichkeit, einem sexuellen Kontakt selbstbestimmte Grenzen zu setzen. Die missachtete Vorgabe, unter der die Privatklägerin in den Geschlechtsverkehr eingewilligt hat - nämlich die Verwendung eines Kondoms -, ist gemessenBGE 148 IV 329 (335) BGE 148 IV 329 (336)an diesem Normzweck erheblich (zur Figur der rechtsgutbezogenen Bedingung vgl. GUNTHER ARZT , Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 15 ff.; GERHARD FIOLKA , Das Rechtsgut, 2006, passim; vgl. HÖRNLE , a.a.O., S. 880 f.). Dies gilt unabhängig davon, dass sich die Privatklägerin hier vorab aus Gründen des Gesundheitsschutzes geschützten Verkehr ausbedungen hat. Die empirische Forschung und sozialwissenschaftliche Lehre gehen überwiegend davon aus, dass die Verwendung oder Nichtverwendung eines Kondoms einen erheblichen Unterschied in der Intensität des Sexualkontakts begründet, etwa weil es für die betroffene Person regelmässig nicht gleichgültig ist, ob sie physisch mit dem Ejakulat in Berührung kommt oder nicht. Das Kondom scheint demzufolge als Eingrenzung einer ansonsten als zu gross empfundenen Intimität wichtig ( in diesem Sinn EL-GHAZI , a.a.O., S. 681 mit Hinweis auf BRODSKY , a.a.O., S. 195; WISSNER , Phänomen "Stealthing", a.a.O., S. 282 f.; MAKEPEACE , a.a.O., S. 12 ff.; LINOH/WETTMANN , a.a.O., S. 387 f.; HERZOG , a.a.O., S. 354; SCHUMANN/SCHEFER , a.a.O., S. 816; HÖRNLE , a.a.O., S. 881; vgl. auch Amtsgericht Berlin-Tiergarten, Urteil vom 11. Dezember 2018, zitiert nach WISSNER , Stealthing, a.a.O., S. 316 f.; im Ergebnis anderer Meinung: DENZEL/KRAMER DA FONSECA CALIXTO , a.a.O., S. 353 f.; MEIER/HASHEMI , a.a.O., S. 124; GÖHLICH , a.a.O., S. 525 f.; JETZER , a.a.O., S. 185). Zudem sind selbst die ( hier an sich nicht einschlägigen) Anliegen der Schwangerschaftsverhütung und gesundheitlichen Prävention ("Safer Sex") mittelbar als Frage der (positiven) sexuellen Selbstbestimmung zu begreifen: Sexualität auszuleben, ohne das Risiko einzugehen, sich mit einer übertragbaren Krankheit zu infizieren oder ungewollt schwanger zu werden resp. potentiell belastende hormonelle Verhütungsmittel einnehmen zu müssen, hängt massgeblich von der Gewissheit ab, dass der Verkehr geschützt abläuft (vgl. SCHUMANN/SCHEFER , a.a.O., S. 815 f.; FRANZKE , a.a.O., S. 120). In ihrer mittelbaren Rechtsgutbezogenheit unterscheiden sich diese Motive massgeblich von anderen, beliebig gesetzten Bedingungen.
4.3 Wird das Tatbestandselement der sexuellen Handlung anhand eines aktuellen Normverständnisses objektiv-zeitgemäss ausgelegt (BGE 141 II 262 E. 4.2; BGE 137 II 164 E. 4.4; vgl. auch E. 5.1 a.E.), so ist bis hierhin festzuhalten, dass Stealthing die individuelle sexuelle Autonomie und Integrität beeinträchtigt. Die Privatklägerin hat ungeschützten Geschlechtsverkehr abgelehnt, dies ausdrücklich oder jedenfalls den Umständen nach erkennbar. Damit hat sie eine (mitBGE 148 IV 329 (336) BGE 148 IV 329 (337)Blick auf das geschützte Rechtsgut) erhebliche Bedingung gesetzt. Indem der Beschwerdegegner diese Bedingung heimlich missachtet hat, nahm er der Privatklägerin die Möglichkeit, den Sexualkontakt effektiv selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu gestalten (vgl. SCHEIDEGGER , Sexualstrafrecht, a.a.O., Rz. 12; MAIER , BK Strafrecht, a.a.O., N. 1 zu Art. 190 StGB; LINOH/WETTMANN , a.a.O., S. 385; VAVRA , a.a.O., S. 616 und 618; HÖRNLE , a.a.O., S. 880 f.). Soweit sie sich diesbezüglich getäuscht sieht, ist der nach dem Entfernen des Kondoms fortgesetzte sexuelle Verkehr kein einvernehmlicher mehr.
