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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 2.3
Bearbeitung, zuletzt am 25.02.2023, durch: DFR-Server (automatisch)
 
44. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis, Zentrales Amt (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_1188/2021 vom 14. September 2022
 
 
Regeste
 
Art. 337 Abs. 3 und Art. 405 Abs. 3 StPO; persönliches Erscheinen der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 148 IV 456 (457)A. A. wird zusammengefasst vorgeworfen, am 20. September 2020, um 16:39 Uhr, auf der Kantonsstrasse T9 von Susten in Richtung Visp, auf dem Gebiet der Gemeinde Raron, am Ort genannt "Goler", den Personenwagen B. mit dem Kontrollschild x mit 143 km/h (nach Abzug der Messtoleranz) gelenkt zu haben. Dabei habe er die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ausserorts um 63 km/h überschritten.
B. Das Bezirksgericht von Leuk und Westlich Raron verurteilte A. am 10. Februar 2021 wegen qualifizierter grober Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. c SVG zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 12 Monaten, unter Auferlegung einer Probezeit von 2 Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 1'350.-, bzw. zu 30 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung.BGE 148 IV 456 (457)
BGE 148 IV 456 (458)C. Auf Berufung von A. hin bestätigte das Kantonsgericht des Kantons Wallis am 7. September 2021 den bezirksgerichtlichen Entscheid sowohl hinsichtlich des Schuldpunktes als auch des ausgefällten Strafmasses. Die gegen das erstinstanzliche Urteil von Rechtsanwältin Chanlika Saxer erhobene Kostenbeschwerde wurde vom Kantonsgericht teilweise gutgeheissen.
D. A. führt Beschwerde in Strafsachen und ersucht zugleich um deren aufschiebende Wirkung. Er beantragt, das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Wallis vom 7. September 2021 sei aufzuheben und er sei freizusprechen, eventualiter sei er der schweren Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG schuldig zu sprechen. Subeventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an das Kantonsgericht respektive an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen. Es sei zudem festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft verpflichtet gewesen wäre, an der Berufungsverhandlung persönlich teilzunehmen und dass die polizeiliche Einvernahme vom 20. September 2020, welche ohne Beizug eines Verteidigers stattgefunden habe, unverwertbar sei; das entsprechende Einvernahmeprotokoll sei aus den Akten zu entfernen und zu vernichten. A. ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sowie um Einsetzung von Rechtsanwältin Chanlika Saxer als amtliche Verteidigerin für das bundesgerichtliche Verfahren.
E. Mit Verfügung vom 28. Oktober 2021 wies das Bundesgericht das Gesuch um aufschiebende Wirkung ab.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten ist.
 
 
Erwägung 2
 
BGE 148 IV 456 (459)2.2 Unter Hinweis auf Art. 405 Abs. 3 StPO erwägt die Vorinstanz, dass die Staatsanwaltschaft vorliegend weder Berufung noch Anschlussberufung erklärt habe. Dementsprechend wäre sie nur im Fall von Art. 337 Abs. 3 StPO zur persönlichen Vertretung verpflichtet, wobei zu beachten sei, dass sie vorliegend die Bestätigung eines Urteils mit einer bedingten Freiheitsstrafe von genau einem Jahr beantragt habe. Gemäss Art. 391 Abs. 2 StPO sei es dem Berufungsgericht damit verwehrt, eine höhere Strafe auszusprechen.
Nach dem insoweit in allen drei Landessprachen übereinstimmenden Wortlaut von Art. 337 Abs. 3 StPO sei diese Bestimmung als Obergrenze ausgestaltet, bis zu der sich die Staatsanwaltschaft von einer Teilnahme an der Gerichtsverhandlung dispensieren lassen könne. Erst wenn eine Freiheitsstrafe "von mehr als", "de plus d'", "superiore a" einem Jahr beantragt werde, sei sie zur persönlichen Vertretung der Anklage verpflichtet. Gestützt auf diesen klaren Gesetzeswortlaut sei eine Dispensierung der Staatsanwaltschaft immer dann zugelassen worden, wenn in der Berufungsverhandlung eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr zur Debatte gestanden habe. Die Lehre, soweit sie sich zur Frage äussere, übernehme den Gesetzeswortlaut, ohne diesen näher zu kommentieren. Vereinzelt werde auch festgehalten, dass wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von einem Jahr beantrage, diese nur dann vorzuladen sei, wenn das Gericht eine höhere Strafe in Erwägung ziehe. Der Wortlaut der Bestimmung sei dermassen klar, dass sich weitere Ausführungen dazu erübrigen würden. Es sei der Staatsanwaltschaft somit gestattet gewesen, auf eine Teilnahme an der Berufungsverhandlung zu verzichten.
 