Unter diesen Voraussetzungen bringt die Beschwerdeführerin zutreffend vor, dass die ungeschützte Penetration nicht auf einen blossen Begleitumstand, eine Modalität des an sich einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs reduziert werden kann . Anders als der Beschwerdegegner meint, bildet das Entfernen des Kondoms gegen den Willen und ohne das Wissen der Partnerin eine Zäsur zum bisher einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Es begründet eine gesonderte, neue Handlung ("aliud"; vgl. EL-GHAZI , a.a.O., S. 680 f.; SCHEIDEGGER , Sexualstrafrecht, a.a.O., Rz. 168; HERZOG , a.a.O., S. 356 f.; MAKEPEACE , a.a.O., S. 12 und 14; SAGMEISTER , a.a.O., S. 296 ff.; WISSNER , Phänomen "Stealthing", a.a.O., S. 282 f.), die das für Art. 191 StGB relevante Rechtsgut verletzt. Demnach entspricht Stealthing dem Tatbestandselement einer sexuellen Handlung gemäss Art. 191 StGB.
5.1 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind die Mitgliedstaaten der EMRK gestützt auf die Art. 3 und 8 EMRK verpflichtet, alle nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu verfolgen und zu bestrafen (Urteil des EGMR 39272/98 M.C. gegen Bulgarien vom 4. Dezember 2003, § 166; die Tragweite dieser Feststellung relativierend BLUME/WEGNER , Reform des § 177 StGB? - Zur Vereinbarkeit des deutschen Sexualstrafrechts mit Art. 36 der "Istanbul-Konvention", Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht [HRRS] 2014 S. 362). Ebenso verpflichtet Art. 36 des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung undBGE 148 IV 329 (337) BGE 148 IV 329 (338)Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention; SR 0.311.35; für die Schweiz in Kraft seit 1. April 2018) die angeschlossenen Staaten, jeden vorsätzlichen Sexualakt unter Strafe zu stellen, der nicht auf freiwilligem Einverständnis beruht (vgl. den Erläuternden Bericht des Europarates zur Istanbul-Konvention [nachfolgend: Erläuternder Bericht], Ziff. 189 ff. , mit Hinweis auf das erwähnte Urteil des EGMR; Botschaft vom 2. Dezember 2016 zur Genehmigung des Übereinkommens [... ] [Istan bul-Konvention], BBl 2017 241 Ziff. 2.5.8); LUZIA SIEGRIST , Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 [Istanbul-Konvention], Sicherheit und Recht 2017 178 ff., vgl. auch BGE 148 IV 234 E. 3.1 und 3.8).
Diese völkerrechtlichen Verpflichtungen adressieren den Gesetzgeber (Erläuternder Bericht, a.a.O., Ziff. 193; BGE 148 IV 234 E. 3.7.1 a.E.). Sie können zwar die Auslegung von geltendem Recht beeinflussen (vgl. etwa betreffend den ausländerrechtlichen Aufenthaltsanspruch die Urteile 2C_45/2021 vom 12. März 2021 E. 3.2 und 2C_1024/2019 vom 27. August 2020 E. 4.2). Eine völkerrechtliche Auslegung darf aber nicht so weit gehen, dass allfällige "Strafbarkeitslücken" mittels ausdehnender Interpretation von bestehenden Tatbeständen geschlossen werden (vgl. SCHEIDEGGER , Sexualstrafrecht, a.a.O., Rz. 198 und 617; dieselbe, in: StGB, Annotierter Kommentar [nachfolgend: Kommentar], Graf [Hrsg.], 2020, N. 4 zu Art. 191 StGB; JETZER , a.a.O., S. 182 f.). Nach dem strafrechtlichen Legalitätsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege) darf eine Strafe nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB; BGE 147 IV 274 E. 2.1.1; 138 IV 13 E. 4.1). Der Grundsatz verbietet, über den Sinn, wie er dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommt, hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird (BGE 128 IV 272 E. 2). Die rechtsanwendenden Behörden sind an die Entscheidung des Gesetzgebers darüber, in welchem Umfang das betroffene Rechtsgut strafrechtlich geschützt werden soll - d.h. an seine Auswahl der strafbaren Verhaltensweisen aus allen gegebenenfalls strafwürdigen -, gebunden. Der Beschwerdegegner betont zu Recht, dass Tatbestandselemente grundsätzlich eng auszulegen sind (vgl. TRECHSEL/FATEH-MOGHADAM , in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 24 zu Art. 1 StGB).BGE 148 IV 329 (338)
BGE 148 IV 329 (339)Unter diesen Vorgaben gehört es zwar zu den Aufgaben der Rechtsprechung, Entwicklungen im tatsächlichen Umfeld eines Straftatbestands zu verfolgen und veränderten lebensweltlichen (gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, technischen etc.) Rahmenbedingungen ( sog. Rechtstatsachen; Urteil 6B_582/2017 vom 19. Juni 2018 E. 2.1.2) bei der Auslegung des Gesetzes Rechnung zu tragen. Dem Gesetzgeber bleibt es dagegen vorbehalten, das materielle Strafrecht anhand der gewandelten gesellschaftlichen Anschauungen nachzuführen.
5.2 Gegenwärtig ist eine Revision des Sexualstrafrechts im Gang ( Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates [RK-S] "Bundesgesetz über eine Revision des Sexualstrafrechts" mit Bericht vom 28. Januar 2021 [www.admin.ch>Bundesrecht>Vernehmlassungen>Abgeschlossene Vernehmlassungen>2021>Parl.] sowie Erlassentwurf mit Bericht der RK-S vom 17. Februar 2022 [www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-rk-s-2022-02-18-2. aspx]). Die Revision soll das Sexualstrafrecht modernisieren (Bericht RK-S vom 17. Februar 2022 [nachfolgend: Bericht 2022], S. 1 3 Ziff. 2.1). Mehr als in früheren Jahren gilt heute die Einvernehmlichkeit jeder sexuellen Handlung als strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut (Konsensprinzip; PRUIN , a.a.O., S. 130 ff., 144 ff.; SCHEIDEGGER , Revision des Sexualstrafrechts, Die Verankerung des Konsensprinzips im StGB [nachfolgend: Revision], in: Recht und Ge schlecht, Juristinnen Schweiz [ Hrsg.], 2022, S. 208 f.; vgl. auch BGE 148 IV 234 E. 3.7.1). Die bisherigen Artikel 189 ff. StGB ( Randtitel: "Angriffe auf die sexuelle Freiheit und Ehre") umschreiben Nötigungs- oder Missbrauchstatbestände, die die Fähigkeit schützen, die sexuelle Autonomie wahrzunehmen. Die sexuelle Selbstbestimmung als solche, d.h. das Recht, über das Ob, Wann und Wie eines sexuellen Kontakts zu entscheiden, erfassen sie indessen nicht (LINOH/WETTMANN , a.a.O., S. 385). Zur Zeit ihrer Entstehung stand nicht der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, sondern der weiblichen Ehre und körperlichen Integrität im Vordergrund (PRUIN , a.a.O., S. 147). Heute werden zunehmend schon Handlungen als strafwürdig wahrgenommen, durch die allein die sexuelle Selbstbestimmung als solche verletzt wird. Die Vorlage der RK-S