Erwägung 2.3
 
2.3.1 Art. 405 Abs. 3 StPO schreibt für das mündliche Berufungsverfahren vor, dass die Verfahrensleitung die Staatsanwaltschaft in den in Art. 337 Abs. 3 und 4 StPO vorgesehenen Fällen (lit. a) oder wenn die Staatsanwaltschaft die Berufung oder die Anschlussberufung erklärt hat (lit. b) zur mündlichen Berufungsverhandlung vorlädt. Gemäss Art. 337 Abs. 3 StPO hat die Staatsanwaltschaft die Anklage persönlich vor Gericht zu vertreten, wenn sie eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme beantragt. Entscheidend ist dabei grundsätzlich der im erstinstanzlichen Verfahren gestellte Antrag der Staatsanwaltschaft und nicht der erstinstanzliche Urteilsspruch. Drohen der beschuldigten Person im Berufungsverfahren jedoch weder eine Freiheitsstrafe vonBGE 148 IV 456 (459) BGE 148 IV 456 (460)mehr als einem Jahr noch eine freiheitsentziehende Massnahme, weil die Erstinstanz dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht gefolgt ist und nur die beschuldigte Person Berufung angemeldet hat, ist unter dem Aspekt des fairen Verfahrens nicht zu beanstanden, wenn die Staatsanwaltschaft von der Teilnahme an der Berufungsverhandlung dispensiert und damit auf die Durchführung eines kontradiktorischen Verfahrens verzichtet wird (vgl. LUZIUS EUGSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 405 StPO).
2.3.2 In der Lehre gibt der Gesetzeswortlaut von Art. 337 Abs. 3 StPO zu keiner einlässlichen Auseinandersetzung Anlass. Mithin beschränkt sich diese mehrheitlich darauf, den Gesetzeswortlaut von Art. 337 Abs. 3 StPO zu übernehmen (vgl. STEFAN CHRISTEN, Anwesenheitsrecht im schweizerischen Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, 2010, S. 76 und 276 f.; EICKER/HUBER/NURTEN, Grundriss des Strafprozessrechts, 2. Aufl. 2020, S. 115; FINGERHUTH/GUT, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 7 zu Art. 337 StPO; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP, Code de procédure pénale, 2. Aufl. 2016, N. 8 zu Art. 337 StPO; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rz. 1893; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse [CPP], 2012, N. 899 zu Art. 335 ff. StPO; PIQUEREZ/MACALUSO, Procédure pénale suisse, 3. Aufl. 2011, Rz. 1774; FRANZ RIKLIN, StPO, Kommentar, 2. Aufl. 2014, N. 1 zu Art. 337 StPO; RIEDO/FIOLKA/NIGGLI, Strafprozessrecht sowie Rechtshilfe in Strafsachen, 2011, Rz. 2466; ALEXANDRE SEILER, La procédure de première instance, in: Procédure pénale suisse, Jeanneret/Kuhn [Hrsg.], 2010, S. 279 ff., Rz. 10; SARAH WILDI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 16 zu Art. 337 StPO; PIERRE-HENRI WINZAP, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 1 f. zu Art. 337 StPO). Vereinzelt wird festgehalten, dass wenn die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von einem Jahr beantrage, diese nur dann vorzuladen sei, wenn das Gericht eine höhere Strafe in Erwägung ziehe (SCHNELL/STEFFEN, Schweizerisches Strafprozessrecht in der Praxis, 2019, S. 358).
Nach KAUFMANN kann die Staatsanwaltschaft, wenn sie im ordentlichen Verfahren eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder eine geringere Strafe beantrage, diesen Antrag entweder schriftlich stellenBGE 148 IV 456 (460) BGE 148 IV 456 (461)oder persönlich vor Gericht vertreten (Art. 337 Abs. 1 und 3 StPO e contrario). In diesem Rahmen stehe ihr ein Anwesenheitsrecht, aber keine Anwesenheitspflicht zu. Sie sei hingegen von Gesetzes wegen zum persönlichen Erscheinen verpflichtet, wenn sie eine "überjährige Freiheitsstrafe" beantrage (Art. 337 Abs. 3 StPO) (ARIANE KAUFMANN, Das Unmittelbarkeitsprinzip und die Folgen seiner Einschränkung in der Schweizerischen Strafprozessordnung, 2013, S. 244).
Zusammenfassend ist damit nicht zu beanstanden, dass vorliegend im Berufungsverfahren von einer persönlichen Teilnahme der Staatsanwaltschaft abgesehen und ihr die Möglichkeit eingeräumt wurde, schriftlich begründete Anträge zu stellen. Die formelle Rüge des Beschwerdeführers erweist sich als unbegründet. Auch aus seinem Verweis auf die Korrelation mit Art. 130 lit. b StPO (vgl. hierzu auch NIKLAUS RUCKSTUHL, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 16 zu Art. 130 StPO) bzw. auf das Urteil 6B_294/2016 vom 5. Mai 2017 kann der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten ableiten. Selbst wenn ein Fall notwendiger Verteidigung im Sinne von Art. 130 lit. b StPO vorliegen würde, ändert dies nichts daran, dass sich die Staatsanwaltschaft vorliegend von der Teilnahme an der Berufungsverhandlung dispensieren lassen konnte, da im zweitinstanzlichen VerfahrenBGE 148 IV 456 (461) BGE 148 IV 456 (462)nachweislich keine Strafe von über einem Jahr drohte (vgl. hierzu wiederum LUZIUS EUGSTER, a.a.O., N. 3 zu Art. 405 StPO).BGE 148 IV 456 (462)