vom 17. Februar 2022 ordnet die Tatbestände, die - entsprechend den bisherigen Art. 189 f. StGB - dem Nötigungsprinzip folgen ( sexuelle Nötigung nach Art. 189 Abs. 2 E-StGB und qualifizierte Vergewaltigung nach Art. 190 Abs. 2 E-StGB), dem Schutz der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung zu. Auch das Ausnützen einer Wehrlosigkeit BGE 148 IV 329 (339) BGE 148 IV 329 (340)im Sinn von Art. 191 StGB bezieht sich nur auf diese Voraussetzung und nicht auf die sexuelle Autonomie selbst. Weitergehend schützen die neu vorgeschlagenen (nötigungsfreien) Grundtatbestände, die sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person unter Strafe stellen ( sexueller Übergriff nach Art. 189 Abs. 1 E-StGB und Vergewaltigung nach Art. 190 Abs. 1 E-StGB), die "Achtung der Willensentscheidung einer Person in sexueller Hinsicht, das heisst die sexuelle Unversehrtheit (psychisch wie physisch) an sich" ( Bericht 2022, a.a.O., S. 30, ferner S. 22 Ziff. 3.4). Hier, bei der Achtung der Willensentscheidung als solcher (und nicht bei der Fähigkeit, sie umzusetzen), ortet die RK-S auch das in der Stealthing-Konstellation betroffene Schutzgut (Bericht 2022, a.a.O. S. 31).
Die Neuordnung der Kerntatbestände des Sexualstrafrechts macht deutlich, dass die bisherigen, dem Nötigungsprinzip folgenden Tatbestände der Art. 189 ff. StGB das nach heutigem Verständnis schützenswerte Rechtsgut nicht vollständig abdecken ( PRUIN , a.a.O., S. 147; vgl. unten E. 5.4). Die in E. 4.3 bejahte Frage, ob Stealthing eine eigenständige sexuelle Handlung im Sinn von Art. 191 StGB ist, war nach einer objektiv-zeitgemässen Auslegung auf der Grundlage eines aktuellen Verständnisses der massgebenden Rechtstatsachen (E. 4.2) zu beantworten; dies erscheint unter dem Aspekt des strafrechtlichen Legalitätsprinzips unproblematisch. Hingegen geht es bei der Prüfung, ob auch eine tatbestandsmässige Widerstandsunfähigkeit gegeben ist, nicht mehr bloss darum, das vom historischen Gesetzgeber formulierte Gesetz so auszulegen, dass es etablierten neueren Anschauungen gerecht wird. Um Stealthing als Schändung - inskünftig "Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person" (Bericht 2022, a.a.O., S. 43 Ziff. 3.7.1) - zu qualifizieren, wäre vielmehr der strafrechtliche Schutzumfang zu erweitern.
Nach dem geltenden, dem Nötigungsprinzip folgenden Recht begründet nicht jede nichtkonsensuale sexuelle Handlung, nicht einmal jeder beliebige Zwang, einen Schuldspruch (so etwa BGE 131 IV 167 E. 3.1). Im Kernbereich des Sexualstrafrechts setzt die Strafbarkeit jeweils einen qualifizierten Übergriff voraus (PRUIN, a.a.O., S. 146 ff.). Bei den sexuellen Nötigungsdelikten (Art. 189 f. StGB) besteht diese Qualifizierung im Einsatz von Gewalt oder anderen Zwangsmitteln, mittels derer ein Widerstand gebrochen wird (BGE 148 IV 234 E. 3.3; BGE 133 IV 49 E. 4; MAIER , Die Nötigungsdelikte im neuen Sexualstrafrecht, 1994, passim); der entgegenstehendeBGE 148 IV 329 (340) BGE 148 IV 329 (341)Wille allein ist nicht geschützt (PRUIN , a.a.O., S. 132). Bei anderen Delikten wird eine Notlage oder eine Abhängigkeit ausgenutzt (vgl. Art. 192 f. StGB). Bei der Schändung liegt der besondere Handlungsunwert im Missbrauch einer persönlich oder situativ bedingten Wehrlosigkeit des ( dadurch schutzbedürftigen) Opfers (EL-GHAZI , a.a.O., S. 679). Dieses wird vom Täter als willenloses Mittel zum Zweck der eigenen sexuellen Befriedigung instrumentalisiert (HERZOG , a.a.O., S. 356; SCHUMANN/SCHEFER , a.a.O., S. 815; VAVRA , a.a.O., S. 616; HÖRNLE , a.a.O., S. 861 ff.). K ennzeichnend - und für den Schutz durch Art. 191 StGB vorausgesetzt - ist e ine in der Person des Opfers liegende dauerhafte Eigenschaft ( kindliches Alter, geistige Behinderung etc.) oder eine vorübergehende körperliche oder kognitive Beeinträchtigung (durch Schlaf, Rausch etc. ), d.h. ein Schwächezustand, der das dergestalt verwundbare Opfer dem Täter ausliefert (vgl. Urteil 6S.850/1996 vom 20. Mai 1997 E. 2).
Somit stellt Art. 191 StGB den Missbrauch einer vorbestehenden Urteils- oder Widerstandsunfähigkeit unter Strafe ( BGE 133 IV 49 E. 4; QUELOZ/ILLÀNEZ , in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. II, 2017, N. 3 und 13 zu Art. 191 StGB). Das Unvermögen, frei über seine Beteiligung an einer konkreten sexuellen Handlung zu entscheiden und Zustimmung oder Ablehnung zu artikulieren, begründet dann eine Wehrlosigkeit im Sinn von Art. 191 StGB, wenn dieses Defizit auf eine unabhängig von den Umständen des Sexualkontakts bestehende Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Abwehr zurückzuführen ist. Hingegen ist dieser Tatbestand nicht erfüllt, wenn die fehlende Abwehr auf andere Hindernisse beim Finden oder Betätigen des Willens betreffend den Sexualkontakt zurückzuführen ist, d.h. wenn etwa ein Irrtum über die Natur der (sexuellen) Handlung vorliegt oder eine unvermittelt mit einem Übergriff konfrontierte Person allein aufgrund des Überraschungseffekts nicht rechtzeitig reagieren kann. Dabei handelt es sich um Fälle einer "einfachen", nicht im Sinn von Art. 191 StGB qualifizierten Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung.
5.3.1 Nimmt etwa ein Arzt oder Physiotherapeut - gegebenenfalls unter Vortäuschung fachlich begründeter Notwendigkeit (dazu Urteil 6B_33/2020 vom 24. Juni 2020 E. 2) - unerwartet eine sexuellBGE 148 IV 329 (341) BGE 148 IV 329 (342)motivierte Handlung an seiner Patientin vor, so wird deren Widerstandsunfähigkeit bejaht, weil die Betroffene den überraschenden Angriff auf ihre geschlechtliche Integrität im therapeutischen Kontext zunächst kaum einordnen resp. als solchen erkennen kann, gerade auch wenn sie das Geschehen lagebedingt (z.B. bäuchlings auf einer Massageliege) nicht überblickt (vgl. BGE 133 IV 49 E. 7; BGE 103 IV 165; Urteil e 6B_206/2009 vom 21. Juli 2009 E. 3.4; 6S.580/ 2001 vom 31. Oktober 2001 E. 2). Entscheidend ist das therapeutische Vertrauensverhältnis und das damit notwendig verbundene Ausgeliefertsein (vgl. MAIER , BK Strafrecht, a.a.O., N. 7 f. zu Art. 191 StGB; GÖHLICH , a.a.O., S. 526; HÖRNLE , a.a.O., S. 881). Duldet das Opfer die Handlung nur, weil es über die medizinische Indikation irrt, besteht hingegen keine Widerstandsunfähigkeit im Sinn von Art. 191 StGB (Urteil 6B_453/2007 vom 19. Februar 2008 E. 3.4.3). Ausserhalb eines therapeutischen Kontextes begründen überraschende sexuell motivierte körperliche Übergriffe allein keine Schändung (Urteil 6B_118/2012 vom 8. November 2012 E. 1.5). So wurde ein Täter, der zwei Frauen im Schwimmbecken eines Freizeitbades unvermittelt im Intimbereich angefasst hatte, nicht nach Art. 191 StGB, sondern nach Art. 198 Abs. 2 StGB (tätliche sexuelle Belästigung) bestraft, obwohl die geschlechtliche Integrität der Opfer massiv verletzt war (Urteil 6B_630/2014 vom 20. Januar 2015 E. 4; vgl. Bericht 2022, a.a.O., S. 32 f.). Eine Schändung bejaht hat das Bundesgericht hingegen in einem Fall, in dem die Frau nach sexuellen Handlungen, die im Rahmen ihrer Beziehung mit dem Täter üblich waren, überraschend eine unerwünschte anale Penetration über sich ergehen lassen musste (Urteil 6B_445/2015 vom 29. Januar 2016 E. 1.5 und 3). Der Täter wusste, dass seine Partnerin diese Praktik ablehnte, und, hätte sie Gelegenheit gehabt, sich dagegen gewehrt hätte. Er hat den Widerstand, wie er den Umständen nach zu erwarten war, durch unvermitteltes, gewaltsames Vorgehen ausgeschaltet, namentlich indem er seine Partnerin durch sein Gewicht körperlich fixierte. Dieser Faktor unterscheidet den betreffenden Fall entscheidend von anderen überraschenden Übergriffen, die regelmässig keine Widerstandsunfähigkeit im Sinn des Schändungstatbestands begründen (kritisch: SCHEIDEGGER , Sexualstrafrecht, a.a.O., Rz. 473 f.).
5.4.1 Der Vorentwurf (VE StGB) vom 28. Januar 2021 behielt das bisherige Konzept der Art. 189 ff. StGB prinzipiell bei. Die Art. 189 und 190 VE-StGB waren weiterhin als Nötigungsdelikte ausgestaltet, so wie Art. 191 VE-StGB nach wie vor den Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person erfasste und Art. 193 VE-StGB das Ausnützen einer Notlage oder Abhängigkeit. Diese jeweils durch ein qualifizierendes Element gekennzeichneten Tatbestände sollten mit dem Grundtatbestand des "sexuellen Übergriffs" ( Art. 187a VE-StGB) ergänzt werden. Diese Bestimmung sah vor, sexuelle Handlungen, die gegen den Willen einer Person ( erste Tatvariante) oder überraschend ( zweite Tatvariante) erfolgen, mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe zu belegen ( Art. 187a Abs. 1 VE-StGB); ebenso sexuelle Handlungen bei der Ausübung einer Tätigkeit im Gesundheitsbereich, wenn damit ein Irrtum über den Charakter der Handlung ausgenützt wird ( Abs. 2). Art. 187a VE-StGB war auf Fälle zugeschnitten, die einerseits nicht im Sinn der Tatbestände nach Art. 189 ff. StGB qualifiziert sind, anderseits aber nicht als wenig erheblich erscheinen und deswegen auch nicht bloss als Übertretung nach Art. 198 StGB behandelt werden sollen ( Bericht RK-S vom 28. Januar 2021, S. 18 f. Ziff. 3.4.1 und S. 22 f. Ziff. 3.4.4.2; vgl. auch Bericht 2022, a.a.O., S. 11, 24 und 31; PRUIN , a.a.O., S. 137, dort auch rechtsvergleichende Ausführungen zu § 177 Abs. 1 des deutschen StGB [2016]; zur Strafbarkeit sexueller Übergriffe gegen den Willen des Opfers, insbesondere auch in Form von Stealthing , in anderen europäischen Ländern: Gutachten des Schweizerischen Instituts für Rechtsvergleichung vom 31. Mai 2020 über die rechtliche Einordnung sexueller Übergriffe ohne Einverständnis in Belgien, Deutschland, England & Wales, Österreich, Schweden; www.bj.admin.ch>Publikationen & Service> Berichte, Gutachten und Verfügungen>Berichte und Gutachten). Stealthing wäre allenfalls unter die erste Tatvariante von Art. 187a Abs. 1 VE-StGB gefallen, sofern das Merkmal "gegen den Willen" kein zum Tatzeitpunkt aktuelles, akutes Bewusstsein hinsichtlich des Übergriffs verlangt, sondern eine zuvor geäusserte und nicht widerrufene Ablehnung genügen lässt.
Während die Vorlage der RK-S in den Grundtatbeständen jeweils eine Handlung "gegen den Willen einer Person" voraussetzt ( Ablehnungslösung, "Nein heisst Nein"), soll nach der Kommissionsminderheit schon das Fehlen einer Einwilligung genügen (Zustimmungslösung, "Nur Ja heisst Ja"; Bericht 2022, a.a.O., S. 27 ff.; dazu PRUIN , a.a.O., S. 131 f., 146 und 153 ff.; SCHEIDEGGER , Revision, a.a.O., S. 198 ff.). Eine Missachtung des Willens kan n n ach Auffassung der RK-S auch dann vorliegen, wenn das Opfer umständebedingt keine Gelegenheit hat, seinen entgegenstehenden Willen rechtzeitig zu äussern, so bei überraschenden Handlungen und beim Stealthing (Bericht 2022, a.a.O., S. 13 und 32 ff.). Unter dem Konzept der Ablehnungslösung muss also nicht unmittelbar auf den Übergriff reagiert werden; die Ablehnung kann aus einer vorgängigen Willensbekundung oder aus den Umständen abzuleiten und auch dann gegeben sein, wenn das ( überraschte) Opfer keine Zeit hat, sich entsprechend zu äussern ( vgl. HÖRNLE , a.a.O., S. 871), oder wenn es - wie beim Stealthing - zum Zeitpunkt des Übergriffs die tatbestandsmässige Situation nicht erkennt.
Die vorbereitende Kommission geht zunächst davon aus, Stealthing falle unter den Grundtatbestand der Vergewaltigung ( gegen den Willen einer Person vollzogener "Beischlaf oder [...] beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist"; Bericht 2022, a.a.O., S. 13 oben). Infrage kommt indessen auch ein sexueller Übergriff (vgl. Bericht 2022, a.a.O., S. 13 Ziff. 2.1).BGE 148 IV 329 (344) BGE 148 IV 329 (345)Die Normkonkurrenz zwischen den Artikeln 189 Abs. 1 und Art. 190 Abs. 1 E-StGB ist anhand der Frage aufzulösen, ob der entgegenstehende Wille auch auf die Penetration als solche zu beziehen ist, obwohl diese nach Entfernung des Kondoms einvernehmlich bleibt. In E. 4.3 wurde festgehalten, dass Stealthing eine eigenständige Handlung im Sinn von Art. 191 StGB darstellt. Damit ist indessen noch nichts darüber gesagt, ob die Handlung gegen den Willen - wegen der grundsätzlichen Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs - auf die abredewidrige Art des ohne Kondom fortgesetzten Verkehrs beschränkt ist (dann wäre der Tatbestand des sexuellen Übergriffs einschlägig) oder ob die tatbestandsmässige Handlung die Penetration einschliesst (womit auf eine Vergewaltigung im Grundtatbestand zu erkennen wäre).
Der Umstand, dass der Beschwerdegegner das Kondom während des Geschlechtsverkehrs abredewidrig entfernt und den Verkehr ohneBGE 148 IV 329 (345) BGE 148 IV 329 (346)das Wissen der Privatklägerin ungeschützt fortgesetzt haben soll, begründet mithin keine Widerstandsunfähigkeit im Sinn von Art. 191 StGB. Der vorinstanzliche Freispruch erweist sich im Ergebnis als rechtens.BGE 148 IV 329 (346)